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"Wir wenden uns gegen jede Aufweichung des Folterverbots"

amnesty international agiert erfolgreich gegen die Wahl von Horst Dreier zum Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts

Die Besetzung der höchsten Richterstellen ist hier zu Lande selbstverständlich auch oder sogar in erster Linie eine politische (Macht-)Frage. Dies zeigte sich soeben bei der Suche nach einer Nachfolge für den scheidenden Vizepräsidenten des Verfassungsgerichts, Winfried Hassemer. Die beiden großen Parteien teilen sich traditionell die Verfassungsrichterstellen auf, nur selten kommen auch kleinere Parteien zum Zug. Zuständig für die Wahl des Vizepräsidenten ist der Bundesrat. Die Bundesebene der Politik mischt aber kräftig mit. Die SPD präsentierte ohne jedes Fingerspitzengefühl als ihren Kandidaten Horst Dreier, gegen den erhebliche Bedenken insbesondere von Menschenrechtsorganisationen bestehen wegen dessen Relativierung des Folterverbots in Extremsituationen (siehe die Erklärung von amnesty international). Dass sich die CDU nun dieser Kritik anschloss, mag erstaunen, aber es könnten hier auch taktische Überlegungen im Spiel sein. Die Frankfurter Allgemeine schreibt am 2. Februar: "Er (Dreier) hatte .. darauf hingewiesen, dass es auch eine 'Würdekollision' geben könne - etwa im Falle einer Entführung, bei der der Täter gefasst ist, sich aber weigert preiszugeben, wo er das Opfer gefangen hält. Hier darf nach Ansicht Dreiers der Gedanke einer 'rechtfertigenden Pflichtenkollision' nicht von vornherein ausgeschlossen werden. In der Union werden Dreiers Ansichten zur Menschenwürde als 'Bruch mit der bisherigen Verfassungstradition' gewertet. Man erwarte zwar nicht, dass die SPD CDU-Leute vorschlage, aber hier gehe es um einen 'Anker unserer Werteordnung'. Von den Kirchen bis zu amnesty international seien Bedenken gegen die Ernennung Dreiers vorgetragen worden."
Im Augenblick scheint festzustehen, dass Dreier nicht zum Zuge kommt. Die Suche nach einem Vizepräsidenten des Verfassungsgerichts geht also weiter - und das ist gut so.
Im Folgenden zwei Artikel sowie der Offene Brief von amnesty international im Wortlaut.



Staatsrechtler stolpert übers Grundgesetz

Union blockiert Verfassungsrichter Dreier

Von Ines Wallrodt *


Weil er die in Artikel 1 Grundgesetz geschützte Menschenwürde relativiert, will die Union den Rechtsprofessor Horst Dreier aller Voraussicht nach nicht zum neuen Vize des Bundesverfassungsgerichts wählen.

Die Berufung eines Bundesverfassungsrichters ist eine recht geräuschlose Angelegenheit. Da er vom Bundesrat mit Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt werden muss, dealen SPD und Union die Personalien üblicherweise politisch aus. Wer einmal öffentlich als Anwärter benannt ist, hat die scharlachrote Robe im Grunde bereits an.

Ausnahmen gibt es auch hier. Der Streit 1993 um die Ernennung der SPD-Politikerin Herta Däubler-Gmelin war so ein Fall. Die Wahl des Würzburger Rechtsprofessors Horst Dreier zum neuen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts ist spätestens seit gestern ebenfalls einer.

Die Union will dem von der SPD vorgeschlagenen Kandidaten ihre Zustimmung verweigern. Bei den unionsgeführten Ländern stoße Dreier wegen seiner relativierenden Haltung zum Folterverbot sowie seinem Eintreten für eine Liberalisierung beim Embryonenschutz auf einhellige Ablehnung, hieß es.

Der Staatsrechtler vertritt in seinem Standardwerk zum Grundgesetz, dass in Einzelfällen die Menschenwürde des Täters gegen die des Opfers abzuwägen sei. Beispielsweise bei Entführungen, in denen der Täter in Polizeigewalt ist und den Aufenthalt des Opfers verschweigt, hält er eine »rechtfertigende Pflichtenkollision« für möglich. Übersetzt: In Extremfällen könnte Folter gerechtfertigt sein.

Wie in den Tagen zuvor von den Grünen kam am Freitag Kritik auch von der LINKEN. »Wer wie Dreier das Folterverbot relativiert, hat sich für das Amt eines Verfassungsrichters disqualifiziert«, sagte der Rechtspolitiker Wolfgang Neskovic. Ähnlich äußerte sich Amnesty International. Ein Richter, der den Schutz der Menschenwürde nicht eindeutig verteidige, sei für das Amt nicht geeignet.

Der 53-Jährige sollte Mitte Februar zum Nachfolger von Winfried Hassemer gewählt werden. In zwei Jahren wäre er – nach dem Ausscheiden von Hans-Jürgen Papier – zum Präsidenten des Karlsruher Gerichts aufgerückt. Papier hat, wie die große Mehrheit der Verfassungsjuristen, die Unantastbarkeit der Menschenwürde immer wieder gegen Aufweichungen verteidigt. Zuletzt beim Luftsicherheitsgesetz 2005. Keine »Abwägung Leben gegen Leben« ist der Kern der damaligen Entscheidung.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Februar 2008

Die Würde des Menschen ist unantastbar:

Offener Brief zur möglichen Wahl von Prof. Dreier zum Bundesverfassungsrichter

Herrn Jens Böhrnsen
Bürgermeister und Präsident des
Senats der Freien Hansestadt Bremen
Herrn Günther H. Oettinger
Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg

31.01.2008

Offener Brief

Sehr geehrter Herr Senatspräsident Böhrnsen,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Oettinger,

der Bundesrat soll am 15. Februar einen neuen Richter und Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts wählen. Für dieses Amt ist von der SPD Herr Prof. Horst Dreier vorgeschlagen worden. Als Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts ist ein Aufrücken in die freiwerdende Position des Präsidenten des Gerichts sehr wahrscheinlich - eine für unseren Staat sehr hervorgehobene Position.

Als Menschenrechtsorganisation, die sich für das absolute Folterverbot einsetzt und die Unantastbarkeit der Menschenwürde als Grundlage unseres Staatswesens ansieht, fordern wir von allen Repräsentanten des Staates, den Kern der Verfassung zu schützen und zu verteidigen.

Wir wenden uns gegen jede Aufweichung des Folterverbots und kritisieren deshalb die Kommentierung von Prof. Dreier zum Schutz der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG. Prof. Dreier stellt in RN 133 (Grundgesetz Kommentar, 2. Auflage, Band I, von 2004) fest, dass in Fällen, in denen nur noch die Würde des Opfers oder die des Täters verletzt werden kann, der "Rechtsgedanke der rechtfertigenden Pflichtenkollision nicht von vornherein auszuschließen" sei. Diese Formulierung legt nahe, dass die Würde ein "Gut" ist, welches in Fällen, bei denen die Würde des einen Menschen und die Würde eines anderen Menschen betroffen ist, abwägbar sei. Daraus ergibt sich in diesen Ausnahmesituationen eine Kollision zwischen der Achtungspflicht des Staates bezüglich der Menschenwürde und der Schutzpflicht, die sich für den Staat aus Art. 1 Abs. 1 GG ergibt. Die Achtungspflicht enthält dabei für den Staat unüberschreitbare Grenzen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz am 15. Februar 2006 diese Position deutlich bekräftigt. Wir haben Herrn Prof. Dreier aufgefordert, sich anlässlich seiner möglichen Wahl unmissverständlich zur Unantastbarkeit der Menschenwürde zu äußern. Eine Antwort darauf haben wir nicht erhalten.

Ein Richter, der den Schutz der Menschenwürde nicht eindeutig verteidigt und damit in der Konsequenz auch das absolute Folterverbot relativiert, ist für die Aufgabe eines Verfassungsrichters, oder gar eines Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, der den Kern der Verfassung zu verteidigen hat, nicht geeignet.

Angesichts dieser gravierenden Bedenken fordern wir Sie auf, von der Wahl Prof. Dreiers zum Richter am Bundesverfassungsgericht abzusehen.

Mit freundlichen Grüßen
Barbara Lochbihler
Generalsekretärin

amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.



Folterbefürworter fällt durch

SPD-Kandidat für Vizepräsidentschaft des Bundesverfassungsgerichts scheitert an Bedenken der CDU. Kritik der Linken an Nominierung **

Die geplante Wahl des Würzburger Staatsrechtsprofessors Horst Dreier zum Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts ist geplatzt. Nach ddp-Informationen teilte der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) seinem Bremer Kollegen Jens Böhrnsen (SPD) mit, daß die Union die Berufung Dreiers blockieren werde. Dreier war von der SPD für das Amt vorgeschlagen worden.

Die Union begründet ihre Ablehnung damit, Dreiers Positionen zum »Lebensschutz« und zum Thema Folter ließen sich mit christlich-demokratischen Grundwerten nicht vereinbaren. Oettinger koordiniert bei der Richterwahl im Bundesrat die CDU-Länder. Dreier sollte zunächst Vizepräsident – und damit Nachfolger von Winfried Hassemer – und im Februar 2010 Präsident des Verfassungsgerichts werden, wenn Hans-Jürgen Papier ausscheidet. Dreiers Wahl sollte ursprünglich am 15. Februar im Bundesrat erfolgen. »Nun muß die SPD einen neuen Vorschlag bringen«, hieß es am Freitag aus Unionskreisen.

In einem von ihm herausgegebenen Grundgesetzkommentar schließt der Staatsrechtsprofessor nicht aus, daß ein Verbrecher gefoltert werden dürfte, um das Leben des Opfers zu retten. Dort schreibt Dreier: »Nach Ausschöpfung aller anderen Mittel« könnten staatliche Organe sich im Einzelfall damit konfrontiert sehen, die Menschenwürde eines Täters »zu verletzen«.

Der Rechtsexperte der Linken im Bundestag, Wolfgang Neskovic, betonte am Freitag in Berlin: »Wer – wie Dreier – das Folterverbot relativiert, hat sich für das Amt eines Verfassungsrichters disqualifiziert und in diesem nichts zu suchen.« Es sei unverständlich, daß ausgerechnet die SPD mit diesem »Katastrophenvorschlag« das Geschäft von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) betreibe, »der sich bei diesem Vorschlag wohl die Hände gerieben hat«, sagte Neskovic. Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (ai) hatte am Freitag (1. Februar) in einem offenen Brief dazu aufgerufen, von der Wahl Dreiers abzusehen. (ddp/jW)

** Aus: junge Welt, 2. Februar 2008


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