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Menschenrechtsschutz: "Auch innerhalb der EU besteht Handlungsbedarf"

amnesty international legt "Zehn Forderungen an die deutsche Ratspräsidentschaft" vor

Am 11. Januar 2007 legte die deutsche Sektion von amnesty international ein umfassendes Paket zum Menschenrechtsschutz in der Europäischen Union vor. Hierzu dokumentieren wir im Folgenden:

  1. einen Presseartikel hierzu,
  2. die "Zehn-Punkte-Erklärung" im Wortlaut (Kasten), und
  3. die Pressemitteilung von ai


Menschenrechte als Richtschnur

AI-Appell: EU muss Mängel abstellen

Von Ines Wallrodt *


Amnesty International fordert in einem umfassenden Programm von der Bundesregierung, den Schutz der Menschenrechte während ihrer EU-Ratspräsidentschaft voranzubringen.

Die Bedeutung von Menschenrechte ist in der Europäischen Union ambivalent. Sie sind Leitbild des EU-Vertrags und Messlatte, ob Länder bereit sind, in die Union aufgenommen zu werden. Andererseits gibt es viele Beispiele, wie Menschenrechte auch innerhalb der EU missachtet werden, wenn etwa Mitgliedstaaten in geheime CIA-Flüge verwickelt sind oder illegale Einwanderung bekämpft wird, ohne elementare Grundrechte von Flüchtlingen zu berücksichtigen. Dann fällt die Kritik allerdings oft sehr leise aus. Um glaubwürdig zu sein, dürften die Mitgliedstaaten aber weder für sich noch in ihrem gemeinsamen Vorgehen im europäischen Rat mit zweierlei Maß messen, mahnt Amnesty International (AI). In einem Zehn-Punkte-Programm, das am Donnerstag in Berlin bei einer eintägigen Veranstaltung vorgestellt wurde, appelliert die Organisation an die Bundesregierung, den Schutz der Menschenrechte »zu einer sichtbaren Richtschnur« der deutschen EU-Präsidentschaft zu machen.

Amnesty fordert darin unter anderem, Menschenrechtsverletzungen innerhalb der EU kontinuierlich zu erfassen und zu ahnden. Die geplante Grundrechteagentur, die eigentlich zu Jahresbeginn in Wien eingerichtet werden sollte, müsse so ausgestaltet werden, dass sie bei den zentralen Fragen der Zeit politische Mitsprache erhält – gerade auch bei der Bekämpfung von Terrorismus, beim Polizeivollzug und in der Strafjustiz.

Darüber hinaus solle die Bundesregierung die kommenden Monate nutzen, die Asylverfahren in Europa zu vereinheitlichen und zu verbessern. Grundlage jeder Entscheidung müssten zuverlässige Informationen über die Menschenrechtssituation in den Herkunftsländern sein. Das europäische Asylsystem wurde seit 2005 kaum noch weiter entwickelt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Prioritäten verschoben haben. Mittlerweile steht im Vordergrund, von vornherein zu verhindern, dass Migranten überhaupt nach Europa kommen. Flüchtlinge würden nicht mehr aus der Perspektive ihrer Rechte, sondern allein als Sicherheitsproblem behandelt, kritisierte die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth bei der AI-Veranstaltung.

Hierin offenbart sich die Ambivalenz der europäischen Menschenrechtspolitik in einer weiteren Hinsicht. Menschenrechte würden oft anderen – politischen, ökonomischen, strategischen – Interessen untergeordnet, beklagten Teilnehmer mehrfach. So ist zwar bekannt, dass Roma in allen Staaten des ehemaligen Jugoslawien verfolgt werden. Trotzdem werden sie dorthin abgeschoben. Das Gleiche gilt für Afrika, wohin illegale Bootsflüchtlinge oft ohne Prüfung ihrer Fluchtgründe »rückgeführt« werden. Und locken neue Wirtschaftsverträge mit China, schaut man auch lieber nicht so genau hin.

Amnesty erwartet von der EU jedoch, Menschenrechtsverletzungen jederzeit »unmissverständlich« zur Sprache zu bringen. Dies gelte für die »strategischen Partner« Russland, China, USA genauso wie für die neuen Nachbarn der erweiterten EU und für Zentralasien. Im Zusammenhang mit der Verschleppung von Terrorverdächtigen durch die CIA forderte die deutsche AI-Generalsekretärin Barbara Lochbihler von der Bundesregierung »ein klares Wort, was sie tut, um künftig CIA-Flüge in die Folter über deutsches und europäisches Territorium zu verhindern«.

Die zehn Forderungen sollen am Montag (15. Jan.) offiziell Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) übergeben werden. Ein ähnliches Programm hatte Amnesty im vorigen Jahr der finnischen Ratspräsidentschaft auf den Weg gegeben. Lediglich in zwei Punkten konnte AI Fortschritte erkennen.

Ob die deutsche Bilanz besser ausfallen wird? Im Flüchtlingsbereich kaum. Die Vorgaben des Vertreters des Innenministeriums, Michael Frehse, waren deutlich: Grenzkontrolle, Datenaustausch, Rücknahmegespräche mit den Herkunftsländern. »Konsequente Rückführung ist Basis allen Handelns. Sie ist das Glied, das die Kette zusammenhält«, erklärte er.

* Aus: Neues Deutschland, 13. Januar 2007

Zehn Forderungen an die deutsche Ratspräsidentschaft

AMNESTY INTERNATIONA FORDERT DIE DEUTSCHE RATSPRÄSIDENTSCHAFT AUF,
  1. die interne Menschenrechtspolitik der EU so auszugestalten, dass sie die politik des Europarates ergänzt und mit der EU-Menschenrechtspolitik in den Außenbeziehunggen kohärent ist,
  2. mit konkreten Maßnahmen auf die Untersuchungen über die europäische Verwicklung in die illegalen US-Aktivitäten in Europa zu reagieren und die Bekämpfung des Terrorismus in der EU klar in den Rahmen der internationalen Menschenrechtsübereinkommen zu stellen,
  3. geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um den EU-Rechtsrahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung so zu erweitern, dass er alle Formen von Diskriminierung umfasst, einschließlich Hassreden und der Erscheinung des ethnic profiling,
  4. die Schutzlücken bei den Asylinstrumenten der ersten Phase zu schließen und eine erneute Diskussion zur Qualitätsverbesserung der Asylentscheidungen anzuregen,
  5. Standards zu entwickeln, die sicherstellen, dass Menschen, die kein Recht auf Aufenthalt in der EU haben, sicher und unter menschenwürdigen Umständen in ihr Herkunftsland zurückkehren können, und sich in ihren Beziehungen zu Drittstaaten im Migrationsbereich für die Wahrung der Menschenrechte einzusetzen,
  6. im Rahmen der EU-Erweiterung und der weiter gefassten Nachbarschaftspolitik für eine starke und konsistente Menschenrechtsdimension zu sorgen,
  7. Russland, China und die USA auf höchster Ebene zu drängen, ihre Defizite im Menschenrechtsbereich zu beseitigen und ihre einschlägigen internationalen Verpflichtungen zu erfüllen,
  8. die Umsetzung der Menschenrechtsleitlinien der EU zu verbessern und vor allem die Bemühungen für den Schutz von Menschenrechtsverteidigern und die Bekämpfung der Folter auf allen Ebenen zu verstärken,
  9. für die weitere Stärkung der zentralen Rolle der Menschenrechte bei der Konfliktprävention und bei Krisenbewältigungsmaßnahmen der EU zu sorgen,
  10. die EU so zu führen, dass sie bei der Förderung einer global governance durch den UN-Menschenrechtsrat und der Erarbeitung eines internationalen Vertrags zum Waffenhandel eine starke, konstruktive Rolle spielt.
Quelle: Die Ambivalenz der Menschenrechtspolitik der Europäischen Union, hrsg. von amnesty international, Sektion der Bundesrepubblik Deutschland, 2006;
im Internet: www.amnesty.de (pdf-Datei)




Pressemitteilung

Deutsche EU-Ratspräsidentschaft bietet Chance für die Menschenrechte

Berlin, 11. Januar 2007 - Am fünften Jahrestag der Errichtung des US-Gefangenenlagers Guantánamo hat die EU allen Anlass, bei den USA massiv auf die Schließung des Lagers zu drängen. Aber auch innerhalb der EU besteht Handlungsbedarf: Die in menschenrechtswidrige Geheimflüge der CIA verwickelten EU-Staaten haben ihre Rolle dabei noch immer nicht vollständig aufgeklärt. "Wir erwarten nicht zuletzt von der Bundesregierung ein klares Wort, was sie tut, um künftig CIA-Flüge in die Folter über deutsches und europäisches Territorium zu verhindern", sagte Barbara Lochbihler, Generalsekretärin der deutschen Sektion von amnesty international (ai), anlässlich der Vorstellung eines Zehn-Punkte-Programms für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. ai fordert darin die EU auf, ihre Anstrengungen gegen den Terrorismus ausnahmslos im Einklang mit internationalen Menschenrechtsabkommen durchzuführen.

"Die Ratspräsidentschaft bietet der EU eine neue Chance, die Führungsrolle in der internationalen Menschenrechtspolitik zu übernehmen", sagte Lochbihler. "Wir rufen die Bundesregierung auf, den Menschenrechtsschutz zu einer sichtbaren Richtschnur ihres Präsidentschaftsprogramms zu machen."

Weitere Schwerpunkte des Zehn-Punkte-Plans von ai sind:
  • Menschenrechtsverletzungen innerhalb der EU müssen erfasst und geahndet werden. Die EU-Grundrechteagentur muss zu einem effizienten Instrument des Menschenrechtsschutzes ausgestaltet werden, das auch für Terrorismusbekämpfung, Polizeivollzug und Strafjustiz zuständig ist. Der jetzt ausgehandelte Kompromiss hat eine große Chance vertan, den Menschenrechtsschutz innerhalb der EU zu stärken.
  • Die EU-Erweiterung und Nachbarschaftspolitik bedarf einer starken und konsistenten Menschenrechtsdimension. Das gilt auch für die geplante EU-Zentralasienstrategie. Hier muss die EU auf der Einhaltung des absoluten Folterverbots bestehen und sich für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzen.
  • Der Versuch, Europa zu erreichen, darf nicht zur Todesfalle werden. Die EU muss die Menschen wirksam schützen, die ihre Außengrenzen anstreben. Sie muss jedem, der ihr Territorium erreicht, ein faires Asylverfahren garantieren. Der Flüchtlingsschutz darf nicht auf EU-Anrainerstaaten ausgelagert werden.



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