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Kretschmann brüskiert Grüne

Im Bundesrat blieb es beim Thema Asyl beim Fäusteballen

Von Marian Krüger *

Mit seiner Zustimmung zur Verschärfung des Asylrechts hat am Freitag Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Phalanx der Grünen im Bundesrat aufgebrochen.

Die Bundesregierung hat im Bundesrat am Freitag einen von den Grünen gegen die Asylrechtsänderung unternommen Blockadeversuch erfolgreich abgewehrt. Baden-Württemberg wechselte in der entscheidenden Abstimmung die Seiten und brachte die Ablehnungsfront von rot-grün und rot-rot regierten Ländern zu Fall. Im Bundestag hatten Grüne und Linke das Gesetz abgelehnt.

Der Bundesrat segnete damit einen politischen Tauschhandel ab – Flüchtlinge aus Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina können im Prinzip kein Asylrecht mehr beanspruchen, weil ihre Länder nun als sichere Herkunftsstaaten gelten. Im Gegenzug sollen einige Erschwernisse im Ausländerrecht abgeschafft werden.

Das betrifft die Lockerung der Residenzpflicht, die die Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge einschränkt. Wer sich allerdings vorstellt, dass sich die Flüchtlinge nun frei im Bundesgebiet bewegen können, wird von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge Pro Asyl eines besseren belehrt. »Mehr als eine Entkriminalisierung von Verwandtenbesuchen ist dies kaum.« Ein »Wohnsitzwechsel zum Ort des Arbeitsplatzes oder der Bildungseinrichtung ist weiterhin kaum möglich«, meinen die Asylexperten nach Durchsicht des Kompromisses. Auch bei der Lockerung des Arbeitsverbotes geht es um eher Kleinteiliges. So soll die sogenannte Vorrangprüfung gelockert werden. Sie schreibt vor, dass Asylbewerber erst dann eingestellt werden dürfen, wenn Deutsche oder EU-Staatsbürger nicht zu Verfügung stehen. Die Aufhebung des Sachleistungsprinzips im Asylbewerberleistungsgesetz schätzt Pro Asyl dagegen als Fortschritt ein.

Winfried Kretschmann (Grüne) ist nicht der erste Landesfürst, der sich den Seitenwechsel politisch honorieren lässt. Wenn die Partei- und Fraktionsspitze der Grünen am Freitag mit Kretschmann wegen seines Alleingangs zumindest verbal ins Gericht ging, muss man sich allerdings die Frage stellen, was die Grünen bei den Verhandlungen überhaupt erreichen wollten. Wer die drei Balkanstaaten für Minderheiten nicht für sicher hält, und daran haben die meisten Grünen nie einen Zweifel gelassen, der muss zu einem Gesetz, das das genaue Gegenteil festschreibt, Nein sagen.

In diesem Fall wäre der Bund zu einem Vermittlungsverfahren gezwungen gewesen. Stattdessen hat sich, bevor es dazu kam, die grüne Formation im Bundesrat aufgelöst. Diese vergleichsweise leichte Überwindung des grünen Widerstands in der Länderkammer dürfte im Kanzleramt genau registriert worden sein. Noch vor wenigen Tagen hatten die Grünen angekündigt, den Bundesrat zur effektiven Bekämpfung der Großen Koalition nutzen zu wollen. Auch die unbeliebte Maut und sogar das noch weniger geliebte Freihandelsabkommen TTIP sollten dort am Widerstand der Grünen zerschellen. Kretschmanns Deal hat diese vollmundige Ankündigungspolitik fürs erste gründlich blamiert.

* Aus: neues deutschland, Samstag 20. September 2014


So viel Gift

Uwe Kalbe über den Asylkompromiss der Grünen **

Am Freitag wurden im Bundesrat ein paar Extrarationen Gift gereicht: Ein vergiftetes Lob an die drei Balkanstaaten Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien. Sie werden mit der Klassifizierung als »sichere Herkunftsstaaten« geadelt, um ihnen missliebige Flüchtlinge zurückschicken zu können, die von beiden Seiten als überflüssiger Ballast betrachtet werden.

Hinzu kommt ein vergiftetes Geschenk an die Flüchtlinge in Deutschland. Sie sollen sich nun freuen – über Erleichterungen bei der Arbeitsaufnahme, weitere Liberalisierung der Residenzpflicht und die Abschaffung der Sachleistungen, die von (wenig) Geld zum Einkaufen ersetzt werden. Doch ist der Vorteil der einen zum Nachteil der anderen ein Brei, dessen Zutaten unverdaulich sind. »Bevorzugte« Flüchtlinge sind selbst immer wieder misstrauisch beäugte Konkurrenz einheimischer Deutscher.

Seiner Partei reicht Winfried Kretschmann einen Schierlingsbecher extra. Er schädigt die Glaubwürdigkeit der Grünen schwer. Denn das Prinzip sicherer Herkunftsstaaten ist gemeinsam mit dem sicherer Drittstaaten die ätzende Essenz, mit der das Grundrecht auf Asyl 1992 praktisch aus dem Grundgesetz gespült wurde. Damals gegen den Widerstand der Grünen. Kretsch- mann legitimiert damit auch die Praxis, für niedrige Asyl-Anerkennungsquoten zu sorgen, um die Einstufung von Herkunftsländern als »sicher« zu begründen.

Kretschmann mag nun auf die heilende Wirkung der Zeit hoffen. Und auf die Regel: Im Bundesrat gehen Cocktails aufs Haus.

** Aus: neues deutschland, Samstag 20. September 2014 (Kommentar)


Balkan für sicher erklärt

Bundesrat beschließt Asylrechtsänderung. Grünen geführte Regierung Baden-Württembergs stimmt Verschärfungen zu. Etwas Kritik von Spitzenpolitikern der Partei

Von Jana Frielinghaus ***


Was bereits im Juli im Bundestag beschlossen worden war, winkte am Freitag im Bundesrat durch – dank der von Winfried Kretschmann (Grüne) geführten baden-württembergischen Landesregierung. Mit dem beschlossenen Gesetz wurden Serbien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt. Hätte der Südwesten dagegen gestimmt oder sich enthalten, wäre die erforderliche Mehrheit nicht zustande gekommen. Kretschmann begründete die Entscheidung des Stuttgarter Kabinetts damit, daß sich die Bundesregierung zu substantiellen Verbesserungen für Flüchtlinge bereit erklärt habe.

Schon jetzt werden mehr als 99 Prozent der Asylanträge von Personen aus diesen Ländern abgelehnt. Mit der Neuregelung sollen ihre Anträge noch schneller bearbeitet, der Aufenthalt verkürzt und so Kosten gespart werden. Zudem will man so mehr Kapazitäten für Flüchtlinge aus anderen Regionen schaffen. CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt: »Wer lebend aus Aleppo herausgekommen ist, braucht unsere Hilfe dringender als Wirtschaftsflüchtlinge vom Balkan.«

Ein Ergebnis der Verhandlungen mit den Grünen ist es laut Kretschmann, daß sich Asylbewerber und geduldete Ausländer ab dem vierten Monat in Deutschland nicht mehr nur an einem bestimmten Ort aufhalten müssen, wie es die Residenzpflicht bislang vorschreibt. Bereits in der Regierungsvorlage war vorgesehen, ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern, indem das Beschäftigungsverbot von neun auf drei Monate verkürzt wird. Außerdem sollen ihnen nicht mehr vorrangig Sachleistungen wie Lebensmittel zur Verfügung gestellt werden, sondern hauptsächlich Geld.

Die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, sagte, sie halte die Entscheidung des Bundesrates für falsch. Sie respektiere aber, daß Kretschmann hier zu einer anderen Abwägung gekommen sei. Der Grünen-Innenexperte Volker Beck nannte es unverständlich, wie einem Staat das Prädikat »sicheres Herkunftsland« ausgestellt werden könne, wenn dort Roma massiven Diskriminierungen und Gewalt ausgesetzt seien. Der Grünen-Parteirat allerdings hatte am Donnerstag das neue Asylrecht zwar abgelehnt, abweichende Ländervoten aber ausdrücklich »respektiert«.

Torsten Albig (SPD), der in Schleswig-Holstein die Koalition von Sozialdemokraten und Grünen anführt, sagte, er finde es »zynisch, Armutszuwanderer und Kriegsflüchtlinge gegeneinander auszuspielen«. Das Boot sei in Deutschland »noch lange nicht voll«. Flüchtlingshilfsorganisationen sowie die Linkspartei verurteilten den Beschluß zu den Balkanländern. Vor dem Bundesratsgebäude demonstrierten mehrere hundert Personen gegen die neue Regel für die Westbalkanländer.

Die Voraussetzung dafür, daß per Gesetz Länder zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden dürfen, wurde durch eine 1993 in Kraft getretene Verfassungsänderung geschaffen, nach der das Grundrecht auf Asyl für den größten Teil der in der Bundesrepublik ankommenden Flüchtlinge nicht mehr gilt. Der Änderung stimmte auch die damalige Oppositionspartei SPD zu. Damals waren die Flüchtlingszahlen wesentlich höher als gegenwärtig. So hatten allein 1992 rund 438000 Menschen einen Antrag auf Asyl gestellt. 2013 waren es 127000, bis Ende August dieses Jahres gingen knapp 100000 Anträge beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein.

*** Aus: junge Welt, Samstag 20. September 2014


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