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Verschleppt und gefoltert

er Menschenhandel auf dem Sinai ist ein brutales, aber lukratives Geschäft. Ägypten und Israel schauen weg

Von Annette Groth und Sofian Naceur *

Ägyptens Halbinsel Sinai, bekannt für Tourismushochburgen wie Sharm El-Sheikh und Traumstrände soweit das Auge reicht, gilt schon lange als rechtsfreier Raum. Nach dem Sturz des autoritären Herrschers Hosni Mubarak im Februar 2011 und der Machtübernahme durch eine von der Muslimbruderschaft dominierte Regierung unter Muhammad Mursi im Juni 2012 schien die Armee zunächst entschlossen, den Sinai wieder der Zentralregierung zu unterstellen. Erklärtes Ziel der neuen Regierung ist es, das Land zu stabilisieren. Stolz wurde verkündet, daß Ägypten 2012 über zwölf Millionen Touristen angelockt habe, die für viele Menschen lebenswichtige Branche sei nach dem revolutionsbedingten Einbruch auf dem Weg der Genesung. Der Kulturtourismus in Kairo und Luxor habe es schwer, aber die Hotels am Roten Meer und im Sinai seien gut gefüllt. Viele wünschen sich stabile Verhältnisse, damit die Touristen wiederkommen. Aber Ägypten kommt nicht aus den Schlagzeilen: Proteste der Opposition, Streiks und der Machtzuwachs der Muslimbrüder dominieren das Bild. Europa und die USA geben der neuen wie der alten Regierung diplomatische Rückendeckung und rüsten Ägypten militärisch auf. Währenddessen spielen sich abseits des medialen Spektakels im Hinterland des Sinai unvorstellbare Greueltaten ab.

Im bergigen Zentralsinai und insbesondere im Norden der Provinz hat der ägyptische Staat nicht viel zu sagen. Die organisierte Kriminalität in Form von Drogenschmuggel, Waffenschieberei und Menschenhandel floriert. Insbesondere der Menschenhandel, überwiegend mit Flüchtlingen aus Eritrea und Sudan, hat sich zum lukrativen Geschäft für kriminelle Banden entwickelt, unter dem auch die lokale Bevölkerung leidet.

Ägypten ist seit Jahren ein wichtiges Transit- und Zielland für Flüchtlinge aus Ostafrika, als primäre Fluchtroute galt aber bis 2007 der Weg über Libyen. Die Europäische Union verstärkte ab diesem Zeitpunkt ihren Kampf gegen die »illegale Migration« durch die Einbindung von Staaten wie Libyen und setzt seitdem in der Migrations- und Asylpolitik auf einen immer repressiveren Kurs. Infolge der Kooperationsabkommen zwischen Italien und Libyen 2007 und 2008 begannen Flüchtlinge und Schlepper, in den Sinai auszuweichen. Zwar setzte Italien diese Abkommen 2011 aufgrund des Krieges in Libyen außer Kraft, doch schon im April 2012 schlossen Rom und Tripolis einen neuen Vertrag zur Kooperation im Kampf gegen die »illegale Migration«.

Inzwischen zahlen Flüchtlinge aus Eritrea und Sudan bis zu 3000 US-Dollar für den Transport in den Sinai. Doch anstatt die Menschen an die israelische Grenze zu bringen, entführen viele Schlepper sie, halten sie monatelang fest und foltern sie, um Lösegelder zwischen 5000 und 50000 Dollar zu erpressen.

Schmerzensschreie am Telefon

»Alles was ich möchte, ist so schnell wie möglich wieder weg von hier. Ich wollte nie nach Israel oder auf den Sinai, aber dann bin ich entführt worden.« Yohannes stammt aus Asmara, der Hauptstadt Eritreas, und sitzt seit Anfang Dezember zusammen mit rund 40 anderen Flüchtlingen aus Eritrea und Sudan in einem Gefängnis in Al-Arisch, der Provinzhauptstadt des Nord-Sinai, 40 Kilometer östlich von Rafah an der Grenze zum Gazastreifen, und wartet auf seine Abschiebung. Vor rund zwei Jahren flüchtete er aus wirtschaftlichen Gründen aus seiner Heimat, wie er sagt. Rund ein Jahr lebte er in einem der zahlreichen Flüchtlingslager im ostsudanesischen Bundesstaat Kassala. Sein Ziel war Sudans Hauptstadt Khartum, dort wollte er Arbeit suchen.

Wie viele seiner Mitgefangenen in Al-Arisch wurde er aus einem Flüchtlingslager entführt, an Schlepper verkauft und gegen seinen Willen in den Sinai verschleppt. Eingesperrt und gefesselt war Yohannes fünf Monate lang in einem der berüchtigten Foltercamps in der Gewalt von Menschenhändlern. Täglich wurden er und seine Mitgefangenen mißhandelt. Sein Rücken ist übersät mit Narben. Verbrennungen, Elektroschocks, Schläge mit Eisenstangen und Vergewaltigungen sind in den Folterkammern an der Tagesordnung. Überlebende der Camps berichten von unglaublichen und brutalen Foltermethoden. Nahrungsmittel und Wasser sind knapp, medizinische Versorgung gibt es nicht. Vor allem Frauen und Kinder leiden unter der Brutalität der Erpresser. Viele überleben die tägliche Folter und die Vergewaltigungen nicht.

Die Entführer nutzen die Mißhandlung ihrer Gefangenen als wirksames Druckmittel, um höhere Lösegelder zu erpressen. Viele Flüchtlinge sind mittellos und können nicht zahlen. Sie werden gezwungen, Verwandte in Europa oder Israel anzurufen. Sobald die Telefonverbindung steht, beginnt die Folter. Verwandte sollen die Schreie der Opfer am Telefon hören. Können die Opfer oder ihre Angehörigen die verlangten Summen nicht zahlen, gehen Folter und Anrufe weiter bis jemand das Geld aufgetrieben hat. Wer das nicht kann, dem wird mit Organentnahme gedroht. Auch Yohannes bekam diese Drohungen zu hören: »Wenn du nicht zahlst, verkaufe ich deine Organe. Geld bekommen wir so oder so, ob du stirbst oder nicht.« Yohannes hatte Glück, konnte das Geld auftreiben und wurde freigelassen.

Ausgeweidet und weggeworfen

Die in Schweden lebende Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Meron Estefanos geht davon aus, daß seit 2006 bis zu 4000 Menschen in den Foltercamps ihr Leben gelassen haben. Rund 1000 Flüchtlinge sollen sich aktuell in der Gewalt der Entführer im Sinai befinden. Estefanos reiste mehrfach in die Region und sprach mit Flüchtlingen und Überlebenden der Folterkammern. Das Ergebnis ihrer Recherchen ist ein 70 Seiten starker Bericht, den sie gemeinsam mit der Universität Tilburg im Herbst 2012 veröffentlicht hat. Das Dokument ist eine umfassende Untersuchung und Dokumentation des Ausmaßes der Greueltaten. Der Bericht basiert auf Interviews mit Flüchtlingen, die die Folterkammern selbst durchleben mußten, und wirft Fragen zum Organhandel in der Region auf. Überlebende der Folterkammern erzählen immer häufiger von Drohungen der Entführer, ihre Organe zu verkaufen, wenn sie die Lösegelder nicht bezahlen.

Menschenrechtsaktivisten berichten regelmäßig von in der Wüste gefundenen Leichen, denen offenbar Organe entnommen wurden. Auch Foto- und Videomaterial deuten darauf hin. Weitere Spuren gibt es jedoch nicht. Lina Attalah, Chefredakteurin der ägyptischen Wochenzeitung Egypt Independent, kennt die Gerüchte, betont aber, es gebe schlicht keine gesicherten Informationen. Sie habe gute Kontakte zu Beduinen und Schleppern, die ausführlich über den Menschenhandel im Sinai sprächen, den Handel mit Organen von Flüchtlingen aber nie erwähnten. Die Gerüchte um organisierten Organhandel im Sinai bleiben weiter nebulös. Es ist ein hochbrisantes Geschäft, mit dem viel Geld verdient wird; wer darin involviert ist, bleibt ein gut gehütetes Geheimnis.

Rund 60000 Flüchtlinge haben seit 2007 Ägyptens Grenze passiert und sind nach Israel eingeschleust worden, bis zu 7000 von ihnen sind Überlebende der Foltercamps im Sinai. Über 80 Prozent der Flüchtlinge, die den Sinai durchqueren, stammen aus Eritrea. Nach Angaben der Vereinten Nationen fliehen monatlich bis zu 3000 Menschen vor Armut und Staatsgewalt aus dem kleinen Staat an Afrikas Ostküste und lassen sich von Schleppern über die Grenze in die völlig überfüllten Flüchtlingslager im Sudan oder in Äthiopien bringen. »Wenn der Massen­exodus aus Eritrea so weiter geht, lebt bald die ganze Bevölkerung des Landes im Ausland oder in Flüchtlingslagern«, befürchtet eine Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganisation in Kairo, die anonym bleiben will.

Exodus aus Eritrea

Eritrea ist eines der ärmsten Länder der Erde und wird von einer brutalen Militärdiktatur beherrscht. Auf die Unabhängigkeit des Landes Anfang der 1990er Jahre und einen anfänglich friedlichen Übergang folgte 1998 ein zweijähriger bewaffneter Grenzkonflikt mit Äthiopien. Dieser lieferte dem Regime in Asmara, der Hauptstadt Eritreas, den Vorwand, seine politische Macht zu verfestigen und die Gesellschaft zu militarisieren. Der Ausnahmezustand ist nach wie vor nicht aufgehoben und die Verfassung außer Kraft gesetzt. Die unbegrenzte Verlängerung des allgemeinen Militärdienstes, die fehlende Bezahlung, Militärhaft und vor allem die systematische Folter und Vergewaltigung rangniedriger Wehrpflichtiger, insbesondere von Frauen, sind neben der extremen Armut die wichtigsten Gründe für die Flucht zahlloser Menschen.

Erste Anlaufstellen für Flüchtlinge aus Eritrea sind die Flüchtlingslager Mai Aini in Äthiopien und Shagarab im Sudan. Bereits in diesen Camps beginnt der Menschenhandel in Ostafrika. »Shagarab ist ein Markt, auf dem Menschen von einem Händler zum nächsten verkauft werden«, zitiert Estefanos einen Schlepper, der anonym bleiben will. Der Sinai als Hotspot des Menschenhandels in der Region ist nur die Spitze des Eisbergs. Flüchtlinge werden immer öfter aus den Flüchtlingslagern oder ihrer Umgebung gezielt entführt. Die Lager stehen unter Aufsicht des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR), doch dieses kann aufgrund knapper Geld- und Personalmittel weder für Beschäftigungsmöglichkeiten noch die Sicherheit in den Camps adäquat sorgen. Viele Menschen verlassen die Lager auf der Suche nach Arbeit und werden so zu leichter Beute für die Menschenhändler. Flüchtlinge berichten immer wieder, von Beduinen entführt, an Schlepper weiter verkauft und gegen ihren Willen in den Sinai verschleppt worden zu sein.

Die Menschenschmuggler sind professionell organisiert. Die Beobachtergruppe der Vereinten Nationen für Somalia und Eritrea veröffentlichte 2011 einen Bericht über den Menschen- und Waffenhandel in Ostafrika, der detailliert die Praktiken der Schlepper dokumentiert. Der grenzüberschreitende Menschen- und Waffenschmuggel, so die Beobachtergruppe, sei ohne Hilfe aus hohen Regierungs- und Militärkreisen in den Staaten der Region nicht möglich. Das Dokument berichtet über die Verwicklung eritreischer und sudanesischer Offizieller und nennt Namen. General Teklai Kifle »Manjus« gilt als wichtigster Drahtzieher in Eritrea. Involviert in die Netzwerke sollen neben Beduinen im Sinai und Nomaden in Ostafrika auch Grenzbeamte in Eritrea und Sudan sein, die den reibungslosen Ablauf des grenzüberschreitenden Menschenschmuggels gewährleisten. Die Schlepper greifen angeblich auf Kontaktpersonen im Ausland zurück, die den Transfer der Lösegelder abwickeln.

In Ägypten nichts Neues

Ägyptens Regierung und Armee führen die Politik des alten Regimes konsequent fort, ignorieren den Menschenhandel und setzen weiter auf eine repressive Migrations- und Asylpolitik. Zentralregierung und Polizei wissen über die Vorgänge im Sinai Bescheid, doch der Staat schaut tatenlos weg. Die eingeschränkte Souveränität Ägyptens im Sinai wird von Kairo reflexartig als Begründung für die ausufernde Kriminalität in der Provinz vorgetragen. Das Camp-David-Abkommen von 1979, der Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel, schränkt tatsächlich Kairos Spielraum, im Sinai militärisch zu intervenieren, massiv ein. 1981 zog Israels Armee ab und übergab die Beute aus dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 an Ägypten. Seither ist die Provinz in Zonen unterteilt. Während Ägypten entlang des Suez-Kanals begrenzt Truppen stationieren darf, ist seit 1982 in Sektor C nahe der israelischen Grenze eine multinationale Beobachtertruppe stationiert. Der Zentralsinai ist ein vom Staat nicht kontrolliertes Niemandsland. Kairo hat den Sinai jahrzehntelang wirtschaftlich, sozial und sicherheitspolitisch vernachlässigt und sich selbst überlassen.

»Das alte Regime hat sich nicht um den ­Sinai geschert. Für Mubarak war die Provinz nie Teil Ägyptens«, sagt Sheikh Mostafa Azem, ein Imam aus Rafah. Drogenanbau und Menschenhandel seien zur unverzichtbaren Einkommensquelle geworden. Die Arbeitslosigkeit sei hoch, und die Regierung pumpe ihre Investitionen nur in die Tourismusgebiete an den Küsten. Die desolate wirtschaftliche Lage der Menschen sei der Nährboden für die ausufernde organisierte Kriminalität, meint Azem. Wenn Arbeitsplätze entstünden, könne man dem Menschenhandel wirksam die Basis entziehen. Heute verkauften viele Menschen ihre Waren und Dienstleistungen an die Schlepper, deren Geschäfte schüfen ihnen ein Einkommen. Azem hofft, daß sich nach der Revolution doch noch etwas ändert, doch bisher scheint die Regierung keinerlei wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Azem und andere Beduinen versuchen, gegen die Schlepper mobil zu machen und sie mit einer Boykottkampagne unter Druck zu setzen. »Wir müssen die Schlepper isolieren. Wenn Supermärkte, Apotheken und Automechaniker die Schlepper boykottieren, kappen wir ihre Versorgung.« Solange die Regierung weiterhin wegschaue und den Norden der Provinz wirtschaftlich und sozial benachteilige, hätten derartige Initiativen allerdings keinerlei Einfluß, meint Azem. Die Schlepperbanden seien einfach zu gut bewaffnet.

Nach wiederholten Angriffen von Unbekannten auf israelische Grenzposten, Sprengstoffattacken auf die Gaspipeline, die Israel und Jordanien mit billigem ägyptischem Erdgas versorgt, und dem Angriff auf einen Grenzposten im August 2012, bei dem 16 ägyptische Soldaten getötet wurden, schickte Kairo Truppen in die Provinz und initiierte eine Militäroffensive. Ägypten zog nach Protesten Israels seine schweren Waffen aber wieder ab. Zwar bleibt die Präsenz ägyptischer Sicherheitskräfte im Sinai erhöht, die Armee machte bisher jedoch keine Anstalten, gegen den Menschenhandel vorzugehen, obwohl der Regierung Details zu den Foltercamps vorliegen. Nichtregierungsorganisationen aus Ägypten und Beduinen wie Azem kennen die Orte, an denen sich Foltercamps befinden, und haben ihre Informationen an ägyptische Behörden weitergeleitet. Die israelische Menschenrechtsorganisation Physicians for Human Rights hat auf Grundlage von Interviews mit in Israel lebenden Flüchtlingen, die die Camps im Sinai überlebt haben, eine Landkarte angefertigt, auf der Folterkammern exakt eingezeichnet sind. Shahar Shoham, Mitarbeiterin der Physicians, betont: »Wir kennen die Namen von Schleppern und wissen, wo sie wohnen. Wir haben Ägyptens Botschaft in Israel informiert, passiert ist nichts. Ägyptens Regierung ist dafür verantwortlich, die Händler zu stoppen und es liegt in der Verantwortung Israels, die Opfer zu schützen.« Die Karte sei auch an das US-Außenministerium übergeben worden, aber die USA machten ebensowenig Druck.

Noch 2010 verabschiedete die ägyptische Regierung ein scharf formuliertes Gesetz zum Menschenhandel. Das Gesetz sah nicht nur hohe Haftstrafen für Täter vor, sondern auch Maßnahmen zum Schutz der Opfer. Zudem garantierte es den Opfern das Recht auf Sicherheit, Privatsphäre, Identitätsschutz und juristische Unterstützung. Angewandt wurde dieses Gesetz jedoch kaum und außerdem selektiv. Die Behörden intervenierten nur bei Zwangsarbeit und Prostitution, nicht jedoch beim Handel mit Flüchtlingen. In der neuen Verfassung, die im Dezember in einem Referendum angenommen wurde, werden Zwangsarbeit und Organhandel verboten. Artikel 57 gewährt ein grundsätzliches Asylrecht, limitiert jedoch die Verantwortung des Staates und höhlt das Asylrecht aus.

Die Regierung stellt trotz internationaler Verpflichtungen – Ägypten hat die Genfer Flüchtlingskonvention und ihre Zusatzprotokolle unterzeichnet und ratifiziert – keine Unterstützung für Flüchtlinge und Migranten bereit und verweigert ihnen elementare Rechte wie den Zugang zu Sozial- oder Gesundheitsleistungen und zum Bildungssystem. Wohnraum wird vom Staat nicht zur Verfügung gestellt. Migranten sind oft obdachlos und der Willkür der Polizei ausgesetzt. Einzige Anlaufstelle für Flüchtlinge in Ägypten, um Aufenthaltspapiere und Asyl zu beantragen, sind die Vereinten Nationen. Ägypten hat das Asylverfahren komplett an das völlig überlastete UNHCR ausgelagert. Allein die Registrierung kann vier Monate dauern. Asylanträge werden teils erst nach zwei Jahren bearbeitet, währenddessen Migranten sich nicht ausweisen können. Besserung ist nicht in Sicht, da die neue Regierung in der Migrationspolitik den Kurs des alten Regimes fortführt und das UNHCR für 2013 eine empfindliche Budgetkürzung von zehn Prozent hinnehmen muß. Kairo verweigert den Vereinten Nationen zudem den Zutritt zu Gefängnissen.

Viele Flüchtlinge versuchen, Ägypten schnellstmöglich wieder zu verlassen, insbesondere seit dem brutalen Vorgehen der ägyptischen Polizei gegen eine friedliche Demonstration von Flüchtlingen vor dem Hauptsitz des UNHCR im Kairoer Stadtteil Muhandessin 2005, bei dem 27 Flüchtlinge getötet wurden. Die Regierung setzt im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten auf Administrativhaft und Abschiebungen. Zudem werden Flüchtlinge immer wieder beim Versuch, die Grenze nach Israel zu passieren, vom Grenzschutz erschossen.

High-Tech-Zaun um Israel

Gelingt Migranten die Flucht nach Israel, sind sie keineswegs sicher. Auch die israelische Regierung ignoriert ihre internationalen Verpflichtungen und setzt auf Abschreckung, Abschottung und Abschiebung. 2012 hat die Armee die Praxis der sogenannten »Hot Returns«, der sofortigen Zwangsrückführung von Flüchtlingen ohne Überprüfung ihrer Asylgesuche, eingeführt. Die Einwanderungsgesetze wurden verschärft, und die Regierung läßt die Gefängnisinfrastruktur ausbauen. Allein der Haftkomplex nahe Ktsiot, in Grenznähe zum Sinai, soll bis Ende 2013 über 16000 Flüchtlinge aufnehmen und wäre damit die weltweit größte Haftanstalt für Flüchtlinge. Ein neues Gesetz wurde verabschiedet, nach dem sogenannte Eindringlinge, also die ohne Erlaubnis nach Israel gelangten Flüchtlinge, sofort für bis zu drei Jahre und mehr in Abschiebehaft genommen werden können. Zudem wird die Grenze aufgerüstet. Bis März 2013 soll der 240 Kilometer lange, mit modernster Technologie ausgerüstete, fünf Meter hohe Stacheldrahtzaun an der ägyptischen Grenze fertig sein. Auch der Zaun zu Jordanien ist bald fertiggestellt. Dies dient nicht nur der eigenen Sicherheit oder der Abwehr von unerwünschten Migranten, sondern auch als Test für den Verkauf an andere Länder. Indien hat bereits Interesse angemeldet, weil es die Grenzanlagen zu Bangladesch und Pakistan modernisieren will.

Im März 2012 verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution zum Menschenhandel auf dem Sinai. Darin werden die Regierungen in Ägypten, Sudan, Äthiopien und Eritrea aufgefordert, gegen den Menschenhandel vorzugehen. Ägypten und Israel sollen gemäß ihrer internationalen Verpflichtungen eine konsistente Asyl- und Migrationspolitik implementieren, von Ägypten wird verlangt, Maßnahmen zur Verfolgung der Schlepper im Sinai zu unternehmen. »Die EU-Resolution war ein erster Schritt in die richtige Richtung, hat aber bisher nichts bewirkt, es muß mehr internationaler Druck entstehen«, sagt Shoham. Im November stellte die Fraktion Die Linke im Bundestag unter Federführung von Annette Groth eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung und fragte nach deren Erkenntnissen über den Menschenhandel auf dem Sinai. Die Antwort enthüllte, daß die deutsche Bundesregierung sehr gut über die kriminellen Machenschaften und Greueltaten auf dem Sinai informiert ist. In einer Debatte über den 2012 veröffentlichten Menschenrechtsbericht ließ Außenminister Westerwelle verlauten, daß er bereits etliche Gespräche darüber mit den betroffenen Regierungen geführt habe. Auf der diplomatischen Ebene ist der Menschenhandel im Sinai also durchaus ein Thema. Nur wird die Öffentlichkeit darüber nicht informiert.

Deutschland ist ein Verbündeter von Präsident Mursi, setzt auf wirtschaftliche Kooperation und will dem Land U-Boote verkaufen. Außenminister Guido Westerwelle war der erste westliche Spitzenpolitiker, der Mursi in Kairo besuchte, und jetzt kommt Mursi zu Gesprächen nach Berlin. Staatsmänner auf höchster Ebene stecken ihre gemeinsamen Interessengebiete ab. Fraglich, ob dabei der Menschenhandel auf dem Sinai eine Rolle spielen wird.

* Annette Groth ist menschenrechtspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag.
Sofian Naceur ist freier Journalist.

Aus: junge Welt, Freitag, 25. Januar 2013



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