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Grundrechte-Report 2005

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Vorwort und Inhaltsverzeichnis

Jedes Jahr erscheint zum Verfassungstag (23. Mai) der Grundrechte-Report. Auf dem Umschlagtext finden sich dieses Jahr folgende Hinweise:
"Videoüberwachung am Arbeitsplatz, der 'große Lauschangriff' auf die Privatwohnung und im Straßenverkehr die automatische Erkennung von Autokennzeichen – geht die Privatsphäre in allen Lebensbereichen Stück für Stück verloren?
Wie ist es bestellt um die Rechte von Schwachen und Schutzsuchenden, wenn alte Menschen in Pflegeheimen vernachlässigt und Familien bei der Abschiebung auseinandergerissen werden?
Wie viel Sozialstaat bleibt, wo „Hartz IV“ Arbeitszwang verordnet und die neue Sozialhilfeberechnung die Existenzsicherung erschwert?
Gilt der Schutz der Menschenwürde noch absolut, wenn das Abschießen entführter Passagierflugzeuge erlaubt ist und das Folterverbot gelockert werden soll?
Diesen und anderen Fragen geht dieses Buch nach. Die nunmehr neunte Ausgabe des Grundrechte- Reports dokumentiert auch in diesem Jahr Verstöße gegen die im Grundgesetz garantierten Rechte der Bürgerinnen und Bürger. In Zeiten, die geprägt sind von terroristischer Bedrohung und wirtschaftlicher Krise, ist der wachsame und kritische Blick auf die Lage der Grund- und Menschenrechte in Deutschland nötiger denn je."
Im Folgenden dokumentieren wir das Vorwort der Herausgeber sowie das Inhaltsverzeichnis. Das Buch kann über den Buchhandel bezogen werden.



Vorwort der Herausgeber

Seit beinahe einem Jahrzehnt zieht der Grundrechte-Report regelmäßig Bilanz zur Lage der Grund- und Menschenrechte in Deutschland. Auch in diesem Jahr berichtet er von Grundrechtsverstößen durch die Polizei und andere Behörden, er macht aufmerksam auf Fälle der Missachtung der Verfassung durch das Parlament und informiert über Defizite im gerichtlichen Grundrechtsschutz.

Keiner der berichteten Vorfälle für sich allein betrachtet wird unseren demokratischen Rechtsstaat in seiner Existenz gefährden, denn das Grundgesetz bietet ihm ein tragfähiges und stabiles Fundament. Aber jede Verletzung der Menschenwürde, jede Missachtung eines Grundrechts trifft und schwächt den Rechtsstaat. Aufmerksamkeit ist auch deshalb geboten, weil verfassungsmäßige Freiheiten und Rechte meist in schleichenden, kaum wahrnehmbaren Schritten beschränkt werden, häufig nachdem sie in der politischen Debatte relativiert und gegenüber anderen Zielen für nachrangig erklärt wurden.

Wer das Grundgesetz wirksam schützen will, muss gegenwärtig ganz besonders Position beziehen gegen den Diskurs der Verrechnung von Grundrechten: Die fatale Vorstellung, die Grundrechte Einzelner könnten gegeneinander verrechnet werden, beherrscht die Debatte um die Zulässigkeit der Folter. Im Luftsicherheitsgesetz, das den Abschuss von Passagierflugzeugen erlaubt, hat sie bereits Gesetzesform angenommen. Das Leben und die Würde anderer Menschen opfern zu dürfen in der ungewissen Hoffnung auf die Rettung von Leben – diese Logik bricht radikal mit dem Grundgesetz, nach dem jedem menschlichen Leben der gleiche Wert und die gleiche Würde zukommt.

Unter Druck geraten sind die Grundrechte unter den Vorzeichen weltweiter Bekämpfung des Terrorismus. Zu ihren eindringlichen Symbolen sind das Lager in Guantánamo und das Gefängnis von Abu Ghraib geworden. Der Umgang mit der Menschenwürde und den Rechten der Terrorverdächtigen stellt nicht nur den Geltungsanspruch der amerikanischen Verfassung und internationaler Menschenrechtsgarantien in Frage; er negiert den Geltungsanspruch von Recht überhaupt. Das ist nicht ohne Auswirkungen auf die Debatte über Grundrechte hierzulande geblieben.

Erfreulich ist, dass nicht nur der Supreme Court der Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr mit seiner Entscheidung zum Rechtsschutz für in Guantánamo Inhaftierte in diese Entwicklung korrigierend eingegriffen und dass das House of Lords das britische Anti-Terror-Gesetz für unvereinbar mit dem Rechtsstaat erklärt hat. Auch der deutsche Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil im Fall Motassadeq rechtsstaatlichen Prinzipien zur Durchsetzung verholfen. Ohne das Engagement von BürgerrechtlerInnen für die Grundrechte kämen Gerichtsurteile wie diese oft nicht zustande. Wie wichtig mutige und konsequente gerichtliche Entscheidungen für den Grundrechtschutz sind, zeigt auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum „Großen Lauschangriff“ – ein deutlicher Hinweis auf die grundrechtlichen Grenzen der Überwachung der Privatsphäre. Ihre ständige Zunahme durch Videoüberwachung oder sogenannte RFID-Tags zeichnet auch der diesjährige Grundrechte-Report nach.

Ein Schwerpunkt dieses Bandes ist neben der expandierenden Überwachung die kritische Auseinandersetzung mit dem Abbau des Sozialstaates durch „Hartz IV“ und andere Arbeitsmarktgesetze. Gesellschaftliche Solidarität ist kein Luxus für die Zeiten des Überflusses, sondern Verpflichtung, die aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde jedes und jeder Einzelnen folgt. Die Entwicklung des Sozialstaats, aber auch die Asyl- und Ausländerpolitik in unserem Land machen eines ganz deutlich: Wie die staatlichen Institutionen den Schwächsten – asylsuchenden, armen, aber auch alten Menschen – gegenübertreten, bleibt wichtiger Gradmesser für den Zustand von Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland.

Der Kreis der Herausgeber des Grundrechte-Reports hat sich in diesem Jahr um die Neue Richtervereinigung und die Internationale Liga für Menschenrechte erweitert. Die Stimme zu erheben, wo die Menschenwürde missachtet, Grund- und Menschenrechte angegriffen und damit die Verfassung gebrochen wird, bleibt unser Anliegen. Denn Menschenrechte dürfen auch in Zeiten der Krise nicht zum Preis werden, den der Einzelne für das Versprechen einer effektiven Terrorbekämpfung, für die Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung oder für den Schutz vor Kriminalität zu entrichten hat.

Aus dem Inhalt:

  • Vorwort der Herausgeber
  • Christine Hohmann-Dennhardt: Die Wiederentdeckung der Freiheit unter den Brücken - Zum Angriff auf den sozialen Gehalt unserer Grundrechte
Die Würde des Menschen ist unantastbar (Art. 1 I)
  • Christian Bommarius: Die neuen Verfassungsfeinde
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 I)
  • Dieter Hummel: Soll der Arbeitgeber alles sehen?
  • Sönke Hilbrans: Der Schnüffel-Chip im Warenkorb
  • Martina Kant: Automatisierte Kfz-Kennzeichenerkennung. Einstieg in eine neue Überwachungsinfrastruktur
  • Wilko Zicht: Fußballfans im Abseits. Zum Zusammenspiel von staatlichen und privaten Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen
Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II)
  • Martin Kutscha: Eine Lizenz zum Töten Unschuldiger Das neueLuftsicherheitsgesetz bricht ein fundamentales Tabu
  • Helmut Pollähne: Lex Vomica? Das zweite Todesopfer hanseatischer Brechmittelpolitik
  • Bernd Mesovic: Verteilung der Verantwortung in einem "Sauhaufen". BGS-Beamte wegen Tod bei der Abschiebung von Amir Ageeb bestraft
  • Heiko Habbe: Hauptsache raus - Abschiebepraxis am Beispiel Hamburg
  • Tobias Singelnstein: Unerhört eingesperrt. Zu Vorwürfen und Fällen von Misshandlungen in JVAs und Abschiebegefängnissen
  • Heike Kleffner: Auf dem rechten Auge blind
  • Bernd Schlüter: Altenpflege zwischen Sparzwängen und Menschenwürde
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich (Art. 3 I)
  • Günter Werner: Recht ist, was Juristen nützt - Das Rechtsberatungsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht
Die Freiheit des Glaubens und des Gewissens ist unverletzlich (Art. 4)
  • Thilo Scholle: Das Kopftuchverbot für Lehrerinnen an öffentlichen Schulen
Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern (Art. 5)
  • Rolf Gössner: Anschlagsrelevante Texte? Wie derVerfassungsschutz kritische Kommentarezu geistiger Brandstiftung erklärt
  • Dieter Deiseroth: Wer petzt, kann gehen - Whistleblowing und Grundrechte
  • Helmut Pollähne: "Positiv in Haft"- Grundrechtsschutz für Postsendungen an Gefangene
  • Maja Kreßin: Abschied von der Meinungsvielfalt? Clements Pressekartellrechts-Novelle
  • Dagmar Brosey: Rundfunkfreiheit für das Freie Senderkombinat . Ein Einschüchterungsversuch der Staatsgewalt
Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze (Art. 6)
  • Kai Weber: Wie der Staat Familien zerstört
Die Versammlungsfreiheit ist gewährleistet (Art. 8)
  • Wilhelm Achelpöhler, Tjark Sauer: Hessen führt Demogebühr ein
  • Alain Mundt: Konzept der ausgestreckten Faust - Erster Mai in Berlin
  • Frank Schreiber: Kein Sonderrecht gegen rechtsextreme Demonstrationen - BVerfG zu Bochumer NPD-Kundgebung
  • Rolf Gössner: Aufstand der "Unanständigen"? Oder: Zivilcourage gegen Nazis strafbar
  • Christoph Weinrich: Auch Nervensägen haben Grundrechte - Gießener Polizeistrategien
Das Briefgeheimnis ist unverletzlich (Art. 10)
  • Wolfgang Kaleck: Pauschale Briefkontrolle in Strafhaft
Männer können zum Dienst in den Streitkräften verpflichtet werden (Art. 12a)
  • Ulrich Finckh: Wenn ein Gericht dem Grundgesetz folgen will…
Alle Deutschen haben Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen (Art. 12)
  • Elke Steven: Die Rückkehr der Berufsverbote
Die Wohnung ist unverletzlich (Art. 13)
  • Erhard Denninger: "Großer Lauschangriff" – zurechtgestutzt?
Politisch Verfolgte genießen Asylrecht (Art. 16a)
  • Hubert Heinhold: Kurzes Verfallsdatum: Flüchtlingsstatus wird massenhaft widerrufen
  • Constantin Hruschka: Das neue Flüchtlingsrecht im Praxistest. Flüchtlingsrechtliche Veränderungen durch das Zuwanderungsgesetz
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer Bundesstaat (Art. 20 I)
  • Ulrich Finckh: Ein Volksentscheid entscheidet nichts - Das Hamburgische VerfG entmachtet den Volkssouverän
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer Bundesstaat. (Art. 20 I)
  • Detlef Hensche: Hartz IV – Arbeitszwang statt Berufsfreiheit - Fragwürdigkeiten der Sozialreform
  • Frank Schreiber: Menschenwürde, pauschaliert - Die Bemessung der Sozialhilfe-Regelsätze nach dem neuen SGB XII
  • Gertrud Hovestadt: Schuster, bleib bei deinen Leisten - Zum Zusammenhang von Schulbildung und sozialer Herkunft
Die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz u. Recht gebunden (Art. 20 III)
  • Stefan Waterkamp/Edda Weßlau: Die Verletzung des fairen Verfahrens in den Hamburger Al-Qaida-Prozessen
  • Andrea Würdinger: Terrorismusbekämpfung im Ausländerrecht...praktisch umgesetzt
  • Martin Kutscha: Eine Lanze für die Normenklarheit - Das BVerfGermahnt den Gesetzgeber
  • Wolfgang Kaleck: Mit Schwarzen Listen gegen Terrorristen
Das BVerfG entscheidet über Verfassungsbeschwerden (Art. 93 I Nr. 4)
  • Till Müller-Heidelberg: Auch europäische Menschenrechte werden durchgesetzt
Die Freiheit der Person nur auf Grund eines Gesetzes beschränkbar (Art. 104 I)
  • Helmut Pollähne: Wenn Patienten in "long stay units" (ver)enden. Zur Debatte um die "humaneVerwahrung" in der forensischen Psychiatrie
  • Miriam Gruß: Freiheitsberaubung durch das Bundesverfassungsgericht? Der Streit um nachträgliche Sicherheitsverwahrung
  • Marei Pelzer: Kindeswohl unter Vorbehalt - Minderjährige kommen in Abschiebungshaft
Anhang
Chronologie 2004, Bürger- und Menschenrechtsorganisationen in Deutschland (Auswahl), Kurzportraits der herausgebenden Organisationen, AutorInnen und Redaktion, Sachregister

Müller-Heidelberg/Finckh/Steven/Habbe/Micksch/Kaleck/Kutscha/Gössner/Schreiber (Hg.): GRUNDRECHTE-REPORT 2005. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland
Fischer Taschenbuch Verlag in der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt/M. 2005, 255 Seiten, ISBN: 3-596-16695-0; 9,90 €


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