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Menschenrechtspolitik "soft"?

Das Deutsche Institut für Menschenrechte im Spannungsfeld von Politik und Zivilgesellschaft

Von Percy MacLean*

I. Die Menschenrechtslage in Deutschland als Thema der Politik

Am 1. August 2002 erschienen in der bundesdeutschen Presse aufgrund einer epd-Meldung zahlreiche Artikel mit etwa folgendem Tenor:
"Der neue Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte hat die deutsche Abschiebepraxis verurteilt und eine radikale Verkürzung der Haftzeiten gefordert. Ausländer, die abgeschoben werden sollen, könnten bislang bis zu anderthalb Jahre festgehalten werden. Diese Frist müsse auf höchstens drei Monate reduziert werden. Zur Begründung erklärte der Verwaltungsjurist, die Abschiebehaft dürfe nicht zu einer 'indirekten Strafhaft' oder Beugehaft werden. Es handele sich bei der 'persönlichen Freiheit' eines Menschen um eines der wichtigsten Menschenrechte überhaupt. Zudem habe das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass Ausländer, die innerhalb von drei bis sechs Wochen nicht abgeschoben werden, Anspruch auf Duldung in Deutschland haben. Der Direktor kündigte an, sich im Rahmen seiner Aufgaben verstärkt diesem Thema zuzuwenden und für Problembewusstsein bei den zuständigen Behörden zu sorgen. Dazu gehöre auch 'Menschenrechtserziehung' für Polizisten, Richter und Rechtsanwälte. Außerdem wolle er das gesamte deutsche Ausländer- und Flüchtlingsrecht auf den Prüfstand stellen." (taz)

Derart deutliche Worte, die aus einem längeren Interview herausgegriffen worden waren, erschreckten Teile des politischen Berlin, insbesondere die Spitze des Bundesinnenministeriums, das die Menschenrechte in Deutschland a priori nicht für gefährdet hält und deshalb ohnehin keine Notwendigkeit für die Einrichtung eines solchen Instituts gesehen hatte. Es wird sogar berichtet, der Innenminister persönlich habe sofort versucht, dem Institut die Mittel sperren zu lassen. Ähnlich rauh pflegt er mit dem Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages umzugehen, dem er ebenfalls vorwirft, sich nicht nur mit internationalen Themen wie Afghanistan und Tschetschenien zu befassen, sondern beispielsweise auch mit der deutschen Rolle bei der Formulierung einer gemeinsamen EU-Flüchtlingspolitik. Zur Anhörung über derartige Themen verweigert er schlicht sein Erscheinen im Parlament (vgl. SPIEGEL ONLINE 14.2.03). Bezeichnend ist auch, dass die gegenwärtige Bundesregierung zwar im Koalitionsvertrag von 2002 der weltweiten Durchsetzung von Menschenrechten zentrale Bedeutung zuweist, sie aber ursprünglich jedenfalls nicht als Kernaufgabe der Politik im Innern formuliert hat. So wird zwar inzwischen regelmäßig ein "Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen" veröffentlicht, aber es fehlt nach wie vor eine kontinuierliche Dokumentation der Menschenrechtslage in Deutschland.

Dieser bisherigen Verdrängungspolitik der Bundesregierung steht ein ausgeprägtes Engagement der Zivilgesellschaft für die Verbesserung der Menschenrechtslage in Deutschland gegenüber: Insbesondere das FORUM MENSCHENRECHTE, zu dem sich bislang 44 Organisationen mit unterschiedlichem Hintergrund zusammengeschlossen haben (vgl. http://www.forum-menschenrechte.de), fordert seit Jahren einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen, wie dies auf der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz von 1993 beschlossen wurde. Ein Ergebnis ihres ständigen Drängens ist, dass der 6. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung neben den auswärtigen Themen auch erstmals "andere Politikbereiche" einbezieht und damit verklausuliert die Menschenrechtslage in Deutschland anspricht. Am 18. März 2003 hat nun - und dies ist ein Paradigmenwechsel! - die Staatsministerin im Auswärtigen Amt ausdrücklich angekündigt, die Bundesregierung werde in den 7. Menschenrechtsbericht tatsächlich den lange geforderten nationalen Aktionsplan aufnehmen:
"Gerade weil die Bundesregierung einen umfassenden menschenrechtlichen Ansatz verfolgt, gehört dazu auch der Einsatz für Freiheits- und Bürgerrechte im eigenen Land und in Europa. Das will ich hier sehr deutlich sagen. Wir sind nur dann glaubwürdig mit diesem umfassenden Ansatz, wenn wir auch kritisch fragen: Wie halten wir es bei uns mit den Menschenrechten? Wie gehen wir hier mit Flüchtlingen und Minderheiten um?"

Bleibt nur zu hoffen, dass in den Aktionsplan neben den Freiheits- und Bürgerrechten auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte (z.B. auf Arbeit und Bildung) mit aufgenommen werden, die zwar schon im Sozialpakt von 1966 von der Völkergemeinschaft festgeschrieben sind, aber eigentlich erst seit dem Ende des Kalten Krieges auch von den westlichen Staaten als gleichwertig mit den Freiheitsrechten anerkannt werden.

II. Der Standort des Deutschen Instituts für Menschenrechte

Wenn also inzwischen Regierung und Zivilgesellschaft bei der Behandlung innerdeutscher Menschenrechtsthemen aufeinander zugehen, sollte es eine der Hauptaufgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte sein, diesen Prozess zu unterstützen. Mit der Gründung des Instituts am 8. März 2001 hat Deutschland eine Forderung der Vereinten Nationen und des Europarats umgesetzt, die schon vor Jahren zur Einrichtung unabhängiger nationaler Menschenrechtsinstitute aufgerufen hatten (vgl. UN-Resolution 48/134 vom 20. Dezember 1993 nebst "Pariser Prinzipien" und Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates vom 30. September 1997, Nr. R [97] 14, Nr. R [97] 11). Ziel des Instituts ist es ganz allgemein, im Verbund mit den zuständigen Nichtregierungsorganisationen und staatlichen Stellen zur Prävention von Menschenrechtsverletzungen sowie zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte beizutragen, und zwar durch Information und Dokumentation bezüglich menschenrechtsrelevanter Themen und Materialien; anwendungsbezogene Forschung zur Vorbeugung, Vermeidung und Bewältigung menschenrechtsverletzender Situationen; Politikberatung, und zwar eigeninitiativ oder auf Anforderung; menschenrechtsbezogene Bildungsarbeit im Inland; internationale Zusammenarbeit mit anderen vergleichbaren Einrichtungen; Förderung von Dialog und Zusammenarbeit in Deutschland zur Stärkung der Menschenrechtsarbeit von Nichtregierungsorganisationen (vgl. zu den Aufgaben im Einzelnen: www.institut-fuer-menschenrechte.de; sowie den einstimmigen Bundestags-Beschluss vom 7. Dezember 2000, BT-Drucksache 14/4801).

Trotz seiner somit rein beratenden und koordinierenden Funktion hat das Institut durchaus die Möglichkeit, aufgrund seiner Sachkunde wichtige Impulse an die politischen Entscheidungsträger zu geben und die Anliegen der Zivilgesellschaft zu bündeln und zu verstärken. Nach den Vorgaben der Vereinten Nationen für nationale Menschenrechtsinstitutionen hat dabei naturgemäß der Tätigkeitsschwerpunkt auf der Menschenrechtslage im Inland zu liegen. Abgesehen davon, dass die geringen Ressourcen durch unbeschränkt weltweite Aktivitäten nur wenig effektiv eingesetzt werden könnten, besteht zu den Inlandsthemen auch ein direkterer Zugang und eine primäre Verantwortung, zumal auch nicht davon auszugehen ist, dass andere nationale Menschenrechtsinstitutionen sich mit Deutschland nennenswert befassen werden. Verfolgte Christen im Sudan und Frauenrechte in Tadschikistan mögen somit zwar Gegenstand der deutschen Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit und damit auch Teil der Politikberatung durch das Institut sein, aber nur dann, wenn zumindest gleichzeitig die "Hausaufgaben" im Inland erledigt worden sind und werden. So mahnte das Forum Menschenrechte durch Beschluss vom 25. Januar 2003 für das Institut zu Recht unmissverständlich als "Aufgaben besonderer Priorität" die folgenden an:
  • Umsetzung der international eingegangenen und aus dem Grundgesetz abzuleitenden menschenrechtlichen Verpflichtungen in Deutschland;
  • Schutz von Flüchtlingen in der Bundesrepublik Deutschland u.a. durch die Umsetzung der menschenrechtlichen Normen im Bereich des internationalen Flüchtlingsschutzes;
  • Operationalisierung und rechtliche Einklagbarkeit, sowie die Umsetzung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte in Deutschland.
Gerade wenn sich das Institut diesen ureigenen Aufgaben im Inland zuwendet, sind jedoch die Konflikte mit der Politik vorprogrammiert (s.o.). Das Partnerinstitut in Dänemark (www.humanrights.dk) beispielsweise, das für Deutschland als Vorbild diente, war im vergangenen Jahr wegen seines Einsatzes für politisch Verfolgte von der konservativen Regierung beinahe geschlossen worden und konnte nur durch starken internationalen Beistand gerettet werden. Für eine effektive Aufgabenerfüllung ist also die politische Unabhängigkeit (trotz staatlicher Grundfinanzierung) essentiell. Bei Formulierung der Statuten ist den Gründungsvätern und -müttern jedoch ein verhängnisvoller Strukturfehler unterlaufen: Zwar können die finanzierenden Bundesministerien (für Justiz, Auswärtiges und Entwicklungshilfe) über ihre Vertreter im Kuratorium mangels Stimmrecht keinen direkten Einfluss ausüben. Aber zum einen hat die Regierung durch die Einbindung des Instituts-Haushaltes in den der Ministerien die faktische Macht, das Institut durch Verweigerung von Stellen personell auszutrocknen, und zum andern ist die Leitung des Instituts, die die eigentliche Arbeit zu leisten hat, in keiner Weise unabhängig, sondern dem jeweiligen Mehrheitswillen eines Kuratoriums ausgeliefert, in dem äußerst gegensätzliche politische Positionen vertreten sind. Denn im Gegensatz etwa zum dänischen Modell, nach dem der Direktor für die Zeit seiner Wahlperiode einen Beamtenstatus hat, kann der Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte vom Kuratorium jederzeit und ohne Angabe von Gründen mit einfacher Mehrheit der Anwesenden abberufen werden - und ist damit strukturell an einer mutigen und aneckenden Menschenrechtspolitik gehindert; muss er doch ständig darauf bedacht sein, dass die Vertreter möglichst aller politischen Richtungen sich gleichermaßen von ihm vertreten fühlen.

III. Zwischenbilanz

Hat es das Institut gleichwohl geschafft, in den mehr als zwei Jahren seit seiner Gründung einige der "Hausaufgaben" zu erledigen? Dies muss leider im Wesentlichen verneint werden. Zwar gab es ursprünglich positive Ansätze. So wurde beispielsweise vor mehr als einem Jahr eine Studie in Auftrag gegeben zur Umsetzung der internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands anhand ausgewählter wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte; veröffentlicht wurde sie bis heute nicht. Der Zustand der Altenpflege sollte Teil dieser Studie sein, nachdem der für den Sozialpakt zuständige UN-Ausschuss menschenunwürdige (inhumane) Bedingungen in deutschen Pflegeheimen beanstandet hatte, die auf strukturelle Mängel zurückzuführen seien. Verschiedene Kuratoriumsmitglieder sehen in diesem Missstand jedoch kein Thema für das Menschenrechtsinstitut, obwohl es in seinem Aufbau- und Entwicklungsplan verankert ist. Man begründet dies mit dem formalen Verweis auf die Geschäftsverteilung des Bundestages, der das Thema dem Ausschuss für Senioren und nicht dem Menschenrechtsausschuss zugewiesen hat. Auch der Einsatz für die Menschenwürde Schwerstkranker und Sterbender wurde als menschenrechtlich irrelevant eingestuft und als "emotional" abgetan. Eine weitere Studie sollte speziell das Menschenrecht auf Arbeit behandeln, und zwar die internationalen und nationalen Rechtsgrundlagen sowie die praktische Umsetzung in Deutschland. Letzterer Aspekt wurde am 9. Januar 2003 vom Kuratorium ersatzlos gestrichen, ebenso wie ein besonders wesentliches Unterprojekt: die auf zwei Monate angelegte Dokumentation des Projektes OPE (Objectif Plein Emploi) aus Luxemburg. OPE ist ein Netz von Initiativen zugunsten lokaler Entwicklung und Beschäftigung, das im Jahr 2000 für 654 Personen Beschäftigung bot (= 15 % der Arbeitslosen in Luxemburg), und versteht sich als Agentur zur Umsetzung des Rechts auf Arbeit. Zu diesem Zweck entwickelt es in enger Kooperation mit Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft öffentliche Dienstleistungen zur Förderung des Gemeinwohls (handwerkliche Nachbarschaftsdienste, Betreuung von Kleinkindern, Hilfe für ältere Mitbürger u.ä.), die vom Privatsektor nicht gedeckt sind und nach den vorliegenden Forschungsergebnissen aufgrund einer Kosten-Nutzen-Analyse keine höheren finanziellen Aufwendungen erfordern als die Finanzierung der Untätigkeit. Dieses Modell könnte unter speziell menschenrechtlichen Gesichtpunkten vernetzende Impulse einerseits für die bislang Arbeitslosen und andererseits für die Empfänger dringend benötigter sozialer Dienstleistungen in Deutschland bieten und war deshalb von der Institutsleitung als besonders wesentlich eingestuft worden, um eine Grundlage für die Beratung der deutschen Politik zu gewinnen.

Die Arbeit des Direktors - so ein den Grünen nahestehendes Kuratoriumsmitglied nach dem Stop des Projektes später gegenüber der Presse - habe sich zu stark auf die Verwirklichung einzelner Rechte in Deutschland konzentriert; das Kuratorium lege demgegenüber mehr Wert "auf die Beobachtung und Begleitung der internationalen Debatte über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte" und deren "Verankerung im Völkerrecht". Diese These deckt sich mit der Kritik aus dem konservativen Lager des Kuratoriums, aus dem heraus allein wegen einer Interview-Äußerung ("Wir werden verdeutlichen, dass die Menschenrechte auch in Deutschland nicht immer beachtet werden") schon mit Schreiben vom 24.10.02 befürchtet worden war, dem Direktor gehe es "zunächst um Innenpolitik", was den Kurator "sehr befremdet" habe. So verwundert es kaum, dass die rechtliche Situation der Flüchtlinge in Deutschland, deren Präsentation durch die Institutsleitung bei einer internationalen Konferenz in Dublin vom europäischen Menschenrechtskommissar besonders anerkannt worden war, im Institut kein Thema mehr ist und auch die Problematik der Abschiebungshaft, die noch im November Gegenstand eines Kolloquiums war, derzeit nicht weiter behandelt wird. Anfang Juni meldete die Presse, dass Deutschland weiterhin einen Kompromiss in der europäischen Flüchtlingspolitik verhindere - eine Peinlichkeit ohnegleichen, die aber dem Deutschen Institut für Menschenrechte keine Aktivität wert ist. Stattdessen organisiert man mit hohem finanziellen Aufwand internationale Konferenzen und wissenschaftliche "Fachtagungen", die zwar auch ihren Stellenwert haben, aber eben wenig Konkretes bewirken, also niemandem wehtun und deshalb von der problematischen schwarz-grünen Mehrheit im Kuratorium mit Befriedigung zur Kenntnis genommen werden...

IV. Beispiel "Folterdebatte"

Besonders deutlich wird die lähmende Struktur des Instituts an seiner ersten ausführlichen "politischen" Stellungnahme zu einem innenpolitischen Thema: Im Februar diesen Jahres tobte in Deutschland die sogenannte Folterdebatte - eine unsägliche und menschenrechtlich höchst gefährliche Diskussion über die Frage, ob in Einzelfällen die Folter erlaubt sei oder werden solle, um etwa Menschenleben zu retten. In geradezu erschreckender Ahnungslosigkeit wurde von mehreren Politikern, aber auch von Juristen und sogar vereinzelt von Völkerrechtlern und Philosophen eine der ganz großen Errungenschaften in der Verbesserung des internationalen Menschenrechtsschutzes, nämlich das absolute Folterverbot, mit Stammtischthesen in Frage gestellt (vergleichbar mit der regelmäßig wiederkehrenden Forderung nach Einführung der Todesstrafe). Dazu hätte es einer sofortigen Klarstellung des Deutschen Instituts für Menschenrechte bedurft, das schon seit entsprechenden Äußerungen führender US-Juristen zum Anti-Terror-Kampf nach dem 11. September 2001 die entscheidenden Unterlagen und Argumente zusammengestellt hatte (man erinnere sich z. B. an Jonathan Alter in "Newsweek" vom 5.11.01: "Time to think about Torture") . In wenigen Sätzen lässt sich aufzeigen, weshalb das Folterverbot nach internationalem und nationalem Recht zu einem absoluten erklärt wurde, das durch keinen noch so großen Notstand in Frage gestellt werden darf: Denn es geht um die unantastbare Menschenwürde auch und gerade dessen, der kein "Sympathieträger" ist; und wenn die westlichen Demokratien anfangen zu foltern, dann verletzen sie - wie Heiner Geißler in seinem Buch über die Intoleranz so zutreffend ausgeführt hat - nicht nur selbst die elementaren Sittengesetze und das eigene Selbstverständnis, sondern dann haben sie auch noch das Recht verwirkt, die Verbrechen aller Despoten und Tyrannen dieser Erde zu brandmarken und zu verfolgen. Denn jede noch so gut gemeinte Ausnahme vom Folterverbot würde uns unvermeidlich in den Kreis der Folterknechte dieser Welt einreihen; berufen sie alle sich doch seit jeher auf solche "extremen Ausnahmefälle", in denen es vorgeblich um die Existenz des Staates oder das Leben Dritter geht, tatsächlich aber wird unter Missbrauch dieses "Rechtfertigungsgrundes" aus völlig minderwertigen Motiven heraus gequält und gedemütigt.

Doch erst mit mehrmonatiger Verspätung stellte das Institut Ende Mai ein sechsseitiges "Policy Paper" unter dem Datum des 28. April ins Internet. Der Titel lautet nicht etwa "Die Menschenwürde ist unantastbar" mit Untertitel: "Zur aktuellen 'Folterdebatte' in Deutschland"; sondern dieser aussagelose Untertitel ist der eigentliche Titel, leider auch noch ohne Anführungszeichen um den peinlichen Begriff der "Folterdebatte", die damit schon fast in den Stand der Seriosität gehoben wird. Im Inhalt des Papers findet sich dann vermutlich auch wegen der ungewöhnlichen Zahl von drei gleichberechtigt auftretenden Autoren eine Reihe ungeordnet zusammengestellter Zitate aus internationalen Abkommen mit dem Hinweis, das "Verbot der Folter" (und nicht etwa die von ihm zu schützende Menschenwürde) sei eines der zentralen Menschenrechte, es gelte absolut und dulde deshalb keine Ausnahme (Zirkelschluss). Vorher und nachher wird immer wieder auf die zur Rechtfertigung der Folter herangezogene Abwägungsproblematik (Rettung von Menschenleben) eingegangen, ohne sie wirklich stringent zu entkräften. Insbesondere dass "Folter ein Inbegriff staatlicher Willkür" sei, überzeugt gerade im bürokratisch perfekten Deutschland wenig. Erinnert sei etwa an die Besprechung im Reichsjustizministerium vom 8. Juni 1937 zum Betreff "Misshandlung politischer Häftlinge", in der außerordentlich präzise Verfahrensvorschriften aufgestellt wurden:
"Es herrschte Übereinstimmung, dass derartige Vernehmungen nur in solchen Fällen vorgenommen werden dürfen, in denen der Sachverhalt unmittelbare Staatsinteressen berührt. Als solche kommen in erster Linie Hoch- und Landesverrat in Betracht... Grundsätzlich sind bei 'verschärften Vernehmungen' nur Stockhiebe auf das Gesäß, und zwar bis zu 25 Stück zulässig. Die Zahl wird von der Gestapo vorher bestimmt... Vom 10. Stockhieb an muss ein Arzt zugegen sein. Es soll ein 'Einheitsstock' bestimmt werden, um jede Willkür auszuschalten." (Hauptstaatsarchiv Düsseldorf; zitiert nach "verdikt" 1.03, S. 11).

Ein regelrechter Argumentationsnotstand findet sich sodann beim Vergleich mit dem "finalen Todesschuss": Anstatt darauf zu verweisen, dass auch dieser gesetzlich gar nicht hätte geregelt werden sollen, um nicht die Schwelle von einer extremen Nothilfesituation auf eine risikofreie Legalisierung zu senken, wird von einem "Wertungswiderspruch" zum Folterverbot gesprochen (und damit dieses letztlich wieder in Frage gestellt). Es gibt jedoch keinen Wertungswiderspruch: Sowohl das Töten als auch das Foltern durch den Staat sind gleichermaßen unzulässig, und alle Akteure müssen sich bewusst sein, dass sie sich in jedem Fall strafrechtlichen Untersuchungen zu stellen haben; ob es dann bei Prüfung der individuellen Schuld immer zu einer Verurteilung kommt, ist freilich Sache der Gerichte. Aber es wäre geradezu töricht - wie es allerdings in der "Debatte" vom Februar gelegentlich angeklungen ist -, das Töten für eine geringere Menschenrechtsverletzung zu erklären als die Folter: Das Leben ist und bleibt unser höchstes Gut. Dass das Töten in Nothilfesituationen gleichwohl allgemein weitgehend hingenommen zu werden scheint, liegt wohl daran, dass derart extreme Konfliktfälle (z.B. bei Geiselnahmen) tatsächlich gelegentlich vorkommen, während jener "Musterfall", dass man absolut sicher sein kann, ausschließlich durch Androhung oder Einsatz körperlicher Gewalt ein konkret bedrohtes Menschenleben zu retten, in der Praxis noch nie eine Rolle gespielt haben dürfte. Auch in dem Frankfurter Fall gab es keinen sicheren Anhaltspunkt dafür, dass das Kind, sollte es überhaupt noch leben, schon während der Dauer der Vernehmungen in unmittelbarer Lebensgefahr schweben würde und diese zudem nicht durch andere Aufklärungsmethoden etwa unter Einbeziehung von Eltern und Psychologen hätte abgewandt werden können. Um so größer wäre die Gefahr eines ausufernden Missbrauchs; denn selbst die uns so vertrauten rechtlichen Institute Notwehr bzw. Nothilfe werden oft nur als Vorwand genommen, um tatsächlich begangene Morde im Nachhinein zu rechtfertigen und die Täter einer Strafverfolgung zu entziehen (man denke etwa an die Notwehrexzesse nach Ende der Kampfhandlungen im Irak-Krieg gegenüber Journalisten und harmlosen Zivilisten); und auch die Todesstrafe gehört zu den schwersten Menschenrechtsverletztungen, ganz zu schweigen von gezielten Tötungen vermeintlicher Terroristen ohne jedes Gerichtsverfahren. Der Unterschied zum Folterverbot besteht lediglich darin, dass sich die Weltgemeinschaft aufgrund unterschiedlicher Traditionen und Machtinteressen noch immer nicht allgemein auf ein absolutes Tötungsverbot einigen konnte. Darin liegt nach menschenrechtlichen Kriterien eine abzulehnende Doppelmoral, aber kein (womöglich die Absolutheit des Folterverbots in Frage stellender) Wertungswiderspruch. Doch wenn man, wie die Autoren des Papiers, auch im konservativen Flügel des Kuratoriums nicht anecken darf, ist eine profilierte Position einfach nicht mehr zu vertreten: muss man doch durchaus damit rechnen, dass in diesem Kreis die gesetzliche Regelung von finalem Todesschuss und auch von Folter in begrenzten Ausnahmefällen durchaus als unproblematisch eingestuft werden.

V. Menschenrechtserziehung

Mit verspäteten und zudem halbherzig-unpräzisen Papieren dieser Art wird man also die Menschenrechtsdebatte in Deutschland kaum voranbringen. Bleibt deshalb nur zu hoffen, dass als konkretes deutschlandbezogenes und trotzdem parteiübergreifend konsensfähiges Projekt wenigstens die so wichtige Thematik der Menschenrechtserziehung vom Institut nach ersten Ansätzen kraftvoll weiter vorangetrieben wird. Denn nach dem Ergebnis einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Usuma, die die Universität Leipzig zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 2002 vorstellte, kennen nur wenige Deutsche überhaupt die Menschenrechte, fast jeder Fünfte konnte keinen einzigen der 30 Artikel aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nennen. Am bekanntesten ist die Meinungsfreiheit, die immerhin jeder Zweite erwähnte. Relativ häufig erinnerten sich die Befragten an das Recht auf Leben, den Schutz der Menschenwürde, die Religionsfreiheit und das Recht auf Arbeit. Die übrigen 25 Artikel sind dagegen nahezu unbekannt, insbesondere auch das Folterverbot (zwei von drei Bundesbürgern zeigten sogar "Verständnis" für die Androhung von Folter durch die Frankfurter Polizei). Nur jeder Zehnte erwähnte das Wahlrecht, den Schutz vor Diskriminierung, das Asylrecht oder das Recht auf Nahrung und Wohnung. Die Befragten schätzen die Grundfreiheiten zwar als sehr wichtig ein, aktiv für ihre Verwirklichung einsetzen wollen sich aber nur wenige: Sieben Prozent der Deutschen sind "sehr bereit", sich in einer Menschenrechtsorganisation zu engagieren. Geld spenden wollen nur sechs Prozent. Dieses erschreckende Defizit gilt es zu überwinden. Zwar mag man es durchaus auch als positiv einschätzen, wenn die Menschen sich in ihren Rechten offenbar nicht bedroht fühlen. Andererseits gilt es jedoch gerade für Gefahrensituationen ein Bewusstsein zu wecken für die Notwendigkeit, die Menschenrechte und Grundfreiheiten Anderer aktiv zu schützen und die eigenen Rechte bewusst wahrzunehmen. Gemeinsam mit amnesty international und dem Magdeburger Lehrstuhl für Menschenrechtserziehung müssen deshalb Unterrichtskonzepte für Schulen und berufliche Bildungsstätten entwickelt und umgesetzt werden. Nur dadurch kann es über politische Lagergrenzen hinweg langfristig gelingen, den Wert der Menschenrechte auch und gerade in Deutschland wieder krisenfest neu zu verankern - nicht nur in den Köpfen, sondern auch in den Herzen, wie es so schön in der Satzung des Instituts heißt. Vielleicht findet dadurch auch innerhalb dieser so notwendigen Einrichtung selbst ein Bewusstseinsprozess statt, der es ihr langfristig ermöglicht, ihrer ureigenen Aufgabe als nationaler Menschenrechtsinstitution im Spannungsfeld von Politik und Zivilgesellschaft mit Energie und Mut gerecht zu werden.

* Ehemaliger Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte

Der Beitrag erschien in "ansprüche" - Forum demokratischer Juristinnen und Juristen - 2/2003. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis zur Veröffentlichung auf unserer Homepage.


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