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Zwei zerquetschte Daumen

Die Würde des Menschen war unantastbar: Folter-Rechtfertigungen bundesdeutscher Juristen

Im Folgenden dokumentieren wir zum "Fall Daschner" einen Artikel, den wir der Tageszeitung "junge Welt" entnommen haben. Eine Übersicht über ein breites Spektrum von Meinungen zum Fall Daschner haben wir an anderer Stelle gegeben: 12 Stellungnahmen und Kommentare.

Günter Platzdasch: Zwei zerquetschte Daumen

In den achtziger Jahren ging in Frankfurt am Main einmal – vorübergehend – die Würde des Menschen verloren. Am Montag verurteilte in der Mainmetropole ein Gericht den ehemaligen stellvertretenden Polizeipräsidenten Wolfgang Daschner wegen seiner Folterdrohung gegenüber einem Kidnapper. »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, mit diesem Wort beginnt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das vier Jahre nach dem Ende der Nazibarbarei in Kraft trat. Und diese Worte, in Stein gehauen, zierten das Gebäude der Staatsanwaltschaft Frankfurt, wo sie einst des Nachts entwendet wurden, später wieder auftauchten und zurück an ihren alten Platz kamen. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft, die in der Tradition des legendären hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer steht, der den Auschwitz-Prozeß betrieben hat, zeigte sich mit ihrer Anklage gegen Daschner nicht wegen Aussageerpressung, sondern nur wegen Verleitung zu schwerer Nötigung (den Straftatbestand der Folter kennt das deutsche Recht nicht), sowie mit ihrem auf einen Freispruch zweiter Klasse hinauslaufenden Plädoyer nicht gerade als konsequente Hüterin der Würde des Menschen.

Musterschülerin der USA

Inzwischen ist die Würde des Menschen bei bundesdeutschen Juristen nicht nur als Platteninschrift abhanden gekommen. Wieder bewahrheitet sich die Regel, daß die BRD als Musterschülerin der »Reeducation« große Trends der USA nachmacht.

Dort kam Folter nach dem »11. September« zur Geltung – in Theorie (Alan Dershowitz, Harvard-Professor und O. J.-Simpson-Verteidiger, in seinem Buch »Warum Terrorismus wirkt«; der von der Melvin J. Berman Hebrew Academy ausgezeichnete Nathan Lewin mit seinem Rezept »Wie man Selbstmordkiller abschreckt«) und Praxis (Abu Ghraib und Guantánamo). Inzwischen wurde Alberto Gonzales, einer der Vordenker der Folter-Renaissance, vom Chefjuristen des Weißen Hauses zum Justizminister befördert (jW, 12. November). Aber nicht nur in fernen Weltgegenden, in irgendwelchen Schurkenstaaten – auch in Deutschland gibt es Folterdebatten, und zwar nicht erst seit dem Fall Daschner.

Schon 1976 hatte der Christdemokrat Ernst Albrecht, zeitweise Chef aller Bahlsen-Kekse und Ministerpräsident Niedersachsens, in seinem Buch »Der Staat – Idee und Wirklichkeit« es für denkbar gehalten, daß in einigen Situationen die Anwendung von Folter sittlich geboten wäre. Das Echo seinerzeit bewirkte, daß Albrecht die Passage, nachdem er sie in einem Rundfunkinterview noch einmal bekräftigt hatte, »in aller Form« zurücknahm.

Auf dem Höhe- und Wendepunkt des RAF-Terrors soll auch im Krisenstab der Bundesregierung nach der Entführung einer Lufthansa-Maschine nach Mogadischu im Herbst 1977 darüber diskutiert worden sein (etwa von Bundesanwalt Kurt Rebmann), für jede tote Geisel einen RAF-Gefangenen zu erschießen, nachdem die Bild-Zeitung dies gefordert hatte.

Der inzwischen verstorbene Niklas Luhmann erwog 1992 in seiner Heidelberger Universitätsrede »Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?« fiktiv bei einem gefangenen Terroristenführer, um andere zu retten, die »Zulassung von Folter durch international beaufsichtigte Gerichte, Fernsehüberwachung der Szene in Genf oder Luxemburg, telekommunikative Fernsteuerung«. Der Praeceptor Germaniae Jürgen Habermas, der im »Historikerstreit« als Nicht-Historiker das Gras hatte wachsen hören, erwiderte nichts auf die Thesen seines Kontrahenten Luhmann, mit dem er jahrelang über Systemtheorie und Kritische Theorie gestritten hatte.

Ein Jurist unter Luhmanns Zuhörern fühlte sich provoziert. Wohl wissend, wie er später in einem Streitgespräch an der Berliner Humboldt-Universität verriet, daß er sich gegen »fünfzig Jahre Staatsrecht unter dem Grundgesetz und etwa 5000 Staatsrechtslehrer« positionierte, rechtfertigte der Heidelberger Staatsrechts- und Rechtsphilosophieprofessor Wilfried Brugger die Anwendung von Folter in bestimmten Fällen. In einer Übungsklausur, die er 200 Examenskandidaten 1996 schreiben ließ, kamen zwei Drittel des juristischen Nachwuchses zu dem Ergebnis, die Polizei dürfe ausnahmsweise foltern. Das war eine Art Milgram-Experiment für Jurastudenten (im Milgram-Experiment waren Probanden bereit, unter Anleitung mit Stromstößen zu foltern).

Die lange Zeit beliebte Reductio ad Hitlerum hilft nicht weiter, hier hat kein Alt- oder Neonazi seine Maske fallen lassen: Brugger, Jahrgang 1950, ist ein theoretisch und philosophisch beschlagener Jurist, weltgewandt, liebenswürdig und streitlustig, wie man im Audimax der Humboldt-Universität am 28. Juni 2001 erleben konnte, als er mit Bernhard Schlink, dem Schriftsteller (»Der Vorleser«) und Juristen, das Streitgespräch »Darf der Staat foltern?« führte, das aufmerksame Studierende initiiert hatten.

»O.k., nicht gerade Stachelstöcke«

Am 22. April 1995 war Kollegengeburtstag in der Verwaltungsfachschule zu Speyer, einer Kaderschmiede des bundesdeutschen juristischen Establishments, und Brugger ehrte den Jubilar mit einer akademischen folterapologetischen Festrede, die wiederum 1996 zu einem Aufsatz in der renommierten Juristenzeitschrift Der Staat führte (»Darf der Staat ausnahmsweise foltern?«), bei der Brugger zum geschäftsführenden Redakteur avancierte. Im Frühjahr 1999 referierte er an US-amerikanischen Rechtsfakultäten und erfreute sich dort schon vor »9-11« einer aufgeschlosseneren Zuhörerschaft als in Deutschland. Im Februar 2000 erschien dann seine Folterrechtfertigung sogar in der Juristenzeitung (»Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?«), der tonangebenden juristischen Monatsschrift. Als der Beitrag dann ins Englische übersetzt wurde, befand sich Brugger an der Seite von Jonathan Alter, der unter dem Titel »Zeit, über Folter nachzudenken« seine Apologie in der Zeitschrift Newsweek vom 5. November 2001 veröffentlichte: »O.k., nicht gerade Stachelstöcke oder Gummischläuche, jedenfalls nicht hier, in Amerika. Aber irgend etwas, um den schleppenden Ermittlungen auf die Sprünge zu helfen.«

Anfang 2003 schrieb ein anderer Heidelberger Jurist, der Strafrechtler Olaf Miehe, an entlegener Stelle: »Um es mal ganz drastisch zu sagen: Zwei zerquetschte Daumen sind leichter zu verkraften als der Verlust eines Menschenlebens.« Diesen klaren Worten in der Lokalpresse folgten gewähltere in einer Fachzeitschrift (»Nochmals: Die Debatte über Ausnahmen vom Folterverbot«, in: Neue Juristische Wochenschrift 2003). Warum dann nicht auch zwei Finger absägen – »Der englische Patient« grüßt gen Neckar. Heidelberg liegt in dem von einem Ministerpräsidenten namens Teufel regierten Bundesland Baden-Württemberg, das einmal den furchtbaren Juristen Filbinger zum Ministerpräsidenten hatte und wo 1831 Baden als letzter deutscher Staat Folter offiziell abschaffte.

Obwohl, wie Professor Ralf Poscher, Rechtsphilosoph an der Universität Bochum, hervorhob, Brugger keine Mühe scheute, »den eindeutigen Wortlaut nicht nur des Grundgesetzes, sondern fast eines Dutzend einfach-, verfassungs-, europa- und völkerrechtlicher Vorschriften zu überwinden«, wurden die Thesen nicht zurückgewiesen. Obwohl in Artikel 104 unseres Grundgesetzes unmißverständlich steht: »Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden.« Aber was gilt eigentlich noch die Verfassung, wenn eine SPD-Grünen-Regierung verfassungswidrig »ausnahmsweise« meint, in den Krieg ziehen zu dürfen? Wie man jetzt erkennt, war dies ein beredtes Schweigen. Nur Helmut Kramer, ein Richter im Ruhestand, widersprach in der Zeitschrift Ossietzky dem »menschenverachtenden Schwachsinn«.

Ebenfalls an exotischer Stelle erschien letztes Jahr ein alarmierender Artikel: »Die Würde des Menschen war unantastbar«, lautete der Titel eines Beitrags im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ernst-Wolfgang Böckenförde, ein sozialdemokratischer Staatsrechtsprofessor und ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, entdeckte einen Abschied vom jahrzehntelangen Grundgesetzkonsens in der Neukommentierung im tonangebenden Verfassungskommentar »Maunz/Dürig«. Dort habe Matthias Herdegen das strikte Verfassungsgebot »Die Würde des Menschen ist unantastbar« durch seine Grundgesetzinterpretation relativiert und der Abwägung ausgeliefert (zwecks »sachgerechter Beurteilung körperlicher und seelischer Eingriffe für präventive Zwecke«).

»Rechtfertigender Notstand«

Erst nach dem Frankfurter Kidnapping-Fall kam eine breitere Debatte über Folter und Menschenwürde in Gang. Walter Grasnick, Strafrechts- und Rechtsphilosophieprofessor in Marburg, verteidigt Brugger und hält dessen Positionen für diskutabel. Michael Pawlik, er lehrt Strafrecht, Strafprozeßrecht und Rechtsphilosophie in Rostock und verfaßte die Studie »Der rechtfertigende Notstand«, beschrieb die Folter – »ein sich krümmendes Stück Fleisch wimmert oder brüllt die verlangte Information hinaus« – und meinte dennoch: »Angesichts der Bedrohungen, die der internationale Terrorismus möglicherweise noch für uns bereithält, sollten wir zwar nicht vorschnell behaupten, so weit dürfe es niemals kommen«; der Frankfurter Kindesentführungsfall habe allerdings noch »unterhalb der Schwelle, auf der jenes äußerste Mittel der Suspendierung des Bürgerstatus einzelner Individuen in Erwägung gezogen werden dürfte«, gelegen. Jedoch mochte er dem angeklagten Frankfurter Polizisten einen »Verbotsirrtum« und mithin Schuldlosigkeit zugestehen, da dieser die Rechtswidrigkeit seines Tuns nicht habe einsehen können. Ein Irrsinn: Man müßte – im Hinblick auf die klaren Folterverbotsvorschriften des Grundgesetzes (Artikel 104), der Strafprozeßordnung (§ 136a) und des hessischen Polizeirechts (§§ 12, 52 HSOG) – unterstellen, daß ein Legastheniker oder Rechtsvorschriften-Unkundiger zum Polizeivizepräsident befördert wurde.

Inzwischen hat sich auch Volker Erb, ein Lehrer des Straf- und Strafprozeßrechts an der Universität Mainz, zur Umgehung des Folterverbots bekannt. »Nicht Folter, sondern Nothilfe« meint er zu rechtfertigen, und er hält offenbar die Zeit zum Gegenangriff für gekommen und unterstellt einem am Folterverbot festhaltenden Staat, »daß er sich strukturell in die Rolle eines Mordgehilfen begibt«. Er ist sich auch nicht zu schade, sich implizit auf das, was man früher »gesundes Volksempfinden« nannte, zu berufen. Er warnt »vor allem die Vertreter von Menschenrechtsorganisationen«, es sich mit »dem Volk« zu verscherzen, das ein Folterverbot »als zwingende juristische Wahrheit« für »etwas ganz Furchtbares« ansieht – »Umfragen zufolge mit Mehrheit«. Also Demoskopie statt juristische Wahrheit, vulgo: Volksempfinden statt Recht.

Ebenso zeigte Verständnis für Daschner und das gesunde Volksempfinden der »brutalstmögliche« Populist, der hessische Ministerpräsident Roland Koch, auch er ein Jurist, sowie Thomas de Maizičre, inzwischen Minister der neuen sächsischen Landesregierung, als er vor der Leipziger Juristischen Gesellschaft 2003 über die »Grenzen des Rechts« sprach. Sogar für den Vorsitzenden des Deutschen Richterbunds, Geert Mackenroth, waren »Fälle vorstellbar, in denen auch Folter oder ihre Androhung erlaubt sein können«, unter öffentlichem Druck nahm er diese Äußerung Tage später zurück. Auch der Mann wurde unlängst im Freistaat Sachsen befördert – zum Justizminister.

Das Empfinden des Volkes, mit dem kokettiert wird, ist eindeutig. In einer Ende Februar 2003 veröffentlichten Forsa-Umfrage zeigte eine große Mehrheit der Deutschen Verständnis für die Gewaltandrohung der Polizei im Entführungsfall Jakob von Metzler: 63 Prozent waren gegen eine Bestrafung Daschners, nur 32 Prozent für eine Bestrafung. Zustimmung breitete sich bis in die Leserbriefspalten der sozialistischen Tageszeitung »Neues Deutschland« aus, wo am 24. November ein Aktivist der Gewerkschaft der Polizei aus Dessau bekannte: Es »wäre für mich als Polizist (im Ruhestand) jedes Mittel recht«.

»Gefahr eines Dammbruchs«

Es melden sich auch gesetzestreue Juristen wie der Kriminologe Arthur Kreuzer, Direktor des Instituts für Kriminologie an der Universität Gießen: »Wenn man in äußersten Fällen nur einmal sagt, Abwägungen bei Folter seien zulässig, besteht die Gefahr eines Dammbruchs.« Solche Warnungen sind kein hysterisches Gerede. In Israel, wo die Landau-Kommission unter dem Vorsitz des Ex-Verfassungsgerichtspräsidenten 1987 ein Regelwerk zur Folter (»Leitlinien zu Verhörtechniken«) palästinensischer Gefangener entwickelte, das vom Parlament – der Knesset – übernommen wurde, stieg die Zahl der Fälle, in denen bei Verhören »moderater physischer Druck« angewandt wurde, bis 1999 das Verfassungsgericht die Notbremse zog. (Seit Herbst 2000 ist der Inlandsgeheimdienst zur Folter zurückgekehrt).

»Feindstrafrecht«

Mitte des Jahres 2004 sorgte Michael Wolffsohn, immerhin an der Bundeswehrhochschule in München Professor für Geschichte, mit seiner Folterrechtfertigung in der Fernsehsendung von Sandra Maischberger für Erregung; eine heikle Angelegenheit, hatte der Wissenschaftler sich als Jude doch auf die Lage in Israel bezogen. Nach einem Gespräch mit seinem und der weltweit operierenden Bundeswehrsoldaten Dienstherrn fühlte Wolffsohn sich »völlig rehabilitiert«.

Eine andere juristische Strategie als Brugger und dessen Geistesverwandte, die eine rechtlich geregelte Folter favorisieren, verfolgt der Bonner Strafrechtsprofessor Günther Jakobs, der Rechtlosigkeitszonen, ein gesondertes »Feindstrafrecht« schaffen will, das er dem normalen »Bürgerstrafrecht« gegenüberstellt. Darin würden Menschen, mit denen eine Rechtsgemeinschaft unmöglich sei, nicht länger als Rechtspersonen respektiert. Das liest sich wie ein Vorbote der Kategorie des »unlawful enemy combatant« für Internierte in Guantánamo Bay. Am Anfang dieses Denkens stand – auch schon vor »9-11« – Jakobs Beitrag zu dem Band »Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende: Rückbesinnung und Ausblick«, der eine Tagung aus dem Oktober 1999 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie dokumentiert.

Die Preisgabe von Menschenwürde und Folterverbot für Abwägungen mit beliebigem Ausgang kann nicht mehr als Position von Außenseitern der juristischen Zunft bagatellisiert werden. Das Verhältnis von – wie Juristen es nennen – »herrschender Lehre« und »Mindermeinung« scheint sich zu verschieben. Das zeigt die Gesetzesinterpretation des Tübinger Professors Kristian Kühl in der gerade erschienen 25. Auflage des Strafgesetzbuch-Kommentars »Lackner/ Kühl«, eines der beiden tonangebenden Handkommentare für Studenten und Praktiker des Strafrechts. Noch im Juli 2000 begutachtete Kühl die Vereinbarkeit des türkischen Gesetzes Nr. 4422 von 1999 mit rechtsstaatlichen Grundsätzen streng: »Foltermethoden wie das Verbinden der Augen über eine Dauer von sechs Tagen verstoßen nach deutschem Recht eindeutig gegen Paragraph 136a« Strafprozeßordnung. »Im Hinblick auf polizeilich-präventive Foltermaßnahmen zum Lebensschutz Entführter« mag er jetzt deren Rechtfertigung als Notwehr- oder Notstandsmaßnahmen »nicht kategorisch ausschließen«. Er begibt sich sogar in die Rolle des Möchtegern-Gesetzgebers: Sollte der von ihm vorgeschlagene Folter-Rechtfertigungsversuch »an den Polizeigesetzen der Länder scheitern«, fordert Kühl, »so müßte über deren Änderung zur Ermöglichung des Eingreifens in Extremfällen bedrohten Lebens nachgedacht werden«.

Einen neuen Höhepunkt erreichte die Folterlegitimation mit Erscheinen der 10. Auflage (2004) des 2300 Seiten dicken Grundgesetzkommentars, der nach den Gründern Bruno Schmidt-Bleibtreu und dem verstorbenen Franz Klein benannt ist. Darin wird unter der Überschrift »Folterproblematik« der Fall Daschner behandelt, und zwar nicht von irgendeinem juristischen Sonderling, sondern von Hans Hofmann, einem Ministerialrat aus dem Bundesministerium des Innern, also aus dem Ministerium, dem der Schutz der Verfassung obliegt. Für ihn »kann hier den bedrohten Rechtsgütern des entführten Kindes unter besonderer Berücksichtigung seines Lebensrechts ein Vorrang vor dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Tatverdächtigen gegeben werden«, so daß man die Folterdrohung »nicht als verwerflich einstufen kann«.

Gieren nach Ermächtigungsgesetz

Nach 1933 wurde gefoltert, aber – anders als heutige Juristen – scheuten die Nazis noch davor zurück, dies offen zu legalisieren. Am 4. Juni 1937 trafen sich im Reichsjustizministerium Juristen und Polizeibeamte, um die Grenze zwischen »verschärfter Vernehmung« und »Körperverletzung im Amte« zu erörtern, ein Oberstaatsanwalt vom Landgericht Düsseldorf protokollierte »Regeln und Richtlinien« bei Hoch- und Landesverrat: »nur Stockhiebe auf das Gesäß« seien zulässig, »und zwar bis zu 25 Stück« (»Vom 10. Stockhieb an muß ein Arzt zugegen sein«), sodann »soll ein ›Einheitsstock‹ bestimmt werden, um jede Willkür auszuschalten«. Heute will man das – und mehr – nicht nur heimlich tun, sondern giert sogar nach einem Ermächtigungsgesetz hierzu. Die Arbeitsgemeinschaft Demokratie und Recht von Bündnis 90/Die Grünen in Münster hat im Februar 2003 einen Gesetzesentwurf vorgelegt, nach dem die Anwendung einem Richtervorbehalt unterliegt und nur durch entsprechend ausgebildetes Personal (unter Hinzuziehung eines Arztes) durchgeführt werden darf. Statt Foltermethoden zu nennen, wird die Landesregierung ermächtigt, dies durch Rechtsverordnung zu regeln. Grüner Gender-Politik eingedenk, ist geschlechtsspezifische Folter unzulässig, die Folter einer Frau nur durch weibliche Vollzugsbedienstete durchzuführen. Wenn man die Regelungen über die Bildung von Folterkammern bei den Landgerichten und über den vor der Industrie- und Handelskammer abzulegenden Meisterberuf des Folterknechts liest, wird klar, daß es sich (noch) um Satire handelt.

Falls Wissenschaft und Polizeipraxis weiterhin auf Folter zusteuern sollten, bleibt nur die Hoffnung, wieder einmal von außen davon befreit zu werden. Die Rettung müßte diesmal nicht militärisch, sondern könnte juristisch sein. Nur wenige Tage nach Frankreichs Nationalfeiertag am 14. Juli ist das Land der Menschenrechte 1999 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Folter und schwerer Mißhandlung von Ahmed Selmouni, eines Marokkaners mit niederländischem Paß im französischen Gefängnis, verurteilt worden. So ist Frankreich nach der Türkei das zweite wegen Folter verurteilte Europarat-Mitgliedsland – da könnte sich Deutschland hinzugesellen.

Aus: junge Welt, 21. Dezember 2004

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