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Hymne auf die Vogelscheuche

Zum Tod von Günter Grass

Von 2015-04-15

Von Hans-Dieter Schütt *

Seine Literatur roch gern am Verderblichen. Hörte gern das Verrauschende. Schmeckte gern das Verträgliche. Sah gern das Vergängliche. Fühlte gern das Verzeihliche. Sagte gern das Vergebliche. Günter Grass recherchierte lebenslang an einer Unfallstelle: Deutschland. Sein Thema waren jene Übergänge, an denen Gut und Böse, Rechts und Links, Fortschritt und Reaktion, Gleichgültigkeit und Fanatismus sich mischen. Sein Werk schärft den Blick dafür, dass Historie, diese vergebliche Sinngebungsübung im unendlich gleichgültigen Meer von Raum und Zeit, zersplittert ist in Geschichten. Denn nur immer wieder im Detail, im konkreten Fleisch und Blut und Geist, ist zu erforschen, inwieweit Menschen Ausdruck von Bedingungen ihrer Zeit sind, inwiefern sie auf diese Weise Möglichkeiten von Leben entdecken, aber zugleich immer auch bestohlen werden um Möglichkeiten von Leben. Sich entdecken, sich bestehlen. In ihrer Vielzahl ergeben diese Geschichten »die Geschichte« - die, tausendfältig gebrochen, doch mehr ist als die Summe ihrer Tendenzen. Grass lenkte hin zur deutschen Art, die in jedem von uns lebt. Als geistige Anlage oder Rudiment, als emotionale Gegebenheit oder Gefahr, als Gedächtnisqual oder Gedankenquell, als Verdrängtes tiefinnen, als Tugend brustbreit herausgekehrt oder als Kainsmal auf der Stirn.

Eines seiner großen Bücher - unverdient eine Randexistenz neben all dem, was um den Namen Grass Wirbel und Wirren und Weltruhm und Wirkung schuf - ist: »Mein Jahrhundert«. Jedem Jahr des 20. Säkulums gehört eine Geschichte, und Grass schreibt: »Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabeigewesen.« So bekennt der Dichter Verstrickung. Wechselnde Erzählstimmen und ein Prisma der volksatmosphärischen deutschen Sonderbarkeiten. So gelangt der Zopf eines 1900 geköpften Chinesen auf einen Straubinger Faschingsball, »zur allgemeinen Gaudi«. So darf ein SS-Mann die brutale Ermordung Erich Mühsams kundtun. Und so kann es auch geschehen, dass sich ein Brautpaar im Frankfurter Römer verläuft und statt beim Standesbeamten im Auschwitz-Prozess landet. Und ein Boulevardjournalist beichtet seinen Hass auf Brandt und dessen Kniefall bei den »Polaken« ...

Grass löst Fülle des Zeitgeschehens auf, spielt aggressiv hier, lächelnd dort - mit politischen, wissenschaftlichen, kulturellen, sportlichen Ereignissen und verquickt sie mit der Exotik meist erfundener Biographien sympathischer und bösartiger, sensibler und plumper Leute. Manchmal ist der Ton dokumentarisch, publizistisch - da ist der Komödiant, der bis ins Tiefste immer auch Kommentator bleibt. Das ist für manchen immer wieder das Problem von Grass’ Prosa gewesen, für andere das schöne ästhetische Spezifikum. Von 1977 heißt es im Buch, über Biermann: »Kaum war er ausgebürgert, hofften wir alle, daß solch ein Mut Folgen haben, sich dieser Mut nun im Westen erproben werde. Aber da kam nicht mehr viel. Später, viel später, als die Mauer kippte, war er beleidigt, weil das ohne sein Zutun geschah. Kürzlich hat man ihn mit dem Nationalpreis geehrt.« Grass, der Unbestechliche.

Das Werk des Mannes, der am 16. Oktober 1927 als Sohn eines Kolonialwarenhändlers in Danzig geboren wurde, ist kaschubisch, der Bürger Grass europäisch. Das Ostelbische gab seiner Literatur den erdigen, küchendampfenden, kartoffelfeurigen Geruch und den speziell vertrackten, so merkwürdig sich ausstülpenden Kleine-Leute-Ton. Die gefühlte Zugehörigkeit zum Pommerschen erhob Grass seit jeher zu einem kritischen Fremden innerhalb westlicher Selbstzufriedenheiten; er war den Ursprungssehnsüchten von schwachen, in ihrer Schwachheit auch bösen Existenzen stets näher als denen, die fürs Höhere andere bevorzugt niederdrücken. Sein Engagement für Brandts Ostpolitik, seine Solidarität mit Polens »Solidarność«, seine offene Kritik an der »sozialistischen« Unfreiheit in der DDR hatte da ihre Ausgangspunkte - aber ebenso sein Einspruch gegen bundesdeutsche Arroganzen bei der Wiederherstellung Deutschlands aus zweistaatlicher Unnatur.

Er pochte jederzeit aufs Recht, widersprüchlich zu sein. Das machte ihn unberechenbar, untauglich für eine störfallsichere Fixierung aufs sogenannte Gewissen der Nation, das die veröffentlichte Meinung gern als Elle für intellektuelle Redlichkeit benutzt - hinter dessen Postulierung aber meist auch nur eine sehr parteiische Denkvorschrift liegt. Wer in geistigen Dingen Unberechenbarkeit noch immer als moralischen Makel betrachtet, möge darüber nachdenken, dass es möglicherweise nichts Schlimmeres gibt als einen Menschen, der berechenbar sein möchte. Ausrechenbar, festlegbar. Der Mensch als Rechenexempel - auf wessen, für wessen Rechnung eigentlich?

Grass’ Bücher verweisen auf die Unausweichlichkeit von Schuld, die jeder auf sich lädt, der in Wirren der Zeit eine Entscheidung trifft. So wie Grass seine Gestalten nicht vor diesem Konflikt schützte, so hat er sich selbst von solcher Schuld nie ausgenommen. Jede Stellungnahme etwa im Kosovo-Krieg, so Grass, sei »eine tragische Entscheidung. Wer mit guten Argumenten gegen den Militärschlag war, macht sich schuldig gegenüber den verfolgten, misshandelten und vertriebenen Kosovo-Albanern. Und wer, wie ich, die Notwendigkeit dieser Militärschläge eingesehen hat, ist mitschuldig an dem, was auf schreckliche Weise wortwörtlich danebenging. Aus Geschichte kommt niemand mit weißer Weste davon.« So legte er sich mit Arbeiterverrätern in der vermeintlichen Arbeiterführung, mit stalinistischen Propagandaspuckern auf den 17. Juni 1953 an (»Die Plebejer proben den Aufstand«). So verteidigte er eine angeblich zu regimetreue Christa Wolf gegen selbstsicher strotzende Bürgerlinge. So steigerte er sich in quälendem nahöstlichem Friedenswillen in ein unsägliches Israel anklagendes »Gedicht« hinein und versank oft im hyperplakativen Zeitungsdienst. Als »seine« SPD die Asylgesetzgebungen inhuman verschärfte, verließ er die Partei. Radikal in seiner Liberalität, wie kaum ein anderer blieb er somit entschieden gleichzeitig Staatstragender wie Gesellschaftskritiker. Dafür haben ihn die Achtundsechziger erst gelobt, dann gehasst, und die ost- wie die westdeutsche Linke hat diesen Mann - einen demokratischen Sozialisten (als Definition für wahre Sozialdemokratie) - nie auf einen einzigen Gesinnungsnenner festlegen können. Von Lobbyisten und Treuhändern wurde er angegriffen, von Bellizisten und Pazifisten, vor allem immer wieder von jenen, die Freiheit sagen, aber Börsengewinne meinen.

Grass erzählte, malte, zeichnete, bildhauerte, dichtete. In seinem Erzählen war er am größten, in seiner Dichtung wohl sich selbst am nächsten. Seine Lyrik ist betont ungehemmt. Grass tänzelte und scharwenzelte, er stapfte und stampfte auf seinen Versfüßen; es herrscht im Gedicht eitel Sonnenschein beim Aufrufen der Traurigkeiten und eitel Regenschleier bei den Exerzitien der Melancholie. Der Mann trug Schnauzbart, das sperrte jedes Lachen irgendwie weg. Die Gedichte jedoch tragen den Schnauzbart nicht, Grass lächelt, gurrt (der Täuberich), tollt herum. Er sucht im Vers die Wahrheit und gesteht, sie vor allem in den Täuschungen zu finden. Er schrieb den Vogelscheuchen einen wunderbaren Text, gewidmet dem Leben, das in alten Klamotten Gespräche mit Salat und Unkraut führt. Seine »Blechtrommel« wird zum erfolgreichsten deutschen Roman, und ein wenig begleitete Grass die Aura des grandiosen Ein-Roman-Schreibers, er ist ein früher Weltmeister seiner selbst geworden, dem (trotz »Die Rättin«, »Hundejahre«, »Der Butt«, »Unkenrufe«) kein zweiter vergleichbarer Gipfel wuchs. Man sagt, Gabriel García Márquez (»Hundert Jahre Einsamkeit«) habe in etwa das gleiche Schicksal. Die »Blechtrommel«-Verfilmung von Volker Schlöndorff bekommt den Oscar. Aber den Nobelpreis, den erhält Heinrich Böll. Grass hat ihn dann erst 27 Jahre später. Der letzte Nobelpreis des 20. Jahrhunderts.

»Beim Häuten der Zwiebel«. Auch eines seiner starken Bücher. Nicht das, nicht vom, sondern: beim Häuten der Zwiebel. Das Pronomen der Vorläufigkeit. Die letzte Haut ist nicht offengelegt, es gibt nur vorletzte Wahrheiten. Erinnerung als Porträt einer Fluchtbewegung - die doch zwangsläufig einsetzt, wenn ein Mensch dem Ich auf den Grund gehen will. Auskünfte über den Gang des eigenen Werdens und Vergehens; ach, dieser zwei Untrennbaren, dieser zwei hartnäckig Gleichzeitigen. Bei sich sein? Wahr sein? Jeder ist ein Lügner eines Bildes, das er sein Leben nennt. Im Buch das sehr späte SS-Meldebekenntnis. Kritisiert wurde Grass daraufhin nahezu enthäutend - »sicherlich von Schreibern«, so Christa Wolf, »das will ich doch voraussetzen, die selbst immer frank und frei mit den Peinlichkeiten ihres Lebens umgehen«.

Dieser Autor trat in die bundesdeutsche Literatur ein, als es darum ging, Krieg und Faschismus aus den Seelen zu räumen, den Geist der Deutschen wieder als weltoffene und weltfreundliche Kraft zu beweisen und im Lande selbst eine kritische, frei denkende und sprechende Öffentlichkeit zu etablieren. Drei historische Großleistungen. Grass entdeckte dabei sein Doppeltalent: das Gestalten und das Meinen. Er ließ davon nicht ab im Wechsel der Atmosphären: da in den Jahren das Wort mal barrikadenhoch flammte, mal sich zurückzog in den Elfenbeinturm, mal politisches Aufputschmittel in Diensten, mal ungebundener Hauch, der sich selbst genügen darf. Grass, die Instanz: mal benötigt, mal bespöttelt. Volker Braun schrieb: »In den Kämpfen, die bevorstehn, der Erdteile, der Landschaften, der Industrien und Ideologien, werden die Waffen wieder Steine sein und die Vernunft wird Worte brauchen.« Grass gab sein Wort jederzeit. »Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabeigewesen.«

Gern leben heißt aber auch: als Ich nicht austauschbar überall dabeigewesen sein zu wollen. Nicht zu müssen. Es heißt, die eigene Welt nicht an die Welt zu verlieren - und doch bewusster Welt-Bürger zu bleiben. Spannungsgelände, sehr vermint. Das war das »Weite Feld« des Günter Grass, der am Montagmorgen im Alter von 87 Jahren in einer Lübecker Klinik starb.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 14. April 2015


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