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Wer belastet hier eigentlich wen?

Die Debatte um osteuropäische Zuwanderer wird zunehmend fremdenfeindlich

Von Fabian Köhler *

Immer mehr Kommunen klagen über gestiegene Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien und fordern finanziellen Beistand. Dafür verbreiten sie nicht nur dramatisierte Zahlen, sondern zunehmend auch fremdenfeindliche Klischees.

Es ist kein schönes Leben zwischen Güterzügen und einer Straße, die nicht ohne Grund »Industrieweg« heißt. Vor allem Rumänen wohnen in den farblosen Wohnblöcken am Hanauer Hauptfriedhof. Müllsäcke stapeln sich. Verwahrloste Kinder überfallen hier angeblich Passanten. Von »Banden« und gestiegener Kriminalität ist die Rede.

Glaubt man Berichten in der hessischen Lokalpresse, hat Hanaus Daimlerstraße ein Problem: »Zigeunerplage«, nennen es Anwohner. »Konzentration von armen südosteuropäischen Zuwanderern mit geringem Bildungsniveau«, nennt es Hanaus Sozialdezernent Axel Weiss-Thiel in der »Frankfurter Rundschau«. Die Stadt stimmt ein in den Hilfeschrei, der aus allen Ecken der Republik zu hören ist: Köln, Duisburg, München, Essen, Dortmund, Hamm - sie alle klagen über ihre rumänischen und bulgarischen Mitbürger, fordern mehr Geld und weniger Zuwanderung.

Dramatisierte Zahlen

Am 14. Februar warnte der Deutsche Städtetag mit dramatischen Zahlen vor einer osteuropäischen »Armutszuwanderung«. Das Stereotyp eines rumänischen Zuwanderers. Dabei sind Migranten im Durchschnitt besser ausgebildet als deutsche Arbeitsuchende. Dass diese Zahlen »bei genauer Betrachtung deutlich niedriger und längst nicht so dramatisch« sind, hat nun der Berliner »Mediendienst integration« belegt:
  • Abwanderer vergessen: 147 000 Zuzüge aus Rumänien und Bulgarien weist der Städtetag in Berufung auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2011 aus. Berechnet man allerdings die unterschlagenen Abwanderer mit ein, bleibt lediglich ein Plus von 58 359 Migranten.
  • Saisonarbeiter: Die Zahl, so der Mediendienst, schrumpfe weiter, da viele der mitgezählten Saisonarbeiter Deutschland schnell wieder verlassen.
  • politisch gewollt: Das Bundesministerium für Arbeit hatte im Jahr 2011 wegen des steigenden Arbeitskräftebedarfs die Kontingente für rumänische und bulgarische »Saisonarbeiter und Schaustellergehilfen« gezielt erhöht.
  • nicht nur Arme: Im selben Maße wie die Zuwanderung zwischen 2010 und 2011 aus Rumänien und Bulgarien insgesamt zunahm, stieg auch die Zahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigter aus den beiden Ländern: um 25 Prozent von 56 000 auf 70 600 Personen.
  • viele Studenten: Unter das Label »Armutszuwanderung« des Städtetages passen auch nicht die 7000 bulgarischen Studenten, die allein im Wintersemester 2011/2012 an deutschen Unis studierten.


Die »soziale Balance und der soziale Friede in den Städten ist in höchstem Maße gefährdet«, warnte unlängst der Deutsche Städtetag. Unter anderem »nachhaltige Maßnahmen zur Abwendung einer Zuwanderungswelle« fordert die Interessenvertretung von 3400 Städten. Schließlich habe sich die jährliche »Armutszuwanderung« in den letzten fünf Jahren verdoppelt.

Dabei verschweigt der Städtetag, dass nicht nur die Zahl der Zuwanderer, sondern auch die der Abwanderer stark zugenommen hat. Von 147 000 eingewanderten Rumänen und Bulgaren blieben laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2011 per saldo 58 500 übrig. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Rumänen und Bulgaren stieg im selben Maße. Von einer gestiegenen Armutsmigration könne deshalb keine Rede sein, kommentiert der Berliner »Mediendienst Integration«. Auch Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg widerspricht der Mär vom schlecht ausgebildeten Sozialschmarotzer. Gegenüber Deutsche Welle kritisiert er das »Klagelied der Kommunen«. Zuwanderer seien im Durchschnitt höher ausgebildet als deutsche Arbeitssuchende; viele Kommunen profitierten sogar steuerlich von der Zuwanderung.

Trotzdem mehren sich auch auf Länder- und Bundesebene die fremdenfeindlichen Stimmen. Die »Ausreise von Personen«, die Sozialleistungen »betrügerisch« in Anspruch nehmen, verlangte Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) unlängst im »heute journal«. Auch Nordrhein-Westfalens Arbeitsminister Guntram Schneider (SPD) warnte in einem Interview mit der FAZ vor der Belastung für die Sozialsysteme: »Nur ein geringer Teil der Menschen wird eine Arbeit finden.« Hingegen erwähnte er nicht, dass - anders als die meisten EU-Bürger - rumänische und bulgarische Migranten in Deutschland gar kein Anrecht auf Hartz IV und Sozialhilfe haben. Zu dieser Klarstellung sah sich im Anschluss an das Interview, welches die FAZ mit einem Pferdekarren illustrierte, sogar das Innenministerium genötigt.

Dass auch Medien immer wieder Klischees bedienen, weiß Sabine Schiffer: »Wir beobachten diesen Trend seit dem EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens«, sagt die Leiterin des »Instituts für Medienverantwortung«. Menschen aus Ostländern würden stets als Billiglohnkonkurrenz dargestellt. Die Leidtragenden sind dabei nicht deutsche Kommunen, sondern vor allem die in den Medien oft mit Rumänen und Bulgaren synonym verwendeten Sinti und Roma. Über 40 Prozent der Deutschen äußern »Unmut«, sich mit den beiden Volksgruppen, die überall in Europa oft in ärmlichen Verhältnissen leben, »in einer Wohngegend aufzuhalten«. Dies belegte im vergangenen Jahr die Studie »Deutsche Zustände« des Soziologen Wilhelm Heitmeyer.

Solche Vorbehalte kennen auch die Bewohner der Hanauer Daimlerstraße. Dort widersprach zuletzt sogar die örtliche Polizei Medienberichten von gewalttätigen Kindern und organisierter Kriminalität. In einer gemeinsamen Arbeitsgruppe aus verschiedenen Behörden will die Stadt nun unter anderem das Müllproblem angehen. Eine der ersten Maßnahmen: Nicht weniger Rumänen, sondern mehr Mülltonnen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 26. Februar 2013


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