Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Schengen auf dem Prüfstand

Bundesregierung hält den grenzfreien Verkehr in Europa für unantastbar

Von Christian Klemm *

Seit Tagen wird in Europa eine Reform des Schengen-Abkommens diskutiert. Jetzt hat sich die Bundesregierung zu Wort gemeldet. Mit ihr sei die Einschränkung der Reisefreiheit nicht zu machen, heisst es aus Berlin.

Angesichts zehntausender Flüchtlinge aus Nordafrika wollen Frankreich und Italien das sogenannte Schengen-Abkommen reformieren, das seit Mitte der 1980er Jahre unter anderem den grenzfreien Reiseverkehr zwischen ausgewählten Staaten Europas regelt. Beide Länder plädieren dafür, das Abkommen zeitweise aufzuheben. Passkontrollen an den EU-Grenzen und Einschränkungen der Reisefreiheit müsse man dann in Kauf nehmen, so das Kalkül.

Die Bundesregierung steht diesem Vorschlag skeptisch gegenüber. Sie hält den grenzfreien Verkehr innerhalb der 26 Länder des Abkommens für unantastbar. »Wir müssen in Erinnerung behalten, dass Schengen ein großer europäischer Wurf ist«, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Diesen wolle man ausdrücklich verteidigen, so Seibert weiter.

Das sieht Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) etwas anders. Schon vor Wochen brachte er Kontrollen an der bayerisch-österreichischen Grenze ins Gespräch. Italien stellt nordafrikanischen Flüchtlingen seit Anfang April Sondervisa aus, mit denen sie – zum Argwohn Friedrichs und anderer konservativer Hardliner – durch den Schengen-Raum reisen können. Bei »außergewöhnlichen Ereignissen« wie der massenhaften, illegalen Einreise von Flüchtlingen müsse die Einführung von Grenzkontrollen möglich sein, meinte Friedrichs Sprecher Jens Teschke.

Eine Auffassung, der die Grünen vehement widersprechen. Durch eine Aufweichung des Abkommens werde die europäische Idee »vor die Wand« gefahren, kommentierte Partei-Chefin Claudia Roth. Und Marei Pelzer von der Flüchtlingsorganisation »Pro Asyl« nannte das Infragestellen von Schengen gegenüber ND »reinen Populismus«.

Doch offenbar erkennt auch die Bundesregierung Reformbedarf. »Wenn man das Schengen-System verbessern kann, dann ist das gut und dann soll man es auch tun«, erklärte Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Die Reisefreiheit in Europa dürfe jedoch nicht zur Disposition stehen. Konkrete Reformvorschläge machte er nicht. Noch nebulöser als der FDP-Minister äußerte sich Teschke: »Wir sind in Teilen der Ansicht, dass die Schengen-Instrumente eines Feinschliffs bedürfen.« Was er mit »Feinschliff« gemeint hat, war trotz ND-Nachfrage beim zuständigen Bundesinnenministerium bis Redaktionsschluss nicht zu klären.

Wie Roth und Pelzer befürwortet auch Andrej Hunko von der Linksfraktion im Bundestag offene Grenzen in Europa. Die EU-Binnengrenzen seien durch Schengen jedoch nur scheinbar abgeschafft, meint der Linkspolitiker. Das sogenannte Schengener Informationssystem sei eine »virtuelle Grenze« zur Migrationsabwehr. Das Informationssystem listet Personen auf, die im Schengen-Raum zur Fahndung ausgeschrieben, mit einer Einreisesperre belegt oder als vermisst gelten. In jedem deutschen Bundesland führen jeweils mehrere Dutzend Polizisten aufgrund der Hautfarbe eines Verdächtigen Personenkontrollen durch, so Hunko weiter

* Aus: Neues Deutschland, 29. April 2011


Gauner gegen Schengen

Von René Heilig **

Die EU-Kommission in Brüssel wird demnächst einen gemeinsamen Brief von Berlusconi und Sarkozy erhalten. Angesichts der derzeitigen »außergewöhnlichen Umstände«, so wird da zu lesen sein, schlagen Italien und Frankreich ein paar winzig-kleine Änderungen am Schengener Abkommen vor. Nichts Bedeutendes, man wolle nur die Reisefreiheit ohne Passkontrolle in 26 EU-Staaten ein wenig einschränken.

Nicht nur, weil man diesen beiden »Reformern« jede Gaunerei zutrauen kann, sollte man ihnen das nicht glauben. Es geht nicht nur um verstärkte Passkontrollen, damit Flüchtlingen das Entkommen ins EU-Innere erschwert werden kann. Diese Möglichkeit bietet das Schengen-Abkommen von Anfang an. Eher ist zu vermuten, dass legal zusätzliche und diskriminierende Personen-Daten ins Schengen-Informationssystem eingestellt und herausgefischt werden sollen. Nicht nur wie bisher von nationalen Polizeien, sondern auch von allerlei dubiosen wie geheimen Diensten. EU-Hardliner träumen schon seit langem von einer EU-Behörde, gemixt aus Europol und Frontex, so allmächtig wie unkontrollierbar.

Grundsätzlich geht es Berlusconi wie Sarkozy darum, ein einheitliches, womöglich liberales EU-Asylrecht zu verhindern. Dann bliebe Hilfesuchenden EU-weit nur noch der italienische Weg offen: Zurück aufs Meer...

** Aus: Neues Deutschland, 29. April 2011


Zurück zur Seite "Migration, Flucht und Vertreibung"

Zur EU-Europa-Seite

Zurück zur Homepage