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"Auch soziale Rechte sind Menschenrechte"

Wolfgang Grenz zum 50. Jahrestag von Amnesty International


Wolfgang Grenz ist stellvertretender Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International. Mit Aert van Riel sprach er über Perspektiven zur Durchsetzung der Menschenrechte und über die derzeitige Menschenrechtslage in Deutschland, den USA und Nordafrika.

ND: Im neuen Bericht hat Amnesty International für das Jahr 2010 Menschenrechtsverletzungen in 157 Ländern festgestellt. Handelt es sich dabei ebenso um ein Problem autoritär regierter Staaten wie auch parlamentarischer Demokratien?

Grenz: Ja, auch in Westeuropa kommt es zu Menschenrechtsverletzungen. In unserem Report gibt es auch ein Kapitel über die Bundesrepublik.

Wie ist die derzeitige Menschenrechtslage in Deutschland?

Wir haben Fälle dokumentiert, in denen Asylanträge von Flüchtlingen abgelehnt wurden, ohne zu berücksichtigen, wie die Verhältnisse in den Herkunftsländern, zum Beispiel in Eritrea oder für Roma in Kosovo, sind. Unser Schwerpunkt war die Aufklärung von mutmaßlichen Misshandlungen durch die Polizei. In vielen Fällen konnte nicht herausgefunden werden, wer der Täter war. Deshalb fordern wir die Einführung einer individuellen Kennzeichnungspflicht für die Polizei. Inzwischen haben Berlin und Brandenburg die Einführung der Kennzeichnungspflicht beschlossen. Auch in den Koalitionsvereinbarungen von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ist diese verankert. Zudem wollen wir unabhängige Untersuchungsmechanismen einführen, denn es gibt in manchen Fällen Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Strafverfolgungsbehörden.

Im Bericht werden auch die Vereinigten Staaten erwähnt. Wie groß ist die Enttäuschung über Präsident Barack Obama mit Blick auf Guantanamo?

Ob wir enttäuscht sind oder nicht, ist nicht maßgeblich. Entscheidend ist, dass Obama sein Versprechen, Guantanamo in kurzer Zeit zu schließen – was wir immer gefordert haben – nicht erfüllt hat. Nach wie vor gibt es viele Gefangene, die dort unter menschenunwürdigen Bedingungen inhaftiert sind und es finden schwere Menschenrechtsverletzungen statt.

Auch in Afghanistan kommt es beim »Krieg gegen den Terror« zu Menschenrechtsverletzungen.

Allein, dass die NATO in Afghanistan ist, ist keine Frage der Menschenrechte. Unsere Kritik zielt vielmehr auf menschenunwürdige Haftbedingungen in afghanischen Gefängnissen und in denen, die die Amerikaner dort betreiben, ab.

Auch in Libyen führt die NATO Krieg. Offiziell, um die Bevölkerung vor den Truppen Gaddafis zu schützen.

Zur Frage, ob die militärische Intervention gerechtfertigt ist oder nicht, nehmen wir nicht Stellung. Als es die Diskussion über die Flugverbotszone gab, reichten unsere Informationen nicht aus, um zu belegen, dass von Gaddafis Truppen schwere Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Es war nicht zu unterscheiden, ob es kriegerische Maßnahmen beider Seiten sind oder ob tatsächlich Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht begangen wurden. Wir haben Mitarbeiter in Misrata und in Bengasi. Diese haben in den Wochen danach dokumentiert, dass es hier zu Übergriffen der Gaddafi-Truppen auf Oppositionelle gekommen ist. Zudem wurde gezielt auf die Zivilbevölkerung geschossen.

EU-Staaten sprechen derzeit oft vom Schutz der libyschen Zivilbevölkerung. Ist es nicht widersprüchlich, dass diese Staaten Flüchtlinge aus Nordafrika nicht aufnehmen wollen?

Das ist widersprüchlich. Der Hohe Flüchtlingskommissar der UNO hat an die EU appelliert, dass die von ihm anerkannten Flüchtlinge, die zum großen Teil aus Libyen nach Ägypten und Tunesien geflohen sind – eine Gruppe von 8000 Menschen – aufgenommen werden sollen. Dieser Aufforderung sind die EU und Deutschland bisher nicht gefolgt. Das bedauern wir. In Europa wird über 30 000 Menschen diskutiert, die nach Italien gekommen sind. Im selben Zeitraum sind mehr als 600 000 Menschen von Libyen nach Tunesien und Ägypten geflüchtet.

Welche Perspektiven sehen Sie für die Demokratiebewegungen in Ägypten und Tunesien?

Es steht auf Messers Schneide, ob sich die Demokratie dort durchsetzt. Wir glauben, dass durch die Öffentlichkeit, die auch durch die Neuen Medien hergestellt worden ist, sich die Demokratiebewegung weiterentwickeln kann. Die Machthaber in Tunesien und Ägypten sind zwar weg, aber die Institutionen weitgehend geblieben. Menschen, die für Folter verantwortlich sind, bleiben in ihren Ämtern. Festgenommene ägyptische Demonstranten werden auch heute in Haft gefoltert. Wir fordern die EU auf, die Zivilgesellschaft zu unterstützen. Auch durch wirtschaftliche Hilfe, um den Menschen eine Lebensperspektive zu schaffen.

Amnesty wird 50 Jahre alt. Ist in diesem Zeitraum ein Fortschritt beim Kampf für Menschenrechte zu erkennen?

Ein großer Fortschritt ist, dass inzwischen 139 Staaten die Todesstrafe abgeschafft haben. Vor 50 Jahren hatten nur 19 Staaten keine Todesstrafe. Als Amnesty anfing, gab es zwar die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, aber keine Kontrollmechanismen für Staaten. Da haben wir auch mit anderen zusammen eine Menge erreicht. Die UN-Konvention etwa gegen Folter, die Kinderrechtskonvention und Konventionen gegen die Diskriminierung von Frauen wurden geschaffen. Wenn wir Staaten für ihre Menschenrechtsverletzungen kritisieren, kann man sich in vielen Fällen darauf berufen, dass die Staaten diese Konventionen unterzeichnet haben.

Welche Schwerpunkte wird Amnesty in den nächsten Jahren setzen?

Zu Beginn haben wir uns für politische Gefangene eingesetzt. Das Recht auf freie Meinungsäußerung sehen wir auch nach 50 Jahren als einen Schwerpunkt an. Außerdem den Einsatz gegen Folter, Todesstrafe und für Flüchtlingsschutz. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Kampf gegen Straflosigkeit. Wir haben die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag gefordert und mitgefördert. Auch Staatschefs und andere Verantwortliche für Menschenrechtsverbrechen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Außerdem versuchen wir seit dem Jahr 2001, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte als gleichwertige Menschenrechte zu etablieren.

Chronologie: 50 Jahre Amnesty International

28. Mai 1961: Start von Amnesty International: Peter Benenson veröffentlicht den Artikel »The Forgotten Prisoners« im »Observer«

1965: Amnesty veröffentlicht erste Berichte über unmenschliche Haftbedingungen (Südafrika, Portugal, Rumänien)

1969: Amnesty erhält Konsultativstatus bei der UNO März 1973: Erste Eilaktion (Urgent Action) zugunsten des Brasilianers Luiz Rossi

Oktober 1977: Amnesty erhält den Friedensnobelpreis

März 1990: Amnesty gründet sich in der DDR

2011: Amnesty hat mehr als drei Millionen Mitglieder und Unterstützer in mehr als 150 Ländern



* Aus: Neues Deutschland, 27. Mai 2011


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