Einsatz aller Mittel
Zerstörung von Schiffen und Hafenanlagen: EU will mit Militärmission Flüchtlingsproblem im Mittelmeer erledigen. Russland verweigert "Freibrief" im UN-Sicherheitsrat
Von Knut Mellenthin *
Der EU-Rat hat am 18. Mai beschlossen, eine neue Militäroperation in Gang zu bringen oder wie es wörtlich in der Presseerklärung heißt: »to establish an EU military operation«. Das Unternehmen, das sich vorläufig noch im Stadium der sogenannten operativen Planung befindet, hat schon einen Namen: EUNAVFOR Med. Die Abkürzung bedeutet: »European Union Naval Force«. Die drei Buchstaben »Med« verweisen auf das Mittelmeer. Durch sie unterscheidet sich die neue Mission von der schon bestehenden EUNAVFOR Atalanta, die 2008 geschaffen wurde, um rund um Nordostafrika gegen Piraten vorzugehen.
Definierter Zweck der geplanten Militäroperation ist, »to break the business model of smugglers and traffickers of people in the Mediterranean« – das Geschäftsmodell der Menschenschmuggler und -händler im Mittelmeer zu zerschlagen. Gemeint ist damit vorerst nur die Hauptroute, auf der Flüchtlinge aus Innerafrika, aber auch aus dem Nahen Osten und sogar aus Somalia und Eritrea über das Mittelmeer nach Europa gebracht werden. Sie führt von Libyen nach Italien. Über 170.000 Menschen sollen, nach offiziellen EU-Angaben, im vorigen Jahr auf diesem Weg in dem südeuropäischen Mitgliedsland angekommen sein. Mindestens 1.700 Menschen ertranken dabei in den ersten fünf Monaten dieses Jahres. Zehntausende mussten aus Seenot gerettet werden, zumeist durch zufällig in der Nähe vorbeifahrende Handelsschiffe. In einer kleineren Zahl von Fällen auch durch EU-Kriegs- und Polizeischiffe, insbesondere der italienischen Küstenwache.
EUNAVFOR Med soll in vier aufeinander folgenden »Phasen« durchgeführt werden. Allerdings fehlt der EU schon für die zweite Etappe eine ihrer eigenen Ansicht nach ausreichende legale Basis. Die EU-Politiker gehen davon aus, dass sie die erforderliche Rechtsgrundlage – entweder eine Resolution des UN-Sicherheitsrats oder eine libysche »Einladung« – leichter erhalten werden, wenn sie jetzt schon durch die offizielle Einrichtung von EUNAVFOR Med mit der Schaffung von Tatsachen beginnen.
Die vier Phasen sollen im einzelnen so aussehen:
Erstens: Stationierung von Kriegsschiffen in den internationalen Gewässern des geplanten Einsatzgebiets und Gewinnung von Erkenntnissen für die folgenden Phasen. Dafür sollen insbesondere Satelliten und unbewaffnete Aufklärungsdrohnen, aber wahrscheinlich auch mit Elektronik vollgestopfte Aufklärungsschiffe genutzt werden. Unterstellt wird dabei, was wohl nur bedingt realistisch ist, dass die EU bisher keine ausreichenden Erkenntnisse über die Strukturen des Flüchtlingsschmuggels von Libyen nach Italien habe.
Zweitens: Kaperung von Flüchtlingsschiffen und -booten auf hoher See. Die bisherige Planung der EU räumt ein, dass es dabei unbeabsichtigt zu Toten und Verletzten unter den Flüchtlingen kommen könnte. Da dies dem Ansehen der Union schaden könnte, orientieren die Planer auf eine propagandistische Begleitung der Aktionen, die die Öffentlichkeit schon jetzt auf solche Ereignisse vorbereitet.
Drittens: Unterbrechung der Fluchtwege in unmittelbarer Nähe zur libyschen Küste, also in libyschen Territorialgewässern, und Zerstörung der für den Flüchtlingstransport über See benötigten Strukturen vor der Küste und auf dem Festland. Ausdrücklich genannt werden in diesem Zusammenhang: Schiffe und Boote, Treibstofflager und »Einschiffungsanlagen«, wobei es sich neben improvisierten Startpunkten am Strand auch um Häfen handelt.
Viertens: Übertragung der Aufgaben von EUNAVFOR Med an die libyschen Behörden, insbesondere an eine erst noch zu schaffende, auszurüstende, auszubildende und wahrscheinlich auch von der EU zu finanzierende einheimische Küstenwache.
Die für die Koordinierung der Operationsplanung zuständige Außenpolitikchefin der EU, Federica Mogherini, versprach vor wenigen Wochen, dass es während der militärischen Aktionen keine »boots on the ground«, also keinen Einsatz von Spezialeinheiten und Truppen an Land geben werde. In Wirklichkeit wird in den Planungsunterlagen, die von den EU-Regierungen offiziell immer noch geheim gehalten werden, obwohl sie schon längst im Internet allgemein zugänglich sind, eine solche Einschränkung nicht vorgenommen.
Aus den bekannt gewordenen Dokumenten geht hervor, dass die Planer in der dritten Phase mit erheblichen Risiken für das eingesetzte EU-Personal rechnen. Sie erwähnen in diesem Zusammenhang die bei verschiedenen libyschen Kräften vorhandenen schweren Waffen, einschließlich der Artillerie zur Küstenverteidigung, der Luftabwehr und der Ausrüstung autonom agierender Milizen, von denen einige direkt an der Organisierung des Flüchtlingsschmuggels über das Meer beteiligt sind. Hinzu komme »die terroristische Präsenz in der Region«, womit vermutlich in erster Linie der »Islamische Staat« gemeint ist, der die Küstenstadt Sirte und deren Umgebung beherrscht. Manche der beabsichtigten Militäraktionen auf dem libyschen Festland könnten, so die Planer, »in einem feindlichen Umfeld« stattfinden. Sie halten es deshalb für erforderlich, eine »robuste Force Protection« bereitzustellen. Gemeint sind Militärkräfte, denen die Aufgabe zukäme, notfalls die an Land operierenden Einsatzgruppen abzuschirmen und zu unterstützen. Über Art und Umfang der »Force Protection« enthalten die bisher bekannt gewordenen Papiere keine konkreten Angaben.
Einigkeit scheint in der EU zu bestehen, dass schon Teile der zweiten Phase ein Mandat des UN-Sicherheitsrat voraussetzen würden. Auf jeden Fall würde für die dritte Phase, nach übereinstimmenden Aussagen von EU-Politikern und Planern, entweder ein UN-Mandat oder eine libysche »Einladung« benötigt. Weder für das eine noch für das andere besteht bis jetzt eine realistische Chance. Die international anerkannte libysche Regierung hat sogar als Reaktion auf den EU-Beschluss vom 18. Mai ausdrücklich erklärt, dass sie ausländische Militäraktionen in ihren Hoheitswässern oder gar an der Küste Libyens ablehnt. Im UN-Sicherheitsrat weigert sich zumindest Russland, dem Westen nach den katastrophalen Erfahrungen der Militärintervention zur Zerstörung des libyschen Staates im Jahre 2011 erneut einen Freibrief für den »Einsatz aller Mittel« zu geben.
Die Bundesregierung will im gegenwärtigen Stadium eine öffentliche Debatte um EUNAVFOR Med vermeiden. Obwohl die im Mai eingerichtete Militäroperation einen vollständigen Handlungsplan darstellt, will Berlin den Bundestag erst vor Beginn der zweiten Phase über das Thema debattieren lassen.
* Aus: junge Welt, Mittwoch, 03. Juni 2015
Mit wem will die EU in Libyen kooperieren?
Von Knut Mellenthin **
Nachdem der libysche Staatsapparat vor vier Jahren durch eine EU-geführte, von den USA und einigen arabischen Staaten unterstützte Militärintervention vollständig zerschlagen wurde, hat das Land heute zwei konkurrierende, sich auch mit militärischen Mitteln bekämpfende Regierungen. Die eine wird zwar von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt, kontrolliert aber nur kleine Teile des Landes. Nachdem sie im vorigen Jahr aus der Hauptstadt Tripolis vertrieben wurde, residiert sie jetzt im äußersten Osten. Die Gegenregierung in Tripolis wird von relativ gemäßigten Islamisten dominiert. Beide Landesführungen werden durch einige der zahlreichen libyschen Stämme und regionalen Milizen unterstützt. Manche Landesteile werden von Milizen beherrscht, die im Grunde mit keiner der beiden Regierungen dauerhaft loyal sind. Als weiterer Faktor kommt der »Islamische Staat« (IS) hinzu, der die Küstenstadt Sirte und deren Umgebung beherrscht.
Für ihre geplanten Militäraktionen in den Hoheitsgewässern und auf dem Festland Libyens strebt die EU, so steht es jedenfalls auf dem Papier, »im optimalen Fall« Übereinstimmung und Zusammenarbeit mit den tatsächlichen Machthabern im jeweiligen Einsatzgebiet an. Man kann annehmen, dass der IS davon ausgenommen ist. Die für den Transport von Flüchtlingen über See benötigten Strukturen, deren Zerstörung die EU plant, befinden sich zum großen Teil nicht im Herrschaftsbereich der international anerkannten Regierung. Selbst diese lehnt bisher ausländische Militäraktionen auf libyschem Territorium ab. Von der Gegenregierung in Tripolis und von den regionalen Milizen kann die EU vermutlich noch weniger Kooperationsbereitschaft erwarten. Aus den Planungsdokumenten für EUNAFVOR Med geht hervor, dass die EU-Gremien notfalls auch bereit wären, ihre Absichten gegen den Willen aller libyschen Machtvertreter, ausschließlich gestützt auf ein »robustes« Mandat des UN-Sicherheitsrats, durchzusetzen.
Käme es zur zweiten westlichen Militärintervention innerhalb von fünf Jahren, würde das voraussehbar den radikalsten Kräften in Libyen, vor allem den »Islamischen Staat«, Auftrieb geben.Vermutlich noch weitaus schlimmer würden sich die Folgen von EUNAFVOR Med auswirken, falls die Operation ihr angestrebtes Ziel, die möglichst vollständige Unterbindung der Fluchtwege von Libyen nach Europa, erreichen würde. Die italienischen Behörden schätzen die Zahl der Flüchtlinge aus vielen Ländern Innerafrikas, Nordostafrikas und des Nahen Osten, die gegenwärtig in Libyen auf eine Möglichkeit zur Überfahrt warten, auf etwa 200.000. Sachkundige Beobachter meinen, dass es sehr viel mehr seien, vielleicht sogar bis zu einer Million. Schneidet man diesen Menschen die bisherigen Fluchtwege ab, würde Libyen noch mehr als bisher destabilisiert. Repression und Gewaltakte gegen Flüchtlinge wurden wahrscheinlich enorm zunehmen, bei gleichzeitiger Erhöhung des Flüchtlingsdrucks auf die Nachbarländer Tunesien und Ägypten. Die EU steht unmittelbar vor ihrem nächsten katastrophalen Fehler.
Wo leben die meisten Flüchtlinge?
Deutschland sei »nicht das Sozialamt der Welt« und könne »nicht alle Flüchtlinge der ganzen Welt aufnehmen«. Ebenso arrogante wie ahnungslose Sprüche dieser Art sind leider nicht auf die aus der Mode kommenden Narrenzüge der Dresdner Pegida und ihrer Nachahmer beschränkt. Man hört sie von Politikern, die es zum populistischen Appell an niedrige Instinkte treibt, und man liest sie seit vielen Jahren in großen Teilen der deutschen Presse, vor allem aber in Bild.
In Wirklichkeit leben nicht einmal zwei Prozent aller Flüchtlinge der Welt in Deutschland. Mit 587.700 Aufgenommenen – Stand Anfang 2013 – lag Deutschland zwar weltweit auf dem dritten Platz hinter Pakistan mit 1,6 Millionen und Iran mit 868.200 Flüchtlingen. Es hat aber nicht wesentlich mehr Menschen in Not aufgenommen als Kenia, dessen eigene Bevölkerung zu großen Teilen am Rande der Armut lebt. In den letzten zwei Jahren ist die Zahl der neu ankommenden Asylsuchenden, besonders aufgrund des vom Westen angeheizten Bürgerkriegs in Syrien, stark gestiegen, aber das gilt keineswegs ausschließlich für Deutschland, sondern weit mehr für Syriens Nachbarländer.
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, schätzte die Gesamtzahl der Flüchtlinge und Vertriebenen vor zwei Jahren auf weltweit mindestens 45,2 Millionen Menschen – drei Millionen mehr als ein Jahr zuvor. Den größten Anteil an dieser Zahl, 28,8 Millionen, machten Menschen aus, die zwar nicht mehr in ihrer heimatlichen Umgebung, aber immer noch innerhalb ihres Landes lebten. Hinzu kamen 15,4 Millionen Menschen, die ins Ausland geflüchtet waren. 937.000 Menschen wurden gesondert als »Asylsuchende« ausgewiesen. 55 Prozent aller Flüchtlinge stammten aus nur fünf Herkunftsländern: Afghanistan, Somalia, Irak, Syrien und den Sudan.
81 Prozent aller Flüchtlinge leben der UNHCR-Statistik zufolge in sogenannten Entwicklungsländern, die am wenigsten geeignet sind, mit den Belastungen fertig zu werden. Zehn Jahre zuvor waren es »nur« 70 Prozent gewesen. (km)
* Aus: junge Welt, Mittwoch, 03. Juni 2015
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