Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Zankapfel Beschneidung

Fraktionsübergreifender Antrag ohne Grüne und LINKE / 45 Prozent der Deutschen für Verbot *

Das Kölner Beschneidungsurteil hat erste Konsequenzen. Die Bundesregierung wird nun aufgefordert, eine Rechtsgrundlage für diese religiöse Praxis zu schaffen.

Die Fraktionen von Union, FDP und SPD im Bundestag haben sich auf eine Resolution zur Beschneidung von Jungen verständigt. Damit wird die schwarz-gelbe Bundesregierung dazu gedrängt, eine gesetzliche Erlaubnis religiöser Beschneidungen zu schaffen. Wie aus dem Text hervorgeht, soll die Regierungskoalition den entsprechenden Gesetzentwurf im Herbst vorlegen. Er soll sicherstellen, »dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zusätzlich zulässig ist«. Am späten Donnerstagnachmittag sollte die Resolution nach einer Debatte im Bundestag verabschiedet werden. Zuvor wurde der Text in den Fraktion abgestimmt. Die Initiative für den Antrag stammt von dem Fraktionschef der Union, Volker Kauder (CDU).

Hier geht es zum CDU/CSU/SPD/FDP-Antrag:

pdf-Datei [externer Link]



In dem Gesetz müssten das Kindeswohl, die körperliche Unversehrtheit, die Religionsfreiheit und das Erziehungsrecht der Eltern berücksichtigt werden, heißt es in dem Entwurf der Resolution. Es wird darin betont, dass die Beschneidung bei Jungen nicht vergleichbar mit der Beschneidung von Mädchen sei. Letztere hat oftmals schwere gesundheitliche Folgen für die Betroffenen und wird deshalb in Deutschland als Genitalverstümmelung bezeichnet.

Zunächst hatten auch die Grünen ihre Bereitschaft signalisiert, sich der Resolution anzuschließen. Schlussendlich haben sich bei ihnen aber Bedenken durchgesetzt. Viele Abgeordnete wünschten sich zunächst eine intensive Diskussion zum Thema, erklärte Fraktionsvorsitzende Renate Künast. Das »Hau-Ruck-Verfahren« sei daher nicht angemessen, so die Politikerin. Die Fraktion habe die Abstimmung für ihre Abgeordneten freigegeben. Die Mehrheit der Grünen werde für den Antrag, »eine sehr große Zahl« aber dagegen stimmen, sagte Künast.

Auch in der Linksfraktion überwiegt Skepsis. Die LINKE wollte sich bei der Abstimmung enthalten, teilte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht mit. Sie kritisierte, dass ihre Partei nicht in die Erarbeitung der Resolution eingebunden war.

In einem Positionspapier machte Wagenknechts Fraktionskollegin Ulla Jelpke deutlich, dass sie die Beschneidung aus religiösen Grunde zwar ablehne. Ein generelles Verbot aber würde dazu führen, dass Familien, die es sich leisten können, ihre Kinder zur Beschneidung ins Ausland bringen. »Andere würden den Eingriff von nicht medizinisch geschulten Quacksalbern unter möglicherweise unzulänglichen hygienischen Bedingungen vollziehen lassen - mit allen gesundheitlichen Risiken für die betroffenen Kinder«, schreibt Jelpke.

Anlass des Antrags ist ein Urteil des Landgerichts Köln, dass Ende Juni die Beschneidung eines Jungen als Körperverletzung gewertet hatte. Das Urteil sorgt derzeit für Unsicherheit und Empörung bei Juden und Muslimen, bei denen die Beschneidung zur Tradition gehört.

Unterdessen wurde bekannt, dass sich fast die Hälfte der Deutschen für ein Beschneidungsverbot von Jungen ausspricht. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov sprachen sich 45 Prozent dafür aus, der Tradition einen Riegel vorzuschieben. 42 Prozent waren gegen ein Verbot, 13 Prozent hatten keine Meinung zu dem Thema. 83 Prozent der Befragten meinen, Religionen sollten nicht um jeden Preis an alten Traditionen festhalten. Nur neun Prozent vertreten die Auffassung, eine Modernisierung religiöser Bräuche sei nicht notwendig.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 20. Juli 2012


Messerscharfe Resolution

Von Christian Klemm **

Kaum ein Thema wurde in jüngster Vergangenheit so dramatisiert wie die Debatte zur religiös motivierten Beschneidung. In seltener Eintracht gehen Muslime und Juden gemeinsam gegen eine Entscheidung des Kölner Landgerichts auf die Barrikaden, das die Beschneidung eines Jungen als Körperverletzung bezeichnet hat. Sie sehen durch das Urteil die Religionsfreiheit gefährdet. Ein Vorwurf, den die Politik so nicht stehen lassen kann, schließlich ist die Ausübung der Religion ein Grundrecht im bundesdeutschen Staat. Und so hat sich nun eine große Koalition zusammengerauft und die Bundesregierung aufgefordert, eine Gesetzesgrundlage für religiöse Beschneidungen zu schaffen.

Was das Abschneiden der Vorhaut mit der Einschränkung der Religionsausübung zu tun hat, wurde weder in den vergangenen Wochen deutlich noch vorher. Deutlich wurde vielmehr, wie viel Unrecht Kindern unter dem Deckmantel religiöser Freiheiten angetan wird. Denn die Beschneidung ist ein unnötiger Eingriff, der gesundheitliche Schäden zur Folge haben kann. Ein gesundes Organ eines Kleinkindes wird mit einem Skalpell verletzt, und zwar nicht, weil es medizinisch irgendeinen Grund - zum Beispiel eine Verengung der Vorhaut - dafür gäbe. Der Schnitt wird nur gemacht, weil eine historische Überlieferung oder eine religiöse Schrift ihn vorschreiben. Das Kind selbst wird natürlich nicht gefragt, es wird einfach über seinen Kopf hinweg entschieden. Das ist Körperverletzung, die zu Recht durch die Gesetzgebung untersagt ist.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 20. Juli 2012 (Kommentar)

Hier geht es zum CDU/CSU/SPD/FDP-Antrag:

pdf-Datei [externer Link]



Positionspapier: Überlegungen zur Debatte über ein Beschneidungsverbot

Von Ulla Jelpke ***

Ein Kölner Gericht hatte die Beschneidung eines männlichen Babies, das dabei körperliche Verletzungen davon getragen hat, als Körperverletzung verurteilt. Dieses Urteil hat eine Debatte über die generelle Zulässigkeit der Beschneidung von Kindern aus religiösen Gründen ausgelöst. Sowohl muslimische Vereinigungen als auch der Zentralrat der Juden befürchten eine Einschränkung der Religionsfreiheit durch das Kölner Urteil, während Befürworter des Urteils mit dem Kindeswohl argumentieren.

Der Gesetzgeber betrachtet Kinder bzw. Jugendliche schon lange vor der Volljährigkeit ab dem 14.Lebensjahr als religionsmündig. Doch werden die meisten Menschen schon im Säuglingsalter durch den Willen ihrer Eltern zu Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft, aus der sie ab dem 14. Lebensjahr aus freier Entscheidung austreten können. Eine Taufe ist durch einen mit bürokratischen Aufwand und unter Umständen geringen Kosten verbundenen Austritt aus der evangelischen oder katholischen Kirche rückgängig zu machen. Dagegen kann eine Beschneidung auch bei einer Abwendung des betroffenen Jugendlichen vom Judentum oder Islam nicht mehr rückgängig gemacht werden. Insofern gilt es hier zu unterscheiden.

Ein generelles Beschneidungsverbot in Deutschland würde in der Praxis dazu führen, dass viele derjenigen diejenigen Familien, die es sich finanziell leisten können, ihre Kinder zur Beschneidung ins Ausland bringen. Andere würden den Eingriff von nicht medizinisch geschulten Quacksalbern unter möglicherweise unzulänglichen hygienischen Bedingungen vollziehen lassen – mit allen gesundheitlichen Risiken für die betroffenen Kinder. Ein Beschneidungsverbot würde sich hier geradezu kontraproduktiv im Hinblick auf das Kindeswohl auswirken. Auffällig an der Debatte um das Beschneidungsverbot ist, dass einige der entschiedensten Befürworter eines solchen Verbots aus Kreisen kommen, in denen eine religiöse Beschneidung nicht üblich ist. Dagegen finden sich kaum öffentliche Verbotsbefürworter unter Menschen, die selber aus religiösen Gründen beschnitten wurden. Im besten Falle handelt es sich um ein paternalistisches Vorgehen vieler an sich wohlwollender Beschneidungsgegner. Doch es drängt sich auch der Verdacht auf, dass für viele bei dieser Debatte das Kindeswohl nur vorgeschoben wird, um antisemitischen und antimuslimischen Vorurteilen Vorschub leisten zu können. Vor dem Hintergrund der Entrechtung und Ermordung der Juden unter dem Nazifaschismus, aber auch vor der jüngeren unter fremdenfeindlichen Vorzeichen geführten Integrationsdebatte, lautet die Botschaft der Beschneidungsdebatte bei vielen jüdischen und muslimischen Menschen schlicht: Ihr seid unerwünscht in Deutschland.

Bundeskanzlerin Angela Merkel lehnte ein Beschneidungsverbot mit den Worten ab: „Ich will nicht, dass Deutschland das einzige Land auf der Welt ist, in dem Juden nicht ihre Riten ausüben können.“ Nur zur Erinnerung: Auslöser des Kölner Urteils war eine Beschneidung in einer muslimischen Familie. Durch Merkels Äußerung entsteht der Eindruck, ein Beschneidungsverbot wäre rechtens, wenn es sich ausschließlich gegen einen muslimischen Ritus richten würde. Gegenüber Muslimen muss dies als Affront erscheinen.

Ich persönlich lehne die Beschneidung von Babys und Kindern aus religiösen Gründen zwar ab. Doch vor dem oben geschilderten Hintergrund halte ich ein generelles Beschneidungsverbot für ein ungeeignetes und missverständliches Mittel zum Schutze der betroffenen Kinder. Geboten ist Aufklärung über mögliche gesundheitliche Risiken - und ein Appell an die Eltern, doch mit einem solchen unwiderruflichen Eingriff zu warten, bis sich ihre Kinder ab dem 14.Lebensjahr aus freier Entscheidung für oder gegen die Religion ihrer Eltern entscheiden können.

*** Quelle: Website von Ulla Jelpke, 19.07.2012; www.ulla-jelpke.de


Zurück zur Menschenrechts-Seite

Zur Islam-Seite

Zurück zur Homepage