Interventionsvehikel?
MENSCHENRECHTE OHNE DEMOKRATIE
Von Hermann Klenner *
Der Lebensweg der Autorin
ist beeindruckend:
Nach ihrer
Dissertation über die Menschenrechtspraxis
der Vereinten
Nationen und die
Rechtsstellung der Frau in der
Schweiz arbeitete Gret Haller
für die Europäische Menschenrechtskonvention
im Eidgenössischen Justizdepartement,
war vier Jahre Mitglied
der Berner Stadtregierung,
dann Mitglied des
Schweizer Nationalrates und
sogar dessen Präsidentin. Sie
gehörte auch den Parlamentarischen
Versammlungen von
Europarat und OSZE an, war
Schweizer Botschafterin beim
Europarat und danach Ombudsfrau
für Menschenrechte
der OSZE für Bosnien & Herzegowina
in Sarajewo.
Seit 2007 ist sie Mitglied
der Kommission des Europarates
für Demokratie durch
Recht. Die hier vorzustellende
Monografie ist das produktive
Ergebnis ihrer Tätigkeit als
Gastwissenschaftlerin an der
Juristenfakultät der Goethe-
Universität zu Frankfurt am
Main, in die natürlich ihre
jahrzehntelangen Praxiserfahrungen
eingegangen sind.
Ihre Erkenntnisse sind von
fundamentaler Bedeutung und
hochaktuell überdies.
Gret Haller zeichnet nicht
nur den Entwicklungsweg von
Theorie und Praxis der Menschenrechte
in den letzten vier
Jahrhunderten nach, sondern
scheut auch nicht davor zurück,
die im Namen der Menschenrechte
betriebenen Interventionismen
bloßzulegen,
mit denen die sich als Gralshüter
der Menschenrechte
ausgebenden Imperien ihre
Interessen kriegsandrohend
oder -führend durchzusetzen
versuchen. Die »revolutionäre
Seite der Menschenrechte«
zeige sich dabei nicht nur in
nationalem Widerstand, sondern
auch in »individueller
Dissidenz«.
In den umfangreich erörterten
Grundlagen für die spätere
Entwicklung der Menschenrechte
wird völlig zurecht
den Gedankengebäuden
von Thomas Hobbes, John
Locke, Jean-Jacques Rousseau
und Immanuel Kant die größte
Bedeutung beigemessen. Zutreffend
wird Rousseau gewürdigt,
der als Erster erkannte,
dass die Freiheit des
Einzelnen nur dann mit der
Durchsetzung einer Staatsordnung
vereinbar ist, wenn
letztere aus der Selbstgesetzgebung
durch die dem Staat
unterworfenen Individuen
hervorgeht. Kritisch sei bei
diesem Abschnitt vermerkt,
dass die Etablierung der Menschenrechte
im Wesentlichen
intellektuell begründet bleibt,
deren objektive Voraussetzungen
aber in Gestalt der Erfordernisse
kapitalistischer
Produktions- und Lebensverhältnisse
vernachlässigt werden.
Was Locke anlangt, so
findet sich hier die Klischee-
Behauptung, dass er das Privateigentum
mit der Arbeit
begründet habe, was insofern
oberflächlich ist, als es sich bei
Locke nicht um die Arbeit des
Privateigentümers handelt,
sondern um die des Arbeiters,
und der wird gerade nicht
durch seine Arbeit Eigentümer.
Und über das, was Gret Haller zum Menschenrechtsverständnis
des Juristen Marx schreibt, der als Gefangener
seiner ideologischen Prämissen
ein vernichtendes Urteil
über die Bürgerrechte gefällt,
ja sogar das Recht als Ganzes
diskreditiert habe, wollen wir
großzügig hinwegsehen und es
auf die Quellenunkunde der
Frankfurter Schule schieben.
Gedankenreich und in vieler
Beziehung neuartig sind
der Autorin Darlegungen über
die Menschenrechtsentwicklung
seit Frankreichs revolutionierender
»Declaration des
Droits de I'Homme et du Citoyen
« von 1789 und mehr noch
die Art, wie sie die Menschenrechtskrise
seit 1989 problematisiert:
Einerseits sei die einsetzende Internationalisierung
von Menschenrechten auf Kosten ihrer demokratischen
Legitimation sowie des notwendigen Zusammenhanges
von Freiheit und Gleichheit erfolgt. Andererseits habe das
Ende des Kalten Krieges die
Schleusen für einen neuen Interventionismus
geöffnet, der im Namen von Menschenrechten
betrieben wurde. So geschehen, als sich im Falle
des USA-Krieges gegen Irak
die anfängliche Begründung
als haltlos erwiesen hatte, die
»humanitäre Intervention« als
neue Begründung für die Aggression
aufgeboten wurde. Was nichts anderes bedeutet,
als die Menschenrechte zu einer
hegemonialen Technik der
internationalen Politik verkommen
zu lassen, der sich
unterschiedliche Konfliktparteien
bedienen können, um
ihrem partikularen Interesse
eine universale Wendung zu
geben. Zwangsexport von
Menschenrechten wie deren
aufgezwungener Import negierten
neben dem Völkerrecht
den Zusammenhang des
Selbstbestimmungsrechtes der
Individuen mit dem des Volkes.
Menschenrechte ohne
Demokratie gebe es so wenig
wie Demokratie ohne Menschenrechte!
Besonders gefährlich seien
die Versuche, mit religiösen
und/oder moralischen Kategorien
die demokratisch legitimierten
juristischen Kategorien
zu dominieren oder gar zu
substituieren. Wenn etwa Militärs
sich moralisch für berechtigt
halten, »Kollateralschäden
« zu verursachen, indem
sie unter Missachtung des
Völkerstrafrechts zu töten befehlen.
Oder wenn Polizeipräsidenten
mit Folter drohen zu
dürfen glauben oder ein UNSicherheitsratmitglied
foltert
und Käfighaltung von Menschen
betreibt. »Entmenschlichung
durch Moralisierung«
nennt Haller solche Vorgänge,
bei denen die Grundrechte den
Grundwerten subordiniert
werden.
Menschen sollen von Menschenbildern
abhängig gemacht
werden, an deren Formierung
sie sich nicht haben
beteiligen können. Da fänden
sich neben dem wohlbekannten
christlich-abendländischen
oder dem asiatischen
sogar ein »Menschenbild der
NATO« und andere Kuriositäten,
mit deren Hilfe zwischen
moralisch überlegenen Nationen
einerseits und »Schurkenstaaten
« andererseits unterschieden
wird. Mit »Moralisierungskeulen
« ebenso wie
mit einem Verständnis von
Menschenrechten, das letztlich
in einer alleinseligmachenden
Religion oder in einem
sich aus dem Mischmasch
aller Religionen gemeinsam
ableitbaren Ethos verankert
sei, werden in Wirklichkeit die
Menschenrechte als eben
Rechte eines jeden Menschen
ausgehebelt. Freilich reife international
die Erkenntnis,
dass es genau solch ein
»Gut/Böse-Raster« sei, das die
internationalen Konflikte unlösbar
werden lasse.
Die womöglich revolutionärste
Seite der Menschenrechte
bestehe darin, dass die
Menschen ihre Verantwortung
für ihre eigene Welt auch
wahrnehmen und einen
Schutzwall gegen die um sich
greifende Entdemokratisierung
bilden. Warum eigentlich
sei angesichts einer ganze Generation
von Menschen in Bedrängnis
bringenden Finanzund
Wirtschaftskrise noch
kaum jemand im privilegierten
Westen auf die Idee gekommen,
das Grundrecht auf Eigentum
in einer völlig neuen
Weise zu buchstabieren? Wer
solch eine Frage im Lichte der
Hungerkatastrophen Afrikas
oder der Niederschlagung von
Demonstranten in arabischen
Ländern als zynisch einstufe,
der habe die Fähigkeit eingebüßt,
die Gefährdung der
Menschenrechte im eigenen
Umfeld zu erkennen.
Offensichtlich sieht Gret
Haller in Kant denjenigen, der
in noch heute gültiger Weise
die Gleichheit der Menschen
als Voraussetzung dafür begriffen
habe, dass ihre Freiheit
zum Tragen kommen kann.
Wer freilich diesen Gedanken
zu Ende denkt, dass nämlich
das Recht auf Gleichheit ein
konstituierendes Element des
Rechts auf Freiheit ist – und
nicht wie die herrschende
Auffassung bloß eine mögliche
Folge von Freiheitsrechten –,
der wird den Zustand der
Weltgesellschaft von heute als
grenzwertig einschätzen, was
die Menschenrechte anlangt.
Das allerdings ist kaum die
Auffassung der Autorin, wohl
aber die Meinung des Rezensenten.
Gret Haller: Menschenrechte ohne Demokratie? Aufbau-Verlag: Berlin 2012, 238 S., geb., 22,99 €.; ISBN 978-3-351-02751-3
* Aus: neues deutschland, Dienstag, 9. Oktober 2012 (Beilage zur Frankfurter Buchmesse)
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