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Flucht von Kirche zu Kirche

In Göttingen leben zwei Kosovo-Roma seit Juni in Gotteshäusern. Sie hoffen auf ein Bleiberecht

Von Reimar Paul, Göttingen *

Vor einem Vierteljahr flüchteten zwei Göttinger Roma aus Angst vor einer Abschiebung nach Kosovo ins Kirchenasyl. Seitdem haben sie ihren kirchlichen Zufluchtsort bereits viermal gewechselt – und hoffen weiter auf ein Bleiberecht in Deutschland.

Die Roma-Brüder Jetmir und Ramadan Kryeziu haben beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Asylfolgeantrag gestellt. Darüber sei aber noch nicht entschieden worden, berichteten sie gestern. Alle übrigen Rechtsmittel gegen die von der Stadt Göttingen verfügte Ausweisung seien inzwischen ausgeschöpft.

Die 19 und 23 Jahre alten Männer sollten am 22. Juni gemeinsam mit rund 20 weiteren Roma nach Kosovo abgeschoben werden. Ihre erkrankten Eltern und ein jüngerer Bruder hatten in letzter Minute Abschiebschutz vom Verwaltungsgericht erhalten. Am Vorabend des geplanten Abschiebefluges suchten die Brüder in der evangelischen Göttinger Christophorus-Kirche Zuflucht. Seit zwei Wochen halten sich Ramadan und Jetmir Kryeziu in Räumen der evangelisch-reformierten Gemeinde Göttingen auf.

Ausbildungsplatz zugesagt

»Wir sind also seit drei Monaten auf der Flucht«, sagte Ramadan Kryeziu. »Wir sind psychisch und physisch kaputt, und wir sitzen ziemlich in der Klemme.« »Wir sind hier eingeschlossen wie Tiere in einen Käfig«, erklärte Kryeziu. »Wir wollen raus und wir wollen frei sein.«

Die Familie Kryeziu kam vor etwa 20 Jahren nach Deutschland. Seit zehn Jahren lebt sie in Göttingen mit der Angst vor einer Abschiebung. Ihre Duldung sei zuletzt immer nur für einen oder zwei Monate und schließlich gar nicht mehr verlängert worden, sagte der evangelische Göttinger Ausländerpfarrer Peter Lahmann. Jetmir Kryeziu erklärte, er habe Kosovo nie gesehen. »Wir kennen die deutsche Politik und die deutsche Geschichte, in Kosovo kennen wir nicht mal den Namen vom Präsidenten.« Die Stadt Göttingen hatte die Ausweisung der Brüder damit begründet, sie seien in Deutschland nicht hinreichend integriert.

Unterstützer der Familie betonten gestern dagegen, Jetmir und Ramadan Kryeziu hätten den Hauptschulabschluss erlangt und Zusagen für Ausbildungsplätze. »Den beiden gebührt Hochachtung, dass sie überhaupt an Ausbildungsplätze gekommen sind«, sagte Christiane Jendral vom Unterstützerkreis. Eine von den Unterstützern bereits vorbereitete Eingabe an die Härtefallkommission des Niedersächsischen Landtags sei »derzeit sinnlos«, sagte Jendral weiter. Das Innenministerium verweigere die Befassung mit der Eingabe, weil sich die Flüchtlinge durch den Gang ins Kirchenasyl zuvor der Abschiebung entzogen hätten. »Der Sinn von Kirchenasyl wird durch so eine Haltung ad absurdum geführt«, so Jendral. Die reformierte Gemeinde hat das Kirchenasyl bis zum 5. Oktober befristet.

Härte im Ministerium

Der Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Göttingen, Friedrich Selter, kündigte aber an, die beiden Flüchtlinge würden auch danach »nicht im Stich gelassen«. Es gebe bereits Signale von anderen Gemeinden, die Brüder aufzunehmen. Die Bedingungen für Kirchenasyle in Niedersachsen seien zurzeit aber nicht gut, sagte Ausländerpfarrer Lahmann mit Blick auf die harte Haltung des Innenministeriums in Hannover. Gleichwohl gebe es zahlreiche Anfragen von Flüchtlingen, denen eine Abschiebung drohe.

Uralte Tradition

Das Kirchenasyl ist jedoch nicht rechtlich verankert. Kritiker meinen, die Kirchen wollten damit einen rechtsfreien Raum schaffen und die Souveränität des Staates infrage stellen. Kirchenvertreter argumentieren, sie wollten und könnten im Rechtsstaat gar keinen rechtsfreien Raum in Anspruch nehmen. Die Institution des Kirchenasyls existiert seit mindestens 3500 Jahren und hat religiöse Wurzeln. Verfolgte konnten etwa in Tempeln Schutz finden. Seit dem 4. Jahrhundert wurde der Asylschutz auf die christlichen Kirchen ausgedehnt. Bis zum 19. Jahrhundert gab es auch ein tatsächliches kirchliches Asylrecht.



* Aus: Neues Deutschland, 22. September 2010


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