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Streitfrage: Sollte Beschneidung in Deutschland untersagt werden?

Es debattieren Irmingard Schewe-Gerigk (TERRE DES FEMMES) und Aiman Mazyek (Zentralrat der Muslime in Deutschland)


Ein Urteil des Landgerichts in Köln wird seit etwa zwei Wochen kontrovers diskutiert. Die Beschneidung eines minderjährigen Jungen aus religiösen Gründen ist nach Ansicht der Richter eine Körperverletzung und deshalb strafbar. Für sie ist die religiöse Beschneidung ein permanenter und irreparabler Eingriff und damit ein Verstoß gegen das Recht eines Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Besonders bei muslimischen und jüdischen Verbänden hat das Urteil Empörung ausgelöst, denn für sie ist die Beschneidung ein Teil ihrer religiösen Praktiken. Verletzt die Justiz also die Religionsfreiheit, einen Grundpfeiler der Bundesrepublik Deutschland?

Irmingard Schewe-Gerigk, Vorstandsvorsitzende der Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES, begrüßt das Urteil da es zeigt, dass die körperliche Unversehrtheit von Kindern auch nicht mit religiösen Argumenten verletzt werden darf. Aiman Mazyek,Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, sieht dagegen in dem Urteil des Kölner Landgerichts, in dem die Beschneidung auch als Körperverletzung gelten soll, einen eklatanten und unzulässigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften und in das Elternrecht.


Recht auf Unversehrtheit hat Vorrang

Von Irmingard Schewe-Gerigk *

Am 26. Juni hat das Landesgericht Köln entschieden, dass religiöse Beschneidung bei Kindern eine Körperverletzung ist und dass sich Ärztinnen und Ärzte, die sie dennoch vornehmen, strafbar machen. Als Vorstandsvorsitzende von TERRE DES FEMMES begrüße ich dieses Urteil, da es zeigt, dass die körperliche Unversehrtheit von Kindern auch nicht mit religiösen Argumenten verletzt werden darf.

Das Gericht hat bei der Güterabwägung zwischen zwei Grundgesetzartikeln klargestellt: Das im Grundgesetz verankerte Recht auf ungestörte Religionsausübung und das Erziehungsrecht der Eltern haben keinen Vorrang gegenüber dem vom Grundgesetz verbrieften Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung. Hinzu kommt die Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention, mit der sich Deutschland verpflichtet hat, Bräuche, die für Kinder schädlich sind, abzuschaffen. Dass dieser irreversible Eingriff nicht dem Wohl des Kindes entsprechen kann, machen nicht nur die Narkoserisiken sondern auch Nachblutungen, Fistelbildung und zum Teil lebenslange seelische Schäden deutlich.

Das ist auch der Grund dafür, dass die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie Beschneidungen ohne medizinische Indikation wie zum Beispiel eine massive Vorhautverengung ablehnt und auch die Krankenkassen die Kosten nicht übernehmen, wenn kein Heileingriff vorgenommen wird. Und welches Männerbild liegt dem nachgeschobenen Argument zugrunde, es sei hygienischer, die Vorhaut abzutrennen? Wasser ist bei uns kein Mangel und wie »Mann« sich wäscht, sollten Jungen früh lernen. Auch das Argument, in den USA seien über 70 Prozent der Männer beschnitten, taugt nicht. Im 19. Jahrhundert als Mittel gegen Masturbation eingeführt, steht die Beschneidung als Symbol der Sexualfeindlichkeit.

Als Menschenrechtsorganisation geht es TERRE DES FEMMES um etwas Grundlegenderes: Die körperliche Unversehrtheit von Kindern ist ein Menschenrecht und muss für alle Kinder gleichermaßen gelten, egal welcher Herkunft, Religion und welchen Geschlechts sie sind. Wir machen uns stark dafür, dass irreversible Eingriffe in die Unversehrtheit von Kindern - mit Ausnahme medizinisch notwendiger Behandlungen - generell verboten werden. Sie dürfen weder mit Religion noch Tradition gerechtfertigt werden. Menschenrechte sind nicht teilbar - auch nicht zwischen Mädchen und Jungen.

Dass dies in der Realität täglich dennoch geschieht, wissen wir als Mädchen- und Frauenrechtsorganisation nur zu gut. Denn: Seit 30 Jahren setzt sich TERRE DES FEMMES weltweit für ein Ende weiblicher Genitalverstümmelung ein, dem immer noch jährlich drei Millionen Mädchen zum Opfer fallen. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation sterben bis zu einem Viertel der Betroffenen an den unmittelbaren oder langfristigen Folgen wie Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt. Indem wir das Urteil des Landgerichts Köln begrüßen, behaupten wir nicht, dass die Schwere und Folgen weiblicher Genitalverstümmelung und männlicher Vorhautbeschneidung vergleichbar sind. Unser Anliegen ist es auch nicht, diese Praktiken gegeneinander aufzuwiegen.

Was wir brauchen, ist eine gesellschaftliche Debatte, die durch das Kölner Urteil endlich angestoßen wurde. Diese muss im gegenseitigen Respekt voreinander geführt werden und darf sich nicht pauschal gegen Menschen jüdischen oder islamischen Glaubens richten. Die Fragen sind aber: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Welche Werte sind uns wichtig? Uns ist bewusst, dass Verbote allein nicht ausreichen.

TERRE DES FEMMES wird seinen Beitrag dazu leisten, dass Eltern davon überzeugt werden, dass kleine Jungen ohne medizinische Notwendigkeit keinem riskanten Eingriff ausgesetzt werden dürfen. In der jüdischen Gemeinde gab es 2006 eine Umfrage, wonach ein Drittel der Eltern die Beschneidung ablehnen, aber dem Druck der Gesellschaft nicht standgehalten haben. Dennoch wächst die Zahl derer, die sich gegen dieses Ritual entscheiden.

Jungen sollen sich, wenn sie alt genug sind, selbst für oder gegen eine Beschneidung entscheiden können. Durch das Urteil sehen wir das Recht der Eltern auf Religionsausübung nicht eingeschränkt, wenn sie in Zukunft abwarten müssen, wie ihr Sohn sich später entscheidet. Weibliche Genitalverstümmelung hingegen ist und bleibt aufgrund der Schwere des Eingriffs und der massiven Folgen eine Menschenrechtsverletzung, der Ärztinnen und Ärzte nicht zustimmen dürfen, egal wie alt die Betroffenen sind.

* Irmingard Schewe-Gerigk ist Vorstandsvorsitzende der Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES.


Viel Polemik und wenig Wissen

Von Aiman Mazyek **

Wir sehen in dem Urteil des Kölner Landgerichts, in dem die Beschneidung auch als Körperverletzung gelten soll, einen eklatanten und unzulässigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften und in das Elternrecht. Zudem ist dadurch eine erhebliche Zunahme der Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten zu beobachten.

Die Religionsfreiheit ist ein sehr hohes Gut in unserer Verfassung und darf nicht Spielball einer eindimensionalen Rechtsprechung sein, die obendrein diesem Thema gegenüber bestehende Vorurteile und Klischees noch weiter verfestigt. Die Beschneidung (Tahara) der Jungen ist Bestandteil muslimischer Tradition und folgt der abrahamischen Praxis, die in allen monotheistischen Religionen über Jahrtausende weltweit bis heute angewandt wird. Darüber hinaus ist es wissenschaftlich erwiesen, dass eine medizinisch fachgerechte Zirkumzision nur Vorteile für die Kinder und späteren Erwachsenen mit sich bringt.

Jüdische, christliche und muslimische Religionsgemeinschaften sowie unterschiedliche zivilgesellschaftliche Organisationen in Deutschland haben zu diesem Urteil zahlreich Stellung bezogen. Bei ihnen allen trifft das Urteil auf breite Ablehnung, auch weil es bemerkenswert oberflächlich ausfällt und beinah ausschließlich religionskritische (um nicht zu sagen religionsfeindliche) Tendenzen aufweist. Es argumentiert also religionsperspektivisch und kaum juristisch. In dieser Form beteiligt es sich - vielleicht unbewusst - an einer strafrechtlich verkleideten Kulturkampfdebatte, die man seit Jahren gerade im Zusammenhang des muslimischen Lebens in Deutschland verstärkt beobachten kann. Als »Triumph des Vulgärrationalismus« hat der Kölner Schriftsteller Navid Kermani das Beschneidungsurteil des Landgerichts kritisiert. Darin drücke sich eine letztlich »fundamentalistische« Geisteshaltung aus, die den eigenen Verstand absolut setze und alles Religiöse in einem missionarischen Eifer ablehnt.

Die Aufgabe der Judikative ist eigentlich eine Rechtsprechung, die sich an dem breit angelegten Konsens zu orientieren hat. Darunter fällt unter anderem der Schutz der Menschenwürde, die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Friedens und nicht zuletzt die Freiheit der Religionsausübung. Das strafrechtliche Beschneidungsurteil hätte nüchtern auf den juristischen Prüfstand gestellt werden sollen. Auf diese Weise hätte sich die Kulturkampfrhetorik von begründeten juristischen Erwägungen ausdifferenzieren lassen. So entblößt sich das Urteil als das, was es ist: Ein (leider rechtskräftiges) Fehlurteil und eine Provinzposse.

Die muslimischen und übrigen abrahamitischen Religionsgemeinschaften gehen davon aus, dass die Gerichte dieses nicht am gesellschaftlichen Konsens orientierte Urteil korrigieren und fordern, dass ebenso die Legislative entsprechende Regulative auf den Weg bringt.

Diejenigen, die in Anlehnung an die Körperverletzung die Beschneidung von Jungen als eine rechtswidrige Handlung einstufen, verkennen, dass die rituell-abrahamitische Tradition gerade keine Bedrohung für die Gesundheit darstellt. Selbst die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt aus gesundheitlichen und hygienischen Gründen die Beschneidung bei Männern.

Desweiteren gibt es zahlreiche medizinische Studien, die die medizinisch-hygienischen Vorteile zweifellos beweisen. Im Rahmen der Qualitätssicherung wird die Beschneidung von den weltführenden Urologen auch in Deutschland in einer Positivliste geführt und als medizinisch-prophylaktische Maßnahme gesehen. Selbst wenn keine dringende medizinische Indikation besteht, ist es nicht gesagt, dass die Beschneidung langfristig nicht medizinisch sinnvoll wäre.

Das Kölner Landgericht stellt das angebliche Kindeswohl vor das hohe Gut der Religionsfreiheit und des Elternrechts, ohne näher auszuführen, was das Kindeswohl genau ausmacht. Geht es um Hygiene, Krebsvorsorge (sowohl für den Mann als auch für die Frau) und um die Vorbeugung von Geschlechtskrankheiten, so ist aus medizinischer Sicht die Sachlage unumstößlich zugunsten der Beschneidung. Geht es um den Schutz vor Ärztepfusch, so ist die bisherige Gesetzeslage durchaus ausreichend, Ärzte zu belangen, die ihre Berufspraxis nicht nach den Erkenntnissen der modernen Medizin ausüben.

Die menschliche Gesundheit hat Priorität im Islam, die Bewahrung der menschlichen Unversehrtheit ist ein ebenso göttliches Gebot. Aus diesem Grund wird das Beschneidungsritual erlaubt und gefordert. Zumal ermöglicht es dem Individuum die religiöse und soziale Vergemeinschaftung mit der entsprechenden Religionsgemeinschaft, in der entsprechend feierlich-pietätischen Einbindung im Sozialen. Dies begründet auch die Bildung von Identität. Die Gegner der Beschneidung, zu denen auch leider einige deutsche Juristen und Richter gehören, verfolgen nicht selten politische Motive und versuchen mit viel Polemik und wenig Wissen erneut Juden und jetzt auch Muslime zu kriminalisieren.

** Aiman Mayzek ist Vorsitzender des Zentralrates der Muslime in Deutschland.

Beide Debattenbeiträge sind erschienen in: neues deutschland, Samstag, 14. Juli 2012


Zum Urteil des Kölner Landgerichts zur Beschneidung von Jungen

Presseerklärung des Zentralrats der Juden in Deutschland, 26.06.2012

Der Zentralrat der Juden in Deutschland sieht im Urteil des Landgerichts Köln, das die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen als Körperverletzung bewertet hat, einen beispiellosen und dramatischen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften.

Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Dieter Graumann:

„Diese Rechtsprechung ist ein unerhörter und unsensibler Akt. Die Beschneidung von neugeborenen Jungen ist fester Bestandteil der jüdischen Religion und wird seit Jahrtausenden weltweit praktiziert. In jedem Land der Welt wird dieses religiöse Recht respektiert."

Der Zentralrat der Juden in Deutschland fordert den Deutschen Bundestag als Gesetzgeber auf, Rechtssicherheit zu schaffen und so die Religionsfreiheit vor Angriffen zu schützen.

Nach jüdischer Tradition wird ein Kind männlichen Geschlechts am achten Tag seines Lebens beschnitten. Der Beschneidung (Brit mila) wird große Bedeutung beigemessen: Dieses Ritual erinnert an den heiligen Bund, den Gott mit dem Stammvater Abraham geschlossen hat. Durch die Beschneidung des männlichen Gliedes wird das Kind in diesen Bund aufgenommen. Man kann die Beschneidung auf einen späteren Termin verschieben, wenn es dafür triftige, z.B. gesundheitliche Gründe gibt. Die Beschneidung wird von einem Arzt oder einem dafür zuständigen Kultusbeamten, dem Mohel, vorgenommen, der medizinische Kompetenz haben muss.

Frankfurt/Berlin, 26. Juni 2012/6. Tamus 5772



Rabbiner in Aufruhr

Konferenz ruft zu Beschneidungen auf / SPD und Grüne für Rechtssicherheit

Von Christian Klemm ***


Das Urteil zur Beschneidung schlägt weiter hohe Wellen. Gestern meldete sich unter anderem die Europäische Rabbinerkonferenz zu Wort.

Die Rabbiner haben die jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik dazu aufgerufen, die religiöse Tradition der Beschneidung von Jungen fortzusetzen. Ein mögliches Verbot der Praxis sei ein »fundamentales Problem für die weitere Existenz der jüdischen Gemeinden« in Deutschland, so der Präsident der Konferenz, Pinchas Goldschmidt, am Donnerstag in Berlin zum Abschluss mehrtägiger Beratungen der orthodoxen Rabbiner.

Grund für diese Äußerung ist ein Urteil des Landgerichts in Köln. Das hatte vor etwa zwei Wochen die Beschneidung eines muslimischen Jungen als Körperverletzung bewertet. Der Eingriff sei medizinisch nicht notwendig und entspreche nicht dem Kindeswohl, so die Begründung. Muslimische und jüdische Verbände üben harsche Kritik an dem Urteil. Das Jüdische Krankenhaus Berlin hat als Reaktion darauf religiös begründete Beschneidungen bis auf Weiteres ausgesetzt.

Die Beschneidung sei »ein Grundgesetz der jüdischen Religion«, so Goldschmidt. Deshalb dürfe nach dem Urteil nicht abgewartet werden, bis weitere Gerichtsentscheidungen getroffen oder neue Gesetze geschaffen werden, betonte er. Die Rabbinerkonferenz kündigte zugleich die Gründung eines eigenen Verbandes für jüdische Beschneider an.

Unterstützung erhielten die Geistlichen vom niedersächsischen Hartmannbund. Der Ärzteverband setzt sich dafür ein, Beschneidungen an Jungen weiter zuzulassen. Er reagierte damit auf einen Appell des Präsidenten der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, vorerst keine Beschneidungen mehr vorzunehmen.

Aus der Politik mehren sich derweil Forderungen nach gesetzlich verankerter Straffreiheit für Beschneidungen von Jungen. Politikerinnen von SPD und Grünen sprachen sich dafür aus, die Möglichkeiten für entsprechende gesetzliche Regeln auszuloten und so Rechtssicherheit herzustellen.

Die Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Terre des femmes, Irmingard Schewe-Gerigk, begrüßt in einem Beitrag für neues deutschland das Kölner Urteil, »da es zeigt, dass die körperliche Unversehrtheit von Kindern auch nicht mit religiösen Argumenten verletzt werden darf«. Sie sei »ein Menschenrecht und muss für alle Kinder gleichermaßen gelten, egal welcher Herkunft, Religion und welchen Geschlechts sie sind«, so die Feministin weiter.

Dem widerspricht der Vorsitzende des Zentralrat der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek. Er nennt die Kölner Entscheidung einen »eklatanten und unzulässigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften«. Die Religionsfreiheit sei ein hohes Gut und dürfe nicht Spielball einer eindimensionalen Rechtsprechung sein, meint Mazyek.

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 13. Juli 2012


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