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Brandstifter im Bundestag

Vor 20 Jahren besiegelte eine Mehrheit des Bundestages den "Asylkompromiß". Stichwortgeber waren militante Neonazis

Von Ulla Jelpke *

Vor 20 Jahren votierte eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS für den sogenannten Asylkompromiß. Damit waren Mord, Totschlag und Brandstiftung als Stichwortgeber für eine Parlamentsmehrheit eingeführt worden. Anlaß war ein starker Anstieg der Asylbewerberzahlen Anfang der 1990er Jahre. 1992 wurden rund 440000 Asylanträge gestellt, das entsprach wegen Mehrfach- und Zweitanträgen etwa 272000 neu eingereisten Personen. Die Rede vom Boot, das wegen der Aufnahme allzu vieler Flüchtlinge zu kentern drohe, war damals allgegenwärtig. Politiker von Union, FDP und SPD formulierten immer schärfer ihre Forderungen nach einer weitgehenden Abschaffung des Asylrechts, und »auf der Straße« randalierte der rassistische Mob. Rechtsextreme griffen immer häufiger Migranten an, Asylbewerberheime brannten. 1992 gab es fast 20 Tote als Opfer der rassistischen Gewalt. Von der Politik wurde dies lediglich als Zeichen interpretiert, daß »Handlungsbedarf« bestehe. Der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) gab das unumwunden zu: Er bezeichnete die weitgehende Abschaffung des Asylgrundrechts als »wichtig für den inneren Frieden in unserem Land«. Die SPD in Person ihres damaligen Münchner Oberbürgermeister Kronawitter äußerte Verständnis dafür, daß die Leute es nicht »ruhig hinnehmen werden, wenn Millionen Ausländer ungeordnet in unser Land fluten«.

Der »Asylkompromiß« machte aus Artikel 16 des Grundgesetzes – »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« – eine nahezu leere Hülle. Er versah die Grundrechtsgarantie mit Einschränkungen, die ihren praktischen Gebrauch weitgehend verhindern. Zentral ist dabei die Drittstaatenregel: Wer auf dem Landweg nach Deutschland ein »sicheres« Drittland passiert, dessen Asylantrag wird abgelehnt. Alle Nachbarländer wurden als sicher definiert. Bliebe noch der direkte Luftweg – um den abzuschneiden, werden Fluggesellschaften mit Strafen belegt, wenn sie Passagiere ohne gültige Papiere befördern. Wer es doch auf einen deutschen Flughafen schafft, auf den wartet dort das sogenannte Flughafenverfahren, in einem speziell abgetrennten, gefängnisähnlichen Areal.

In der Folge dieser Maßnahmen gingen die Flüchtlingszahlen drastisch zurück. Sie betragen heute nur einen Bruchteil des damaligen Wertes. Nicht beseitigt waren mit der Grundgesetzänderung die Ursachen von Fluchtbewegungen. Gregor Gysi wies in der Bundestagsdebatte 1993 darauf hin, es sei »moralisch höchst fragwürdig, vom Elend und Hunger in der sogenannten Dritten Welt zu profitieren und gleichzeitig Mauern gegen die Flüchtlinge hochzuziehen«. Und der Abgeordnete der PDS, heute Linke, fügte hinzu, es liege in der Konsequenz einer solchen Abschottungspolitik, irgendwann auch auf Flüchtlinge zu schießen.

Tatsächlich produziert die inhumane Abschottungspolitik Tote. Nicht durch Schüsse an der deutschen Grenze – die Drecksarbeit wird an den Außengrenzen der Union gemacht. Denn die Aushöhlung der Asylgarantie in Deutschland ist eingebettet in gesamt­europäische Anstrengungen, die »Festung Europa« flüchtlingsfest zu machen, Asylpolitik ist heute zum Großteil EU-Politik. Mit der Dublin-Verordnung wurde die Drittstaatenregelung zum Instrument der Zuständigkeit in der EU: Schutzsuchende müssen ihren Asylantrag in dem EU-Land stellen, das sie als erstes betreten. Das sind derzeit vor allem Griechenland und Italien. Diese Länder unterlaufen systematisch die Verfahrens- und Versorgungstandards der EU, um Flüchtlinge abzuschrecken und zu einer Weiterreise in andere EU-Staaten zu bewegen. Vor allem Griechenland ist heillos überfordert, erfährt aber von den anderen EU-Ländern kaum Unterstützung. Flüchtlinge kommen dort zunächst in chronisch überfüllte Lager mit desolaten hygienischen Verhältnissen, Asylanträge werden nur schleppend bearbeitet, Hilfe zum Lebensunterhalt gibt es praktisch nicht. Die meisten Flüchtlinge wollen Griechenland nur durchqueren, um in anderen Ländern der EU Asyl zu suchen. Nur wegen mehrfacher Intervention des Bundesverfassungsgerichtes und europäischer Gerichte sind zumindest Rücküberstellungen aus Deutschland nach Griechenland derzeit ausgesetzt. Auch im Falle Italiens und Ungarns verhindern mehr und mehr deutsche Gerichte Überstellungen nach der Dublin-Verordnung.

Statt für ein solidarisches System der Flüchtlingsaufnahme wird Geld für die zivil-militärische Aufrüstung der EU-Grenzsicherung ausgegeben, sinnbildlich steht dafür die Agentur »Frontex«. Diese Politik macht die Fluchtwege immer gefährlicher und teurer, weil sie ohne Schleuser nicht zu bewältigen sind. Immer wieder kommt es zu Todesfällen. Nach einer Zählung des italienischen Journalisten Gabriele Grande sind zwischen 1988 und 2011 17738 Menschen entlang der europäischen Außengrenzen gestorben. Ein Ende ist nicht in Sicht, so lange die europäischen Staaten an ihrer Abschottungspolitik festhalten.

* Aus: junge Welt, Samstag, 25. Mai 2013


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