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"Nur mit mehr Menschenrechtsschutz erzielt man ein Mehr an Sicherheit"

amnesty international und UN-Generalsekretär Kofi Annan zum "Internationalen Tag der Menschenrechte"

Am 10. Dezember wird jährlich der "Tag der Menschenrechte" begangen - in Erinnerung an die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", die am 10. Dezember 1948 von der UN-Vollversammlung in Paris verabschiedet wurde. Mit über 300 Sprachfassungen gehört sie zu den meistübersetzten Texten der Welt. Obwohl die in der Erklärung verankerten "unveräußerlichen" Grundrechte (Würde des Menschen, Freiheits- und soziale Rechte der Menschen) universell gültig sind, bleibt eine je nach Land mehr oder weniger große Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Völkerrechtlich bindend war die Menschenrechtserklärung nicht. Das wurden erst die beiden Menschenrechtskonventionen, die 1967 verabschiedet wurden und zehn Jahre später in Kraft traten: Der Pakt über bürgerliche und politische Rechte (sog. Zivilpakt - pdf-Datei) und der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (sog. Sozialpakt - pdf-Datei).
Obwohl beiden Pakten ein Großteil der Staaten dieser Welt beigetreten ist, hat sich die Menschenrechtssituation in vielen Regionen der Welt nicht gundlegend zum Besseren gewandelt. Es gibt auch Rückschläge, wie die zahlreichen Beschränkungen von Freiheitsrechten in den entwickeltsten Staaten seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zeigen (z.B. durch den Patriot Act in den USA oder die sog. Sicherheitspakete in der BRD). Und sehr schlecht ist es um die "dritte Generation" der Menschenrechte bestellt, das seit gut zehn Jahren allgemein anerkannte "Recht auf Entwicklung".
An das Recht auf Entwicklung erinnern die Vereinten Nationen, wenn sie den Menschenrechtstag 2006 unter das Motto der Armutsbekämpfung stellen.
Davon zeugt der erste Beitrag auf dieser Seite: die Erklärung des noch bis zum Jahresende 2006 amtierenden UN-Generalsekretärs Kofi Annan.
Es folgen eine Presseerklärung von amnesty international sowie ein Interview mit ihrer Generalsekretärin in Deutschland, Barbara Lochbihler.



"Wir müssen die Armut aus Verpflichtung und nicht aus Mitleid bekämpfen"

Erklärung zum Tag der Menschenrechte, 10. Dezember 2006

Von Kofi Annan, UNO-Generalsekretär


New York/Vereinte Nationen – Die Kampagne, um Armut Geschichte werden zu lassen, ist eine zentrale moralische Herausforderung unserer Zeit. Die Menschenrechte durchzusetzen kann einen Weg dahin aufzeigen.

Grundlegende Menschenrechte – das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, auf Nahrung und auf grundlegende Gesundheitsfürsorge, auf Möglichkeiten zur Bildung, auf angemessene Arbeit oder auf Freiheit von Diskriminierung – sind exakt das, was die Armen der Welt benötigen. Allerdings sind es gerade sie, die auf Grund ihrer geschwächten Position am wenigsten in der Lage sind, diese „universellen“ Rechte zu erhalten oder zu verteidigen. Als Folge daraus sind die Menschenrechte überall dort und immer dann in Gefahr, wenn ein Mann, eine Frau oder ein Kind in extremer Armut leben.

Wenn wir die Menschenrechte ernst nehmen, müssen wir zeigen, dass wir ihren Verlust ernst nehmen. Wie durch das Motto des diesjährigen Menschenrechtstags nahe gelegt, müssen wir dem Aufruf zur Bekämpfung der Armut „aus Verpflichtung, nicht aus Mitleid“ folgen.

Jeder von uns sollte verstehen, dass die Rechte, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegt sind, wenig Wert für Millionen Menschen auf der Welt haben, die von Krankheit und Hunger geplagt werden, solange sie keine effektive Hilfe erhalten. Wir alle müssen erkennen, dass wo immer ganze Familien mit weniger als einem Dollar pro Tag eine Existenz fristen, oder Kinder mangels elementarer lebensrettender Fürsorge sterben, die Erklärung bestenfalls heuchlerisch wirkt.

Armut vom Standpunkt der Menschenrechte aus zu betrachten, verstärkt unseren moralischen Imperativ zum Handeln; bringt aber auch Vorteile. Da die Menschenrechtsnormen einen größeren Einfluss des Individuums hervorheben, kann ein Rechtsansatz helfen, den Einfluss der Armen zu vergrößern. Er kann Bürgern aller Schichten helfen, das Wissen und die Stellung zu erlangen, die sie benötigen, um eine wirkliche Rolle bei Entscheidungen zu spielen, die ihr Leben betreffen. Er kann die Aufmerksamkeit auf einen soliden und nachhaltigen Prozess lenken, der auf einen langfristigen Fortschritt hoffen läßt. Auch kann er uns anregen, unsere Erfolge nicht nur am Einkommensniveau zu messen, sondern auch an der Freiheit, die die Menschen haben, um ein erfülltes und angenehmes Leben zu führen.

Heute gehen die Bereiche Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechte Hand in Hand. In keinem kann es ohne die anderen zu Fortschritten kommen. Tatsächlich untergräbt jeder, der nachdrücklich über Menschenrechte spricht, aber nichts für menschliche Sicherheit und Entwicklung tut – oder umgekehrt – sowohl seine Glaubwürdigkeit als auch seinen Beweggrund. Sprechen wir mit einer Stimme über alle drei Bereiche und arbeiten wir daran, sicherzustellen, dass die Freiheit von Mangel, die Freiheit von Furcht und die Freiheit, in Würde zu leben, eine wirkliche Bedeutung für die Bedürftigen hat.

Quelle: UNRIC/169, 10. Dezember 2006; www.unric.org


Pressemitteilung

EU muss Führung in der internationalen Menschenrechtspolitik übernehmen

ai Deutschland startet "EinSatz"-Kampagne:
Jeder einzelne kann sich für Einzelfälle einsetzen


Berlin, 8. Dezember 2006 – Die Europäische Union muss Menschenrechtsverletzungen zur Priorität ihrer Außenpolitik machen. Gleichzeitig muss sie Menschenrechtsverletzungen in ihrem Innern thematisieren und ahnden. "Nur so kann sie gegenüber Drittstaaten glaubwürdig auftreten und die vakante Führungsrolle in der internationalen Menschenrechtspolitik einnehmen", sagte Barbara Lochbihler, Generalsekretärin der deutschen Sektion von amnesty international (ai) anlässlich des Internationalen Tages der Menschenrechte am 10. Dezember.

Es ist überfällig, dass die EU ihre Verwicklung in die menschenrechtswidrigen Geheimflüge der CIA aufklärt und die laufenden Ermittlungen des Europäischen Parlaments und des Europarats aktiver unterstützt als bisher. "Auch die deutsche Regierung sollte endlich klären, was deutsche Behörden wann von Verhaftung, Verschleppung und Misshandlung in den Fällen El Masri, Zammar und Kurnaz wussten", sagte Lochbihler. "Auch erwarten wir eine klare Ansage, was die Regierung tut, um künftig CIA-Flüge in die Folter zu verhindern."

ai appelliert an Deutschland, während seiner EU-Ratspräsidentschaft dafür zu sorgen, dass die EU das absolute Folterverbot rigoros beachtet und in ihren Außenbeziehungen durchsetzt. "Wenn daher Innenminister Schäuble und Verfassungsschutzpräsident Fromm sich dafür aussprechen, erfolterte Informationen zu nutzen, haben sie die Tragweite und Ernsthaftigkeit des Folterverbots nicht verstanden", sagte Lochbihler.

Zur Zeit erarbeit die EU unter deutscher Federführung eine neue Strategie zu Zentralasien. "Eine gute Gelegenheit, mit den EU-Menschenrechtsleitlinien ernst zu machen", sagte Lochbihler. In der ganzen Region sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte mehr als ungenügend verwirklicht. Folter ist weit verbreitet. Die Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt. "Wir fordern die Bundesregierung auf, die Menschenrechte in der Zentralasienstrategie nicht sicherheits- oder energiepolitischen Erwägungen unterzuordnen."

Das zentralasiatische Turkmenistan ist ein Schwerpunkt der Kampagne "EinSatz für die Menschenrechte“, die ai Deutschland am Tag der Menschenrechte startet. Die Kampagne rückt individuelle Schicksale ins Licht der Öffentlichkeit und bietet Einsatzmöglichkeiten für jeden. So können sich Bürger beispielsweise für die turkmenischen Journalisten Annakurban Amanklitschew und Sapardurdi Chadschijew engagieren. Mit ihrer Kollegin Ogulsapar Muradowa wurden sie nach einem nur zweistündigen Prozess im August zu sieben und sechs Jahren Haft verurteilt. Frau Muradowa überlebte ihre Verurteilung nur wenige Wochen. Sie starb im September 2006 im Gefängnis, möglicherweise an den Folgen von Folter.

Quelle: Website von ai: www2.amnesty.de


Krieg ist eine politische Bankrotterklärung

Barbara Lochbihler über Hürden in der Menschenrechtspolitik

ND: Frau Lochbihler, wie beeinflussen derzeitige politische Entwicklungen die Umsetzung von Menschenrechten?

Lochbihler: Eine der Entwicklungen, die wir beobachten, ist, dass sich die Art von Kriegen weltweit verändert. Statt staatenübergreifender Kriege zerfallen Staaten häufig in sich selbst. In solch bürgerkriegsähnlichen Situationen kommt es zu grausamen Menschenrechtsverletzungen, denken Sie beispielsweise an die Situation in Darfur oder in Kongo. Wenn in ganzen Regionen der Staat de facto keine Macht mehr ausübt, wird Menschenrechtsschutz, der ja von Regierungen ausgehen muss, problematisch.

Was muss getan werden, um dem entgegenzusteuern?

Die Herausforderung besteht darin, Lösungen zu finden, bevor es zum Zerfall kommt. Man muss rechtzeitig deeskalierend wirken und Staaten beim Aufbau stabiler Regierungen unterstützen. Daneben ist es wichtig, das Wissen um Menschenrechte in der Bevölkerung zu fördern sowie ihren Schutz auszubauen. Es wäre politisch falsch, nur darauf zu fokussieren, was man tun kann, wenn es zu spät ist und ein Krieg ausbricht. Leider ist das noch zu oft der Fall. Aber jeder Krieg ist eine Bankrotterklärung der Politik, Menschenrechtspolitik dagegen will Frieden sichern.

Mit welchen weiteren Herausforderungen sind Sie konfrontiert?

Nach den Attentaten vom 11. September 2001 und der Ausrufung des »Kriegs gegen den Terrorismus« argumentieren viele Regierungen, dass sie durch Einschränkung der Freiheit des Einzelnen mehr Sicherheit für alle herstellen könnten. Diese Rechnung ist falsch: Nur mit mehr Menschenrechtsschutz erzielt man ein Mehr an Sicherheit. Die USA widersetzen sich den Vereinten Nationen und wollen gegen festgelegte Menschenrechtsnormen verstoßen – verbotene Verhörmethoden etwa, die zum Teil schlicht Folter sind. Die USA haben mit Geheimgefängnissen wie Guantanamo rechtsfreie Räume geschaffen. Auch andere Staaten, etwa Großbritannien, halten solche Einschränkungen für legitim. Das sind große Rückschritte, gegen die wir uns wehren.

Wie gehen Sie dabei vor?

Wir gehen in die internationale Debatte, dokumentieren und informieren die Öffentlichkeit über Menschenrechtsverletzungen im Anti-Terror-Kampf, auch wenn mächtige Regierungen diese Kritik nicht gern hören wollen. Im Jahr 2005 konnten wir damit einiges erreichen: Mehrere europäische Regierungen und selbst führende Politiker in den USA selbst begannen, Missstände im Anti-Terror-Kampf zu kritisieren. Andererseits haben sich die europäischen Regierungen, einschließlich der deutschen, bisher noch nicht geäußert, was sie tun wollen, um künftig Verschleppungsflüge über deutsches oder europäisches Territorium zu verhindern. Dieses Schweigen kritisieren wir.

Was plant Amnesty International zum Tag der Menschenrechte?

In Deutschland thematisieren wir mit Blick auf die anstehende EU-Ratspräsidentschaft Menschenrechtsschutz innerhalb der EU, aber auch in Ländern, mit denen Außenbeziehungen bestehen, wie Russland, China oder die Staaten Zentralasiens. Wir wollen, dass die EU überprüft, welche Maßnahmen zum Menschenrechtsschutz dort bereits ergriffen wurden und wie diese umgesetzt wurden. Deutschland hat Zentralasien zum regionalen Schwerpunkt erklärt und einen Menschenrechtsdialog u. a. mit Usbekistan angekündigt. Wir erwarten, dass bei diesem Dialog konkrete Veränderungen eingefordert werden.
Beim Schutz der Menschenrechte innerhalb der EU thematisieren wir etwa die Asyl- und Flüchtlingspolitik, Rassismus und andere Formen von Diskriminierung sowie exzessive Polizeigewalt.

* Barbara Lochbihler ist Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International. Mit ihr sprach Ina Beyer.

Aus: Neues Deutschland, 9. Dezember 2006



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