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Systematisch betriebene Menschenrechtsverletzungen

Scharfe Kritik an Einwanderungspolitik Griechenlands

Von Holger Elias *

Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl hat Griechenland massiver Menschenrechtsverletzungen beschuldigt. Flüchtlinge würden zum Teil auf hoher See ausgesetzt, misshandelt und sogar gefoltert. Auch die Haftbedingungen seien menschenunwürdig.

Genau genommen sind die Vorwürfe gegen die griechischen Behörden nicht neu: Bereits im vergangenen Jahr deuteten Berichte irakischer Flüchtlinge auf Menschenrechtsverletzungen hin. Damals hatte es Tote gegeben, als die griechische Küstenwache ein Boot mit Betroffenen vor der türkischen Küste ausgesetzt hatte. Der am Montag in Brüssel vorgestellte Bericht der Organisation Pro Asyl und der griechischen »Vereinigung der Rechtsanwälte für die Verteidigung der Menschenrechte von Flüchtlingen und Migranten« über die Situation der Flüchtlinge in der Ägäis machte allerdings deutlich, dass derlei Praktiken offenbar systematisch betrieben werden.

Über zwei Monate hatte die Abordnung der Organisationen in Gesprächen mit über 100 Flüchtlingen, aber auch mit Vertretern der griechischen Küstenwache und der Behörden gesprochen, um sich ein Bild vom Umgang mit Flüchtlingen vor und auf den ostägäischen Inseln Lesbos, Chios und Samos machen zu können. Der Europareferent von Pro Asyl, Karl Kopp, bezeichnete die Ergebnisse der Untersuchung als »höchst schockierend«. Demnach misshandelt die griechische Küstenwache systematisch neu ankommende Flüchtlinge, versucht, Flüchtlingsboote zu blockieren und aus den griechischen Territorialgewässern zu drängen. Dabei werden Tote in Kauf genommen, heißt es in dem Bericht. Bootsinsassen würden auf unbewohnten Inseln ausgesetzt oder auf dem offenen Meer ihrem Schicksal überlassen.

Zudem inhaftiert die Polizei »völkerrechtswidrig alle Flüchtlinge und Migranten bei ihrer Ankunft auf den Inseln, darunter auch viele Minderjährige«. Ausnahmslos und unter Bruch internationaler Abkommen werde gegen alle Neuankommenden eine Abschiebeanordnung verhängt. Die Lebensbedingungen in drei von der Delegation besuchten Haftlagern werden in dem Dokument als »unhaltbar« bezeichnet. Außerdem kämen die Umstände der Inhaftierung einer »erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung gleich«.

Kopp berichtete gegenüber ND von einem Fall, bei dem die Behörden sogar Foltermethoden wie Elektroschocks, Eintauchen des Kopfes in Wassereimer und Scheinhinrichtungen angewendet haben sollen. In den Lagern selbst fanden die Mitglieder der Abordnung Schwerverletzte vor, denen medizinische Hilfe verweigert worden war. In dem Bericht sprechen die Menschenrechtsorganisationen von »eklatanten Defiziten des griechischen Asyl- und Aufnahmesystems« und fordern freien Zugang zu fairen Asylverfahren, ein Verbot der obligatorischen Inhaftierung, menschenwürdige Unterbringung und einen besseren Schutz Minderjähriger.

Deutschland spiele in der europäischen Debatte um Asyl und Einwanderung seit Jahren eine bremsende und absolut repressive Rolle, erklärte Kopp. Dies sei auch unter der rot-grünen Bundesregierung so gewesen. »Man hat bis aufs Komma Restriktionen aus dem deutschen in das europäische Recht reinverhandelt und so zu ihrer Multiplizierung in 27 Mitgliedstaaten gesorgt. Die Schlüsselelemente der deutschen EU-Präsidentschaft in der ersten Jahreshälfte waren mehr Grenzschutz, mehr Rückübernahmeabkommen und mehr gemeinsame Abschiebungen.«

* Aus: Neues Deutschland, 2. November 2007


Unmenschliche Regeln

EU ohne Glaubwürdigkeit in Flüchtlingsfrage

Interview mit Karl Kopp, Europareferent von PRO ASYL Geschäftsführer *

Frage: Ist Griechenland das schwarze Schaf unter jenen EU-Staaten, die über eine Außengrenze verfügen?

Karl Kopp: Nein. Dennoch müssen die von uns dokumentierten schwersten Menschenrechtsverletzungen in Griechenland lückenlos aufgeklärt und vor allem unverzüglich beendet werden. In der jüngsten Vergangenheit blieben in Griechenland die Täter – Polizisten und Grenzbeamte – straffrei und die Opfer schutzlos. Schwerste Menschenrechtsverletzungen finden auch an den anderen Grenzabschnitten statt: Wir brauchen uns nur an die dramatischen Bilder vor Malta zu erinnern, wo Flüchtlinge vor den Augen der Verantwortlichen ertrunken sind. Oder denken Sie an die Todesschüsse an der marokkanischspanischen Grenze. Dort wird der Stacheldraht immer höher, die Mauer immer gewaltiger, und es entsteht ein neuer eiserner Vorhang. Ähnliches findet an der Ost-Außengrenze statt.

Also können die Vorgänge an der griechischen Küste nicht als Einzelfälle abgetan werden?

Wir stellen fest, dass in den vergangenen Jahren eine zunehmende Brutalisierung an den europäischen Außengrenzen stattgefunden hat, für die nicht nur die Staaten eine Verantwortung tragen, die über eine solche Außengrenze verfügen. Vielmehr haben beispielsweise europäische Zuständigkeitsregelungen, die sogenannte Dublin-II-Verordnung, dazu geführt, dass der Druck auf diese Länder erhöht wurde. Denn diese Zuständigkeitsregeln besagen, dass das Land, über das die Einreise geschieht, in der Regel auch für die Asylprüfung zuständig ist. Die EU-Randstaaten versuchen daher mit aller Macht, Flüchtlinge abzuwehren und in unsichere Staaten außerhalb der EU zurückzuschicken.

Demnach befinden sich Staaten wie Deutschland, Großbritannien und Frankreich nur noch in einer Beobachterrolle?

Flüchtlinge, die es beispielsweise von Griechenland aus schaffen, in ein anderes EU-Land zu gelangen, werden wieder zurückgeschickt. Die Folgen dieser Politik liegen auf der Hand: Während sich die Kernländer der EU, wie Deutschland, auf bequeme Art ihrer Verantwortung für eine humane Flüchtlingspolitik entziehen, wehren die EU-Mitglieder an den Außengrenzen vermehrt Flüchtlinge brutal ab.

Was läuft denn schief?

Wir brauchen ein gemeinsames Asylsystem und mehr Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme und keinen Verschiebebahnhof für Flüchtlinge. Dublin II ist eine technokratische und unmenschliche Regelung. An den EU-Außengrenzen werden momentan die Werte, auf die Europa einmal so stolz gewesen ist, zur Disposition gestellt. Und Europa hat sich schon lange davon verabschiedet, ein Modell für die Einhaltung der Menschenrechte zu sein. Es hat im weltweiten Diskurs völlig seine Glaubwürdigkeit in Flüchtlings- und Menschenrechtsfragen verloren.

Fragen: Holger Elias

* Aus: Neues Deutschland, 2. November 2007




PRO ASYL Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge e.V.
Presseerklärung

29. Oktober 2007

Griechenland: Flüchtlinge werden Opfer von Misshandlungen und Rechtlosigkeit

PRO ASYL und griechische Rechtsanwaltsvereinigung dokumentieren systematische Menschenrechtsverletzungen in der Ägäis - PRO ASYL fordert EU zur Reaktion auf

Bei zwei Recherchemissionen im Juli/August und im Oktober 2007 haben Vertreter von PRO ASYL und der griechischen Vereinigung der Rechtsanwälte für die Verteidigung der Menschenrechte von Flüchtlingen und Migranten die Situation an der EU-Außengrenze in der Ägäis untersucht. Der Schwerpunkt der Recherche lag beim Umgang griechischer Behörden mit Flüchtlingen vor und auf den ostägäischen Inseln Lesbos, Chios und Samos. Die Rechercheure sprachen mit mehr als 100 Flüchtlingen, Vertretern der griechischen Küstenwache und der Behörden.

Das Ergebnis der Recherche ist höchst schockierend. Systematische Menschenrechtsverletzungen finden statt:
  • Die griechische Küstenwache misshandelt systematisch neu ankommende Flüchtlinge. Sie versucht, Flüchtlingsboote zu blockieren und aus den griechischen Territorialgewässern zurückzudrängen. Dabei werden Tote in Kauf genommen. Bootsinsassen werden auf unbewohnten Inseln ausgesetzt oder auf dem offenen Meer ihrem Schicksal überlassen.
  • Die Polizei inhaftiert völkerrechtswidrig alle Flüchtlinge und Migranten bei ihrer Ankunft auf den Inseln – auch Minderjährige. Ausnahmslos und unter Bruch des Völkerrecht wird gegen alle Neuankommenden eine Abschiebungsanordnung verhängt. Die Inhaftierten werden ohne Informationen über ihre Rechte und ohne juristischen Beistand gelassen.
  • Alle drei von der Delegation besuchten Haftlager bieten unhaltbare Lebensbedingungen. Die Umstände der Inhaftierung kommen einer erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung gleich.
Die Recherche wurde durchgeführt von Rechtsanwältin Marianna Tzeferakou (Vereinigung der Rechtsanwälte für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten in Athen), Karl Kopp (Europareferent von PRO ASYL), Günter Burkhardt (Geschäftsführer) und Elias Bierdel, der im Auftrag der Stiftung PRO ASYL tätig war. PRO ASYL und die Vereinigung der Rechtsanwälte für die Verteidigung der Menschenrechte von Flüchtlingen und Migranten veröffentlichen die Dokumentation unter dem Titel „The truth may be bitter, but it must be told“ heute in Brüssel und Athen.

PRO ASYL und die griechische Rechtsanwaltsvereinigung fordern europäische Gremien vor dem Hintergrund der eklatanten Missstände und Menschenrechtsverletzungen in Griechenland zum sofortigen Handeln auf. Die EU-Kommission, das Europaparlament, der Menschenrechtskommissar des Europarats, das Antifolterkomitee des Europarats (CPT) und auch die nationalen Regierungen der EU-Staaten können nicht hinnehmen, dass das EUMitglied Griechenland Regeln des Völkerrechts und die Menschenrechte massiv verletzt. Die Praktiken griechischer Grenzbeamter und der Küstenwache stellen eine eklatante Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Genfer Flüchtlingskonvention und europäischer Richtlinien dar. Solange die systematisch erfolgenden Menschenrechtsverletzungen nicht abgestellt sind und Griechenland kein adäquates Aufnahmesystem für Flüchtlinge installiert hat, ist es unverantwortlich, Flüchtlinge im Rahmen der sog. Dublin II-Verordnung, die die Zuständigkeit für Asylverfahren innerhalb der EU regelt, nach Griechenland zu überstellen.

gez. Karl Kopp, Europareferent von PRO ASYL

gez. Günter Burkhardt, Vorstandsmitglied von ECRE

Quelle: Website von pro asyl: www.proasyl.de




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