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"Die Menschen werden quasi 'gefiltert'"

Europäische Abschiebepolitik und "Migrationsmanagement" im Spiegel der Politikwissenschaft. Gespräch mit Sonja Buckel *


Sonja Buckel ist Politikwissenschaftlerin, Juristin und Autorin des Buches "Welcome to Europe" - Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts. Sie lehrt an der Uni Kassel.


Im letzten Jahr gab es über 25000 sogenannte illegale Einreisen nach Deutschland. Im letzten Monat waren es 23000. Steht das Dublin-System der »sicheren Drittstaaten« endlich vor dem »Scheitern«.

Ja, aber aus anderen Gründen: Das Dublin-System basiert darauf, daß das Land, in dem Menschen illegalisiert die europäische Grenze übertreten, zuständig für ihr Asylverfahren ist. Das hat dazu geführt, daß jetzt die EU-Grenzstaaten völlig überlastet sind. Die Flüchtlinge kommen in den Staaten an, die besonders unter der Krisenpolitik der EU leiden. Diese sind gar nicht in der Lage, all diese Menschen aufzunehmen. Das habe ich in einem Forschungsprojekt am Beispiel Spanien untersucht. Weil nur die südeuropäischen Staaten verantwortlich waren, rüsteten sie ihre Grenzen auf. Der spanischen Regierung, damals noch unter der sozialdemokratischen PSOE, war es in den 2000ern gelungen, Abkommen mit den Ländern Nord- und Westafrikas zu schließen, mit dem Senegal, Mauretanien oder Marokko. Zum einen erklärten sich diese Staaten bereit, die über ihre Grenzen eingereisten Migranten wieder aufzunehmen, wenn sie von Spanien zurückgeschoben wurden. Zum zweiten führten sie Patrouillenfahrten vor ihren Küsten durch, oft gemeinsam mit der spanischen Guardia Civil. Außerdem wurde viel Geld in Überwachungstechnologien investiert, in Infrarotkameras, Nachtsichtgeräte, Helikopter, Flugzeuge und Datenvernetzungssysteme, mit denen Südspanien und die Kanarischen Inseln ausgestattet wurden.

Der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Manfred Schmidt, schlägt eine Art Eingangsprüfung vor dem Asylverfahren vor, die bestimmte Flüchtlinge bevorzugt. Hat das mit der »Hegemonie« zu tun, die Sie auch in Ihrem Werk »›Welcome to Europe‹« behandeln?

Unser Forschungsprojekt hat die These aufgestellt, daß es bestimmte hegemoniale politische Projekte gibt. Ein solches haben wir auch in der europäi­schen Migrationspolitik identifiziert: Das »Migrationsmanagement« hat ein politisches Projekt abgelöst, das auf reine Abschottung setzte. Dagegen ist das »Management« rein neoliberal, weil es nur auf die wirtschaftliche Nützlichkeit der Migranten abstellt: Die Menschen werden nicht nur abgewehrt, sondern quasi »gefiltert«: Die, die die EU »gebrauchen« kann, können reinkommen. Wen sie nicht gebrauchen kann, den läßt sie zur Not auch ertrinken.

Inwiefern können Sie Anwälten Tips geben, die sich für Flüchtlinge einsetzen?

Ich habe in verschiedenen Interviews und Rechtsfällen versucht herauszufinden, wann Strategien von Anwälten erfolgreich sind. Im Fall der untersuchten Rückschiebung nach Libyen war es wichtig, daß die Anwälte gut mit anderen sozialen Akteuren vernetzt sind. Im Fall des europäischen Migrationsrechts müssen Juristen zudem eine europäische Perspektive verfolgen und keine rein nationale. So gab es Anwälte in Spanien, die sich nur auf das spanische Verfassungsrecht konzentriert haben und scheiterten.

In Ihren neuen Buch sprechen Sie vom »Re-Bordering« in der EU. Was verstehen Sie darunter?

Der Begriff des »Re-Bordering« steht dafür, daß einerseits die Binnengrenzen innerhalb der EU verschwinden und andererseits neuartige entstehen, vor allem die Außengrenzen verstärkt werden. Die EU-Grenzen verlaufen inzwischen durch Afrika, weil die afrikanischen Staaten dazu gebracht wurden, die Grenzkontrollen für Europa durchzuführen. Im Innenraum zeigt wiederum die Residenzpflicht, daß die Grenzen nicht für alle Menschen abgebaut wurden. Ich erinnere auch an das Bestreben des deutschen Innenministeriums, mit dem französischen je nach Bedarf wieder Grenzkontrollen einzuführen, wenn man die Einreise von Sinti und Roma befürchtet – oder anderer Flüchtlinge über Italien, das nicht in der Lage ist, seine Grenzen zu sichern.

Wird sich mit dem erhöhten Flüchtlingsaufkommen in der EU dieser Prozeß verstärken?

Ich glaube ja, die Gefahr besteht. Ich würde aber nicht sagen, daß es einen massiven Flüchtlingsansturm auf Europa gibt. Das ist schon Teil der Ideologie. Tausende Menschen kamen schon in den ganzen letzten Jahren in Europa an. Ihre Anzahl hat sich eigentlich nicht maßgeblich erhöht – nur der interessengeleitete Diskurs, der die Aufmerksamkeit auf sie lenkt. Sie kommen auch nicht vor allem aus der EU, sondern aus Staaten wie Syrien.

Interview: Conrad Wilitzki

* Aus: junge Welt, Freitag, 25. Oktober 2013


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