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"Wann werden wir verstehen?"

Flüchtlingstragödie vor Lampedusa mit weit über hundert Toten

Von Anna Maldini, Rom *

Es ist die nächste große Tragödie auf dem Mittelmeer: Mindestens 133 Flüchtlinge sind am Donnerstag nahe der italienischen Insel Lampedusa ertrunken. Die Zahl der Opfer könnte weiter steigen, hunderte Menschen wurden am Abend noch vermisst.

Lampedusa beweint die Toten. Eine ganze Insel war Stunden um Stunden auf den Beinen und hat Lebende und Tote geborgen, Verletzte behandelt, Schiffbrüchige sowie Helfer versorgt und dabei immer wieder geweint. Auf Lampedusa ist man Leid und Flüchtlingsdramen zwar gewohnt, aber eine Tragödie von diesem Ausmaß ist für alle unerträglich.

Donnerstag vor Morgengrauen schlug eine Gruppe von Hobbyfischern Alarm: Sie hatten Hilferufe gehört und sofort begonnen, möglichst viele Menschen, Tote und Überlebende, in ihr Boot zu laden. Danach kamen die Küstenpolizei und die Fischer der Insel: Jeder, der ein Boot besitzt, machte sich zur Unglücksstelle etwa 800 Meter vor der Küste auf. Nach und nach wurden erst die 150 Überlebenden und dann die Toten – darunter auch mehrere Kinder und eine hochschwangere Frau – geborgen.

In der kleinen Krankenstation der Insel wurden die Verletzten behandelt. Aber das wirkliche Ausmaß des Dramas wurde erst klar, als die Schiffbrüchigen – fast alle aus Eritrea und Somalia – ihre Geschichte erzählten: Auf dem kleinen Boot waren etwa 500 Menschen zusammenpfercht. Nach zwölfstündiger Überfahrt fiel der Motor aus. Um in der Dunkelheit auf sich aufmerksam zu machen, hat wohl jemand eine Decke angezündet: Innerhalb von wenigen Minuten stand das Boot in Flammen, den Menschen blieb nichts, als sich in die Fluten zu stürzen. Wie viele dieses Mal vor Lampedusa ertrunken sind, wird sich wahrscheinlich nie genau klären lassen.

Ganz Italien zeigte sich bewegt. Staatspräsident Giorgio Napolitano sprach von einer Tragödie mit biblischem Ausmaß, Papst Franziskus von einer »Schande für Europa«; Kammerpräsidentin Laura Boldrini, die jahrelang für das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) arbeitete, forderte eine Umkehr der italienischen und europäischen Migrationspolitik. Überall wurde der Ruf nach »mehr Europa«, »humanitären Korridoren« und einer anderen Ausrichtung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex laut. Nur die fremdenfeindliche Partei Lega Nord gab die Schuld für das Drama Frau Boldrini und der Integrationsministerin Kyenge, ihrem »Gutmenschentum« und dem Versprechen nach Wohlstand.

Innenminister Angelino Alfano reiste sofort nach Lampedusa, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Am Freitag will er das Parlament informieren. Doch wieder einmal liegt die größte Last auf den Schultern der 5000 Einwohner von Lampedusa. Zwar haben sie sich in den letzten Jahren immer wieder über die Flüchtlingsmassen und über die unzureichenden Strukturen beschwert, wollten die Migranten möglichst schnell wieder von der Insel haben, weil sie befürchteten, dass sich sonst die Touristen gestört fühlen. Aber sobald ihre Hilfe gefragt ist, werfen sie alle Bedenken über Bord, bringen Decken und Kleidung, kochen Tee und Pasta, um wenigstens Hunger und Durst zu stillen. Auch Bürgermeisterin Giusi Nicolini, die ob der vielen Toten, die in Plastiksäcken auf der Mole aufgereiht lagen, weinend sagte: »Wann werden wir endlich verstehen, dass man die Flüchtlinge am anderen Ufer des Mittelmeeres abholen muss, wenn man wirklich nicht will, dass sie nicht ertrinken?«

In Italien wird jetzt die Forderung immer lauter, man möge den Einwohnern von Lampedusa den Friedensnobelpreis verleihen. Welch eine Botschaft, ist doch der diesjährige Träger die Europäische Union – von Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen immer wieder »Festung Europa« genannt.

EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström reagierte via Twitter sogleich mit der Aufforderung: »Wir müssen unsere Anstrengungen verdoppeln im Kampf gegen Schleuser, die menschliche Hoffnungslosigkeit ausbeuten«. Sie mahnte auch einen besseren Schutz von Migrantenrechten an, und mehr legale Möglichkeiten für Flüchtlinge, nach Europa zu kommen.

Seit Jahresbeginn erreichten mehr als 22 000 Bootsflüchtlinge allein die italienischen Küsten. Nach letzten Schätzungen des UNHCR sind im Jahr 2011 mehr als 1500 Menschen bei dem Versuch, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, ertrunken oder gelten seither als vermisst. Die UNHCR-Büros in Griechenland, Italien, Libyen und Malta warnen, dass die tatsächliche Zahl noch sehr viel höher sei.

Das Mittelmeer, aber auch weitere Seegebiete auf der Erde werden immer wieder zum Friedhof von Menschen, die wegen der Hoffnung auf ein besseres Leben eben jenes aufs Spiel setzen müssen. Anders als die nun an Lampedusa angeschwemmten Leichen, sind die meisten verschwunden.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 4. Oktober 2013


Tödliche EU-Politik

Von Martin Ling **

Die Chronik angekündigter Flüchtlingskatastrophen wird fortgeschrieben. Die Betroffenheit, die schnell von der EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström angesichts der weit über 100 Toten vor Lampedusa geäußert wurde, mag durchaus echt sein. Allein, es spricht nichts dafür, dass die EU ihre schändliche Flüchtlingspolitik grundsätzlich überdenkt. Selbst Malmström nennt zuallererst den »Kampf gegen Schleuser, die menschliche Hoffnungslosigkeit ausbeuten«, als prioritär anzugehende Anstrengung.

Fraglos nützen die Schleuser die Hoffnungslosigkeit von Flüchtlingen skrupellos für ihr Geschäft aus, doch produziert wird diese Hoffnungslosigkeit nicht von ihnen. Sie ist oft eine Folge der EU-Handels- und Außenpolitik, die Lebensbedingungen im Süden verschlechtert und in Krisengebieten wie in Syrien selbst bei der humanitären Hilfe unterm Strich versagt.

Senegals Bauernpräsident Samba Gueye hat die Folgen der EU-Politik einst plastisch ausgedrückt: »Wir haben Erdnüsse exportiert, das wurde uns kaputtgemacht. Wir exportierten Fisch, der wurde uns weggefangen. Nun exportieren wir eben Menschen.«

Die EU-Einwanderungspolitik nimmt Flüchtlingstragödien in Kauf, rüstet vor allem ihre Grenzschutzagentur Frontex auf. Doch so abschreckend kann selbst diese nicht sein, dass sie Hoffnungslose von der Flucht abhalten kann. Die Zahl der allein im Mittelmeer in den letzten 20 Jahren Ertrunkenen übersteigt die Zehntausend. Die nächste Tragödie kommt todsicher.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 4. Oktober 2013 (Kommentar)


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