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Nur Primeln zum Jubiläum

Jahresrückblick 2011. Heute: Genfer Flüchtlingskonvention feierte ihr 60jähriges Bestehen. EU setzt weiter auf Abschottung und Abwehr. UNHCR-Hoffnung auf Solidarität zerschlagen

Von Ulla Jelpke *

Für das Jahr 2011 rechnen Nichtregierungsorganisationen mit bis zu 2000 Menschen, die die Fahrt über das Mittelmeer in die EU nicht überlebt haben. Das ist ein trauriger Rekord. Bislang gingen Experten von jährlich rund 1000 Todesopfern der Abschottung der EU-Grenzen aus. Nach Angaben der EU-Grenzagentur Frontex lag die Zahl der festgestellten Einreisen in die EU ohne gültige Papiere mit 113000 deutlich über der des Vorjahres. 2010 waren 77000 registriert worden. Die Zählung reicht jeweils bis November. Unter den 113000 ohne Dokumente Eingereisten befinden sich allein 25000 Tunesier, die Arbeit in der EU suchten. Unter den Migranten aus Asien (Afghanistan, Pakistan, Bangladesch u.a.) und Afrika (Somalia, Eritrea, Mali, Nigeria, Elfenbeinküste u.a.) befanden sich wiederum viele Asylsuchende. Sie reisten vor allem über das Mittelmeer nach Italien oder über die Türkei nach Griechenland ein. Etwa ein Drittel der irregulären Grenzübertritte wurden dort am Grenzfluß Evros gezählt.

Die EU-Staaten reagierten auf diese Herausforderung an den humanitären Flüchtlingsschutz mit den üblichen Reflexen. Die Debatte über die weitere Harmonisierung der Asylstandards ging nur schleppend voran, selbst geringe Verbesserungen beispielsweise im Asylverfahren für Minderjährige wurden unter anderem von der Bundesregierung vehement abgelehnt. Ein Vorschlag der EU-Kommission für eine Art »Notfallmechanismus« im Fall eines großen Zustroms von Asylsuchenden in einem EU-Staat ist am Widerstand der Mitgliedsstaaten gescheitert, die am meisten vom geltenden »Dublin-System« profitieren. Dieses verpflichtet Asylbewerber, ihr Anerkennungsverfahren in dem Mitgliedsstaat zu betreiben, über den sie in die EU gelangt sind. Deshalb müssen die meisten von ihnen in Italien und Griechenland ihren Antrag stellen. In Griechenland werden Asylsuchende für ein halbes Jahr unter unsäglichen Bedingungen in Aufnahmelagern interniert, die nur einen Zweck haben: andere von der Wahl dieses Fluchtwegs abzuschrecken. Die Zustände in Italien sind um keinen Deut besser: selbst anerkannte Flüchtlinge müssen auf der Straße leben, ohne Sozialhilfe, ohne Krankenversicherungsschutz, Angriffen von Rassisten und Kriminellen ausgeliefert. Auf 3000 Plätze im staatlichen Aufnahmeprogramm für Flüchtlinge kamen 2011 ungefähr dreimal so viele Bewerber.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte im Januar die unmenschliche Behandlung von Flüchtlingen in Griechenland. Auch Belgien wurde verurteilt, weil es einen klagenden irakischen Asylsuchenden nach Griechenland zurückgeschoben hatte. Das Urteil ging in seiner Bedeutung allerdings weiter: Es verurteilte Belgien auch deshalb, weil die dortigen Behörden dem Betroffenen keinen Rechtsschutz gewährt hatten; seine Klage gegen den Abschiebungsbescheid hatte keine aufschiebende Wirkung. Diese Rechtslage gilt auch in Deutschland. Der Europäische Gerichtshof (EuGH), der das EU-Recht für alle Mitgliedsstaaten verbindlich auslegt, hat diese Rechtsprechung nun bestätigt. Am 21. Dezember urteilte er, Asylsuchende dürften nicht »blind« nach Griechenland abgeschoben werden. Es gebe keine »unwiderlegbare Vermutung«, daß sich alle EU-Staaten an die Grundrechte von Asylsuchenden hielten.

Genau auf dieser Annahme beruht aber das deutsche Asylrecht. Asylanträge werden als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt, wenn die Antragsteller zuvor in einem anderen Dublin-Staat waren. Der Rechtsschutz ist wie in Belgien eingeschränkt. In den ersten neun Monaten 2011 galt dies für 6623 von 32233 Asylanträgen (20,5 Prozent). Welche Auswirkungen das EuGH-Urteil nun für das deutsche Asylverfahren haben wird, ist noch offen.

Weiterhin warten ungefähr 6000 vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) registrierte Flüchtlinge in Lagern in Libyen und Tunesien darauf, Aufnahme in der EU zu finden. Um ihnen die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer zu ersparen, hat der UNHCR mehrfach die EU-Staaten um Aufnahme dieser von ihm registrierten Flüchtlinge gebeten. An diesem sogenannten Resettlement nimmt weltweit eine steigende Zahl von Staaten teil, über 70000 Plätze konnte der ­UNHCR so vermitteln. Davon gehen fast die Hälfte in die USA, die zwölf beteiligten EU-Staaten bieten jährlich weniger als 6000 Plätze an. Die Hoffnung des UNHCR, im Jahr des 60jährigen Bestehens der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) die EU zur geschlossenen Teilnahme am Resettlement-Verfahren mit einer festen Aufnahmequote zu bewegen, hat sich jedoch zerschlagen. Von einem System des Flüchtlingsschutzes, das auf der Solidarität gegenüber Schutzsuchenden ebenso fußt wie auf einer solidarischen Lastenteilung zwischen den Mitgliedsstaaten, ist die EU auch in diesem Jubiläumsjahr noch weit entfernt.

* Aus: junge Welt, 28. Dezember 2011


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