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Die Lügen der Matadoren

Rolf Gössner über Menschenrechte in Zeiten des Terrors

Von Hermann Klenner *

Dass man nicht tief genug von denen denken kann, die hoch gestiegen und schließlich oben angekommen sind im Kampf um die Macht, ist eine alte, immer wieder aufs Neue zu erleidende Wahrheit. Man braucht sich bloß auf die Untaten der Bush und Blair, der Wolfowitz, Ackerman und Landowsky zu besinnen. Da werden Kriege herbeigelogen, Wähler betrogen, Milliarden verschoben und Millionen in die eigene Tasche geschleust. Und das alles von den Matadoren der Menschenrechte in ihrer perfidesten Version. Der Autor, selbst von den Diensten seit Jahrzehnten überwacht, gehört zu den Mutigsten im Lande. Unbelehrbar ist er auch.

Wann endlich, so fragt Rolf Gössner in seiner neuesten, an beängstigendem Material überbordenden Publikation, werden sich Widerspruch und Gegenwehr regen? Wann endlich wird sich die Erkenntnis durchsetzen, dass, wie in der Vergangenheit so auch in der Gegenwart, die wirklichen Menschen- und Bürgerrechte mehr von der Obrigkeit – den politischen Gewalthabern, den sie tragenden ökonomischen Machthabern und dem medial geschürten »gesunden Volksempfinden« (Angst sei das Schmieröl der Staatstyrannei, so heißt es) – bedroht sind als von Außenseitern, Minderheiten oder Terroristen? In der Tat ist auch für den Rezensenten der Eindruck beklemmend, dass sich eine Bevölkerungsmehrheit mit der – von Grünen und Gelben zusätzlich abgestützten und von den Linken allzu zaghaft attackierten – Groß-Koalitions-Regierung samt einer sich neoliberal organisierenden Gesellschaft, Sozialabbau und Militäraufbau inklusive, abgefunden zu haben scheint.

Was wir brauchen, sei ein völlig anderer, nämlich ein sich an sozialen, friedens- und umweltpolitischen Standards orientierender Sicherheitsbegriff, mit dem auch an den eigentlichen Ursachen und begünstigenden Bedingungen von Terror und Gegenterror, von Gewalt und Kriminalität nicht vorbeigedacht werden kann; schließlich basiere der Reichtum des Westens weitgehend auf Gewalttaten, auf Kriegen und Kolonisierungen und auf kirchlich abgesegneten Zwangsmissionierungen. Gewaltfreie Krisenprävention durch Bekämpfung von Armut, Hunger, Elend, Ausbeutung und Unterdrückung sei zwar erforderlich, doch nicht in Sicht. Stattdessen werden die Menschenrechte weltweit mehr als Sicherheitshindernis wahrgenommen oder gar zur Begründung für »humanitäre Interventionen«, dem staatlichen Gegenterror auf Terror, missbraucht.

Diesen Befund belegt Gössner, wie bereits in seinen früheren Publikationen (unter anderem: »Widerstand gegen die Staatsgewalt. Handbuch zur Verteidigung der Bürgerrechte« und »Erste Rechts-Hilfe. Tipps im Umgang mit Polizei, Justiz und Geheimdiensten«) mit einer überwältigenden Beispielsfülle, die ihm als dem Präsidenten der Internationalen Liga für Menschenrechte mehr als so manchem anderen zur Verfügung steht und deren jeweilige Quellen er auch anmerkungsweise offenbart. Die von ihm ausgebreiteten Details auf dem Weg von einem liberal-demokratisch zumindest konzipierten zu einem präventiv-autokratisch praktizierten Sicherheitsstaat sind erschreckend. Etwa die Kontrollinfrastruktur in Gestalt biometrischer Ausweise und Abgleichsverfahren, die Sicherheitsüberprüfungen in lebens- und verteidigungswichtigen Betrieben, der Überwachungskosmos der modernen Telekommunikation, der Transfer sensibler Fluggastdaten an US-Behörden, die Rasterfahndungen nach islamistischen »Schläfern«, der Asylwiderruf als Antiterrormaßnahme, die Duldung neonazistischer Organisationen, der Legitimierungsbeginn von sogenannter Rettungsfolter, die moderne Militärdoktrin mit ihrer Umwidmung der Bundeswehr von einer Verteidigungs- zu einer weltweiten Interventionsarmee, auch als Vasall in völkerrechtswidrigen Kriegen.

Gössners allgemeinverständlich geschriebenes Buch erweist sich als eine Fundgrube für alle, die sich vergewissern wollen, auf welcher Seite in den Klassenkämpfen von heute zu stehen ehrenhaft ist, und für wen das Gegenteil zutrifft. Da wir bei diesem Gegenteil sind: Der Autor gehört auch der Jury für den an Orwells negativer Utopie angelehntem BigBrotherAward an, mit dem Jahr für Jahr diejenigen »geehrt« werden, die sich besonderer Verdienste für den Ausbau der deutsch-europäischen Überwachungssysteme auf Kosten der Bürger- und Freiheitsrechte rühmen dürfen. 2004 wurde dieser freilich nicht von jedermann begehrte Preis der Bundes-Justizministerin Brigitte Zypries zuerkannt, 2005 Otto Schily, 2006 der Bundes-Innenministerkonferenz und den Mitgliedern des 4. Landtages von Mecklenburg-Vorpommern, und für 2007 werden noch bis zum 15. Juli dieses Jahres Vorschläge unter www.bigbrotherawards.de/nominate angenommen. Minister Schäuble dürfte sich wohl mit seiner genialen Anregung, dass für Terroristen die Unschuldsvermutung nicht gelten könne, gute Hoffnungen machen ...

Rolf Gössner: Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2007. 288 S., br., 17 EUR.

* Aus: Neues Deutschland, 7. Juni 2007


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