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Protest an Bord

Menschenrechtsaktivisten demonstrieren auf dem Mittelmeer gegen die Abschottung der Europäischen Union zu Afrika

Von Matthias Heintze *

Aktivisten des internationalen Bündnisses »Boats 4 People« wollen mit einer Schifffahrt von Italien nach Tunesien und Besuchen in Flüchtlingslagern auf die Gefahren für Menschen aufmerksam machen, die versuchen, auf dem Seeweg von Afrika nach Europa zu gelangen.

Was tun, wenn der Kapitän die Küstenwache ruft? Würde er eine Demonstration gegen das europäische Grenzregime an Bord einer Fähre zwischen Sizilien und Tunesien mitten im Einsatzgebiet der EU-Grenzschutzagentur Frontex dulden? Es war wohl die erste Aktion dieser Art, als am Sonnabend Aktivisten auf dem Mittelmeer daran erinnerten, dass im vergangenen Jahr fast 2000 Menschen bei der Flucht nach Europa ertranken.

In der vergangenen Woche waren die Vertreter und Sympathisanten von Flüchtlings- und Migrantenorganisationen aus Italien, Deutschland, Frankreich, Österreich, den Niederlanden, Mali, Libyen und Niger zunächst im italienischen Cecina nahe Livorno zusammengekommen. Der Name ihrer transnationalen Protesttour: »Boats 4 People« (B4P). »Die EU hatte auf den Arabischen Frühling vor allem eine Antwort: Abschottung «, sagt Christoph Arndt aus Berlin, der B4P mitorganisiert hat. Eilig seien Grenzschutzabkommen mit den neuen Regierungen geschlossen worden. »Auch ein Jahr nach den Aufständen in Nordafrika können die Menschen sich nicht frei bewegen.«

Die Fähren seien Ausdruck dieser Ungleichheit: »Europäer können damit reisen, wann sie wollen. Für Menschen aus Afrika ist die Überfahrt keineswegs selbstverständlich«, sagt Arndt. Er und seine Verbündeten bauten eine Lautsprecheranlage auf, verteilten Flugblätter und luden die rund 1000 Passagiere zu einer Versammlung an Deck des Schiffes ein. »Die Fähren bewegen sich zwischen den Welten, ebenso wie viele der Menschen, die sie nutzen. Denen wollten wir zeigen, dass es auch in Europa Leute gibt, die die Grenzen überwindbar machen wollen«, erklärt Matthias Monroy, ein Aktivist aus Berlin, die Aktion. Rund 100 Fahrgäste seien zu ihnen gekommen. »Europa übt eine wahnsinnige Anziehungskraft auf die jungen Tunesier aus. Sie wollen es entdecken, aber schon der Versuch wird kriminalisiert«, sagt der Tunesier Riadh Ben Ammar, der zehn Jahre in einem Mecklenburger Flüchtlingslager lebte.

Am Vorabend hatten die Aktivisten im Hafen von Palermo eine Gedenkfeier abgehalten. Sie breiteten eine Liste mit den Namen von rund 16 000 Toten der »Festung Europa« aus, die Menschenrechtsinitiativen seit 1993 gezählt haben. Von Polizeibeamten beäugt, verlasen sie die Namen und zündeten Kerzen an.

Eine Delegation von B4P besuchte zuvor mit italienischen Abgeordneten das Internierungslager von Milo auf Sizilien. Dort hält die italienische Polizei 184 Männer und Frauen aus Tunesien teils monatelang in Abschiebehaft fest. »Sie werden behandelt wie Verbrecher. Aber Migration ist kein Verbrechen«, betont Ben Ammar.

Ähnliches dachten offensichtlich die Sicherheitskräfte auf der Fähre: Sie ließen die B4P-Aktivisten gewähren. Nach ihrer Ankunft in Tunis begleiteten sie am Montag eine Kundgebung von Müttern der so genannten Harraga: jene in die Tausende gehende Zahl junger Nordafrikaner, die im Boot nach Europa aufbrachen und seither als vermisst gelten.

Am Dienstag brach eine Delegation in das Flüchtlingslager Choucha nahe der libyschen Grenze auf. Seit dem Aufstand gegen Muammar al-Gaddafi sitzen dort mehrere Tausend Flüchtlinge aus Eritrea und Somalia fest. Immer wieder haben sie versucht, mit Booten nach Italien zu kommen.

Bis zum Wochenende wollen die B4P-Aktivisten mit tunesischen Gruppen Aktionen durchführen. Das eigens gecharterte Schiff »Oloferne« fährt zeitgleich von Italien nach Tunesien und wird Anfang nächster Woche in Monastir erwartet. Dort wird das Weltsozialforum vorbereitet, das 2013 in Tunesien und damit erstmals in der arabischen Welt stattfinden wird. Ein Schwerpunkt: Migration.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 11. Juli 2012


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