Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Tod im Mittelmeer

Von Knut Mellenthin *

NATO-Kriegsschiffe haben ein Boot mit afrikanischen Flüchtlingen 16 Tage lang hilflos im Mittelmeer treiben lassen. Von 72 Menschen überlebten nur neun. Über das bisher von westlichen Medien ignorierte Drama berichtete am Sonntag abend erstmals die britische Tageszeitung The Guardian. Nach den Erkenntnissen des Londoner Blattes war das Flüchtlingsschiff am 25. März im Hafen der libyschen Hauptstadt Tripolis gestartet, um die rund 300 Kilometer entfernte italienische Insel Lampedusa zu erreichen. An Bord befanden sich 47 Äthiopier, sieben Nigerianer, sieben Eritreer, sechs Ghanaer und fünf Sudanesen. Unter den Passagieren waren zwanzig Frauen und zwei kleine Kinder.

Nach 18 Stunden Fahrt geriet das kleine Schiff in Seenot und verlor Treibstoff, heißt es im Guardian-Bericht. Mit einem Satellitentelefon informierten Flüchtlinge den in Rom lebenden eritreischen Priester Moses Zerai. Der Pater alarmierte die italienische Küstenwache, die die Lage des Bootes feststellte und Zerai versicherte, daß alle zuständigen Stellen unterrichtet worden seien.

Tatsächlich tauchte wenig später ein mit dem Wort »Army« beschrifteter Hubschrauber über dem Flüchtlingsschiff auf. Die Besatzung ließ Wasserflaschen und Pakete mit Keksen herab und gab dem Kapitän durch Zeichen zu verstehen, er solle auf Kurs bleiben und die Ankunft eines Rettungsschiffs abwarten. Dieses erschien jedoch nicht. Bei der NATO war bisher nicht zu ermitteln, zu welchen Streitkräften der Hubschrauber gehörte.

Am 27. März war der Treibstoff verbraucht, es waren kaum noch Wasser und Nahrung vorhanden, und das Schiff trieb nur noch mit den Strömungen. Am 29. oder 30. März befand sich das Boot in Sichtweite eines Flugzeugträgers. Nach Angaben von Überlebenden stiegen zwei Düsenjäger auf und überflogen das Boot in niedriger Höhe, während die Flüchtlinge ihnen verzweifelt zuwinkten. Auch jetzt kam jedoch keine Hilfe.

Nach Guardian-Recherchen handelte es sich vermutlich um den französischen Flugzeugträger Charles de Gaulles, der zu diesem Zeitpunkt dort operierte. Französische Marinestellen bestritten gegenüber der Zeitung zunächst, daß sich der Träger zur fraglichen Zeit in diesem Gebiet befunden habe. Als die Journalisten anhand von Meldungen das Gegenteil bewiesen, verweigerten die Franzosen jeden weiteren Kommentar. Ein NATO-Sprecher erklärte der Zeitung, daß bei der Allianz keine Notrufe des Flüchtlingsbootes eingegangen seien und daß es keine Berichte über diesen Zwischenfall gebe.

Während der folgenden zehn Tage starben die meisten Insassen des Schiffs an Durst und Hunger. Als das Boot am 10. April wieder an die libysche Küste getrieben wurde, lebten nur noch elf Menschen. Einer von ihnen starb unmittelbar nach der Landung, ein weiterer wenig später im Gefängnis, wohin die Überlebenden zunächst gebracht worden waren.

Das internationale Recht verpflichtet alle Nationen, Schiffbrüchigen zu Hilfe zu kommen. Darüber hinaus rechtfertigt die westliche Militärallianz ihren Krieg gegen Libyen ausdrücklich mit dem Schutz und der Rettung von Menschenleben.

* Aus: junge Welt, 10. Mai 2011


Zurück zur Seite "Migration, Flucht und Vertreibung"

Zur NATO-Seite

Zurück zur Homepage