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Warten auf den Robocop

Rezension. Der Archäologe Ian Morris verfaßt ein Loblied auf den Krieg. Er hofft dabei auf die baldige Ablösung der Menschheit durch intelligente Maschinenwesen

Von Thomas Wagner *

Ist organisierter Massenmord, den wir Krieg zu nennen gewohnt sind, zu etwas gut? Ian Morris, ein an der Universität in Stanford lehrender Archäologe, Althistoriker und international vermarkteter Bestsellerautor, glaubt die Frage uneingeschränkt mit Ja beantworten zu können. Dabei hat er nicht einen bestimmten Krieg im Sinn, etwa gegen die europäische Kolonialherrschaft oder für die Befreiung Deutschlands vom Nazifaschismus. Morris meint vielmehr, daß dem Krieg als solchem eine zivilisatorische Qualität zukomme, ohne die humanitärer Fortschritt nicht möglich sei.

In seinem 2013 im renommierten Campus Verlag erschienenen Buch »Krieg. Wozu er gut ist« behauptet er, daß der Krieg die Welt durch »die Schaffung größerer Gesellschaften, stärkerer Staaten und größerer Sicherheit« auf eine produktive Weise bereichert habe. Kriege seien zwar die denkbar schlimmste Methode zur Schaffung größerer, friedfertiger Gemeinwesen, »aber andererseits so ziemlich die einzige, auf die der Mensch gekommen ist«. Da die Menschen »ihr Recht, einander zu töten oder zu berauben« nicht freiwillig aufgeben, sei kriegerische Gewalt oder die unmittelbare Angst davor der einzige Weg dazu gewesen, um friedliche Zustände herzustellen.

In historischer Perspektive sei der Krieg, trotz seiner Schrecken, das kleinere Übel gewesen, »weil die Geschichte zeigt, daß er nicht so schlimm ist wie seine Alternative: Gewalt auf Steinzeitlevel als Normalzustand, und das Tag für Tag«. Dem liegt eine negative Anthropologie zugrunde, die den Menschen in erster Linie als Bestie versteht: »Das Tier ist Teil von uns, von ganz innen, innen, innen. Für uns kommt Totschlag vor Palaver, weil wir von Natur aus geborene Killer sind.«

Das Todesspiel

Erst die gewaltsame Herausbildung von immer größeren Staaten, Morris nennt diese in Anlehnung an eine bekannte Schrift des englischen Philosophen Thomas Hobbes »Leviathane«, habe das Biest im Menschen gezähmt und die Gattung auf den Weg der Zivilisation gebracht. Er schreibt: »Gesellschaftliche Entwicklung entspricht nicht genau Leviathans Stärke, kommt ihr aber sehr nahe.« Erst der zentral regierte Staat sei in der Lage gewesen, die Menschen in großem Maßstab zu disziplinieren, etwa junge Männer dazu zu überreden, in lebensbedrohlichen Situationen Befehlen zu gehorchen. Das »gehört zu Leviathans größten Leistungen«, meint Morris.

Kulturelle Entwicklung, ökonomischer Fortschritt und staatliche Gewalt bilden für ihn eine unauflösliche Einheit: »Gewalt und Kommerz sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, denn die unsichtbare Hand braucht eine unsichtbare Faust, die ihr den Weg ebnet, bevor sie ihren Zauber bewirken kann.« Auf die sich auf diese Weise vollziehende Entwicklung können Menschen planend kaum einen Einfluß nehmen, denn für den Historiker unterscheidet sich die Geschichte nicht vom Prozeß der natürlichen Auslese. »Ließe man uns wählen, wie wir aus der mittellosen gewalttätigen Steinzeit zu Frieden und Wohlstand unserer Tage kommen wollten, sähen sicher nur wenige von uns gerne Krieg als Mittel zum Zweck, aber die Evolution – nichts anderes ist die Menschheitsgeschichte – wird nicht von unseren Wünschen getrieben. Am Ende ist das einzige, was zählt, die finstere Logik des Todesspiels.«

Heute hänge das Wohl der gesamten Menschheit von der Fähigkeit der USA ab, ihre Vorherrschaft in der Welt gegen Anfechtungen jeder Art erfolgreich zu behaupten und es zugleich zu verhindern, daß der Einsatz von Massenvernichtungsmitteln der Gattungsgeschichte ein Ende setzt. »Über Tausende von Jahren hinweg schuf der Krieg (auf lange Sicht) Frieden, sorgte die Zerstörung für Wohlstand. In unserer Zeit jedoch führt die Menschheit ihre Kriege so gut – unsere Waffen sind so destruktiv geworden, unsere Organisationen so effizient –, daß der Krieg Kriege dieser Art unmöglich zu machen beginnt.«

Für die nähere Zukunft sieht der Autor nur zwei Entwicklungsmöglichkeiten: Entweder vernichtet sich die Menschheit mit Hilfe von Atomwaffen selbst, oder es gelingt ihr, unter der Leitung der Hegemonialmacht USA so lange durchzuhalten, bis der technologische Fortschritt für die Abschaffung des Krieges sorgt. In beiden Varianten spielen Menschen, wie wir sie heute kennen, keine Rolle mehr. In der Welt ohne Krieg, die Morris vorschwebt, ist der Homo sapiens durch eine höhere, künstliche Intelligenzform abgelöst worden. Der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in der Ausgabe vom 4. November 2013 hat die Pointe dieses posthumanen Zukunftsentwurfs offensichtlich nicht verstanden. Er hält Morris unangebrachten »Optimismus« vor.

Fehlende Daten

Tatsächlich krankt dessen Geschichtserzählung zunächst vor allem an mangelnder historischer Sachkenntnis, falschen Prämissen und einem Übermaß an Spekulation. So bleibt Morris seinen Lesern den Beweis für seine Kernthese schuldig, daß ausgerechnet kriegerische Zerstörung über Tausende Jahre hinweg für mehr Wohlstand gesorgt habe. Das hat zunächst vor allem damit zu tun, daß gesicherte Daten für die von ihm angestellten historischen Vergleiche weitgehend fehlen. Zentrale Behauptungen beruhen auf bloßer Spekulation oder erweisen sich gar als nachweislich falsch. Ersteres trifft auch für seine Unterstellung zu, wonach »in Steinzeitgesellschaften etwa zehn bis 20 Prozent der Menschen eines gewaltsamen Todes starben«, in den Reichen der Han-Chinesen oder der Römer zwischen zwei und zehn Prozent selbiges Schicksal ereilte, im 20. Jahrhundert hingegen »nur ein bis zwei Prozent der Weltbevölkerung gewaltsam zu Tode gekommen sind«. Nur für den jüngsten der genannten historischen Zeiträume liegen einigermaßen gesicherte statistische Daten vor. Für die Steinzeit hegt Morris lediglich eine »Vermutung«, und was die genannten Reiche der chinesischen Han und der Römer betrifft, schreibt er, es gebe »praktisch keine quantifizierbaren Informationen«.

Aber auch dort, wo es Einzelstudien gibt, stützen diese keineswegs eindeutig seine These von der durch den Krieg bewirkten Pazifizierung. Eine jüngere Untersuchung an Schädeln aus den Sammlungen der Universität Tel Aviv hat für die letzten 6000 Jahre, wie Morris selbst einräumt, kaum erhebliche Unterschiede im Gewaltniveau feststellen können. Doch obwohl er zugibt, daß es schwierig sei, »die Sterblichkeit durch Gewalteinwirkung in prähistorischen Steinzeitgesellschaften zu beziffern« und er selbst für Europa wenige verläßliche Studien kennt, die weiter zurück als bis 1500 v. u. Z. reichen, hält ihn das nicht von pauschalen Aussagen über die angebliche Gewaltaffinität früher, staatsloser Gesellschaften ab.

Bereits in seinem 2011 erschienenen Buch »Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden« suggeriert er: »Das Leben der Jäger und Sammler war bekanntlich von Gewalt bestimmt; es gab keine Hierarchien, die Leidenschaften im Zaum gehalten hätten, und für junge Angehörige dieser Gruppen war häufig auch Mord ein akzeptiertes Mittel, Streitigkeiten zu entscheiden. Um aber in Siedlungen zusammenleben zu können, mußten die Menschen lernen, die Gewalt zwischen den Siedlungsmitgliedern in Grenzen zu halten. Wem das gelang, dem ging es besser – und er konnte seine aggressiven Impulse gegen andere Gemeinschaften einsetzen, um deren Reichtümer zu rauben.«

Zwar erwähnt er in seinem Buch »Krieg. Wozu er gut ist« an einer Stelle, »daß selbst die wildesten Kulturen über komplexe Netzwerke von Verwandtschaft, Geschenkaustausch und Festivitäten verfügen, mit Hilfe derer sie friedliche Lösungen für die meisten Konflikte suchen«. Aber diese Feststellung bringt ihn nicht von der Behauptung ab, sie hätten mehr Gewaltopfer hervorgebracht als frühe Staaten, deren Angehörige zwar weniger gleich als die früherer Zeiten gewesen seien, »aber dafür reicher und wahrscheinlich sicherer«. Dort, wo Ethnologen versucht haben, statistisches Material über gegenwärtige Gesellschaften von Jägern und Sammlern zu gewinnen, bestätigen sie Morris’ Vermutungen nicht. Im Jahr 2006 hat der Ethnologe Jürg Helbling die vorliegenden Untersuchungen über gewaltsam ausgetragene Konflikte in Gesellschaften ohne Staat in seinem ebenfalls im Campus Verlag erschienenen Buch »Tribale Kriege. Konflikte in Gesellschaften ohne Zentralgewalt« ausgewertet. Dabei stellt sich heraus, daß die vorliegenden Zahlen über gewaltbedingte Todesfälle in Jäger-und-Sammlergesellschaften wesentlich geringer sind als die von Morris genannten zehn bis 20 Prozent. Bei der indigenen Bevölkerung der südostasiatischen Andaman-Inseln betrug die gewaltbedingte Sterblichkeit lediglich vier bis fünf Prozent an der gesamten Mortalität. Bei den Aborigines in Zentralaustralien lag der Anteil der Gewalt- an der Gesamtmortalität zwischen fünf und 6,6 Prozent.

Erschreckend unzureichende Kenntnisse hat der Historiker über den Stand der Geschlechterforschung in den Kultur- und Sozialwissenschaften sowie über einen Zweig seines eigenen Fachgebiets: die Genderarchäologie.[1] Seine Behauptungen, daß ein Einfluß der Frauen bis zum 19. oder 20. Jahrhundert schwer auszumachen sei und erst der Staat den Frauen die nötige Macht verliehen habe, »um männlicher Aggression etwas entgegensetzen zu können«, halten beide einer Überprüfung nicht stand. Die historische und die ethnologische Forschung kennt eine Fülle an Beispielen für indigene Gesellschaften, in denen Frauen und Männern über vergleichbare Machtressourcen verfügten. Zu den bekanntesten gehören die Irokesen (Nordamerika), Minangkabau (Indonesien) und Mosuo (China). Bei ihnen handelt es sich um Gesellschaften, die es gewohnt waren, ihre Angelegenheiten ohne staatliches Gewaltmonopol zu regeln.[2] Frauen, so läßt sich der Forschungsstand zusammenfassen, hatten weit vor dem 19. Jahrhundert und zudem insbesondere in vielen staatslosen Gesellschaften einen bemerkenswerten politischen, sozialen und ökonomischen Einfluß, der in vielen Fällen dem der Männer gleichkam.

Produktiver Kolonialismus

Eine besonders segensreiche Wirkung für das Voranschreiten der Zivilisation schreibt Morris den kolonialen Eroberungsfeldzügen der europäischen Staaten zu. Seit dem 15. Jahrhundert hätten diese »einen 500jährigen Krieg gegen den Rest der Welt« geführt, der mittels einer »verdrehten Magie« letztlich vor allem Gutes bewirkt habe. Ganz besonders treffe das auf die Eroberung Amerikas zu. Diese habe einen interkontinentalen Markt geschaffen, »der eine geographische Arbeitsteilung hervorbrachte und Menschen an jeder Küste reich machte. Er gab jedem Land an der Nordatlantikküste einen wirtschaftlichen Vorteil gegenüber anderen und ermunterte Unternehmer, sich zu spezialisieren: auf Sklavenfang in Afrika, auf Plantagen in der Karibik und in den nordamerikanischen Südstaaten und auf Manufakturen in Europa und den amerikanischen Nordstaaten.«

Zum Ende des 19. Jahrhunderts, bilanziert Morris den europäischen Kolonialismus, habe dieser die Welt zunehmend reicher und sicherer gemacht. Er stimmt dem Schriftsteller Rudyard Kipling zu, der die auch gewaltsam durchgeführte »Zivilisierung« nichteuropäischer Völker zur »Bürde des Weißen Mannes« überhöhte und gibt Großbritanniens Premierminister David Cameron recht, der noch im Jahr 2013 während eines Staatsbesuchs in Indien erklärte: »Ich glaube, daß es jede Menge Grund gibt, stolz auf das zu sein, was das Britische Empire vollbracht hat.« Zwar räumt Morris ein, »daß die reichen Erträge der europäischen Kolonialreiche in vielen Fällen in der Zerstörung unabhängiger politischer Systeme und indigener Kulturen wurzelten. Dennoch ist das ein Zusammenhang, den Ökonomen häufig als kreative Zerstörung bezeichnen.« Denn sobald die Eroberungsfeldzüge beendet und die Rebellionen niedergeschlagen worden waren, hätten die Kolonialherren in der Regel die Rate der gewaltsamen Tode gesenkt. Schließlich sei der 500 Jahre währende Kolonialkrieg der Europäer gegen den Rest der Welt der produktivste Krieg gewesen, »den die Welt bis dahin erlebt hatte«. Und »er schuf die größte, sicherste und wohlhabendste Gesellschaft (oder Weltordnung)«.

In Morris’ eindimensionaler Geschichtsbetrachtung spielen Klassenauseinandersetzungen als Motoren, Ideen als Impulse oder Unter­drückung und Herrschaft als Ergebnisse historischer Prozesse so gut wie keine Rolle. Die durch staatliche Gewalt forcierte Freisetzung von Arbeitskräften in der Landwirtschaft, wie sie etwa von Karl Marx als sogenannte ursprüngliche Akkumulation im ersten Band des »Kapital« geschildert wurde, erscheint bei ihm als harmonischer Prozeß, in dem Männer aufhörten, »in der Landwirtschaft zu arbeiten, wenn die Abwanderung in die Städte bessere Löhne versprach. Manche ließen ihre Familien spinnen und weben, um Geld zu verdienen; andere verließen die Felder und arbeiteten in Manufakturen. Auch wenn es im Detail Unterschiede gab, verkauften Europäer im 17. und 18. Jahrhundert zunehmend ihre Arbeitskraft an Arbeitgeber und arbeiteten länger. Je mehr sie arbeiteten, umso mehr Zucker, Tee und Zeitungen konnten sie kaufen – und das bedeutete, daß mehr Sklaven über den Atlantik verschleppt, mehr Flächen für Plantagen gerodet und mehr Fabriken und Manufakturen eröffnet wurden. Der Umsatz stieg, die Produktion größeren Stils ermöglichte Kosteneinsparungen, die Preise sanken, was weiteren Westeuropäern den Zugang zu dieser Warenwelt eröffnete.« Die bürgerliche Klassenperspektive des Autors wird besonders deutlich, wenn er »hohe Löhne« als Problem darstellt, das findige Unternehmer mit der Verbesserung der Produktivität durch Maschinenkraft beantworteten. So schreibt er: »Im 18. Jahrhundert standen auch die Eigentümer von Kohlebergwerken vor dem Problem hoher Löhne.«

Morris bedauert, daß die nach der Oktoberrevolution in den russischen Bürgerkrieg intervenierenden ausländischen Mächte nicht in der Lage waren, ihre Kräfte effektiv zu koordinieren: »Großbritannien und Frankreich beschlossen im Mai 1918, in den Bürgerkrieg einzugreifen, und am 11. November, eben an dem Tag, an dem an der Westfront Ruhe einkehrte, begannen die Kampfhandlungen. Eine viertel Million ausländischer Soldaten (überwiegend Briten, Tschechen, Japaner, Franzosen und Amerikaner mit polnischen, indischen, australischen, kanadischen, estnischen, rumänischen, serbischen, italienischen, griechischen und sogar chinesischen Kontingenten) waren auf russischem Boden im Einsatz. Hätte es sich beim Völkerbund tatsächlich um eine kapitalistische Verschwörung gehandelt, hätten Lenin und seine Gefolgsleute sich nicht lange genug gehalten, um sie verdammen zu können. Aber da es keinen Weltpolizisten gab, der die Operationen hätte leiten können, gingen die Interventionen im russischen Bürgerkrieg im Chaos unter.«

Im Unterschied zu damals werde die Rolle des Weltpolizisten, den Morris auch gerne »Globocop« nennt, heute ausgefüllt: von den USA als der unbestrittenen Führungsmacht des Westens, die sich diese Aufgabe mit den Staaten der Europäischen Union teile. Während letztere den eher friedlichen Teil der Hegemoniearbeit übernehme, spricht der Globocop die Sprache der Gewalt.

Der Weltpolizist

Beide seien dabei aufeinander angewiesen. »Die Europäer können venushaft agieren, weil die Amerikaner Marsianer sind. Ohne den Globocop Amerika wäre Europas Taubenstrategie nicht möglich, aber andererseits könnten es sich die Amerikaner ohne europäisches Taubengebären nicht leisten, weiter den Weltpolizisten zu geben. Hätte die Europäische Union in den vergangenen 15 Jahren falkenhafter gehandelt, würden die Kosten für ein Gegensteuern die Position Amerikas längst unterminieren – genauso, wie die Kosten für den Wettbewerb mit Deutschland den britischen Weltpolizisten vor hundert Jahren die Vorherrschaft gekostet hat. Mars und Venus brauchen einander.« Würden sich die USA der Rolle des Weltpolizisten verweigern, drohe die Gefahr eines dritten Weltkrieges.

»Die einzige Alternative zu einem Globocop ist das erneute Abspulen des Drehbuchs der Zeit der 1870er bis 1910er Jahre, dieses Mal allerdings mit Nuklearwaffen.« Die USA seien deshalb »die letzte große Hoffnung für die Welt«. Wenn sie scheiterten, scheitere die Welt. Da ist es nur konsequent, wenn Morris die Drohnenkriegsführung der vorgeblichen Friedensmacht »als sehr viel moderater« als »jede andere Methode« verteidigt und auf enge Tuchfühlung mit Militärs und Geheimdiensten des Imperiums geht.

2012 besuchte er das Trainingszentrum der U.S. Army im kalifornischen Fort Irwin, wo Soldaten auf ihre Einsätze in Übersee vorbereitet werden. 2013 hatte er auf dem Luftwaffenstützpunkt Creech Airforce Base in Nevada die Gelegenheit, die Steuerung einer Kampfdrohne auf einem Simulator eigenhändig auszuprobieren. Im Juli 2011 hielt er auf Einladung von Mat Burrows, dem Berater des Chefs des US-Inlandsgeheimdienstes NSA, und von Banning Garret, dem Leiter der Strategic Foresight Initiative im Atlantic Council, Vorträge vor ihren Organisationen und hat seitdem nach eigenem Bekunden an mehreren ihrer Treffen im Silicon Valley teilgenommen. Was er dort erfuhr, hat ihn augenscheinlich in seiner Auffassung bestätigt, daß »die Vereinigten Staaten Gewalt anwenden müssen, um Stabilität zu garantieren. Sie müssen genügend für ihre Streitkräfte ausgeben, um als Globocop agieren zu können, aber auch nicht so viel, daß daran der politische Konsens zerbricht.«

Abschaffung des Menschen

Die USA müßten bereit sein, »zur Durchführung ihres Jobs jeden Preis zu zahlen, jede Last zu tragen und jede Härte zu erdulden, denn es gibt keinen Plan B«. Das sei jedenfalls so lange nötig, bis die Pax Americana einer Pax Technologica Platz gemacht habe.

Morris meint, daß die USA keine andere Wahl haben, als eine menschenähnliche technische Intelligenz zu entwickeln und diese zu bewaffnen. »In unserem Ringen ums Überleben bringen wir neue bizarre Mutanten mit großen Gehirnen hervor und schließen mit Hilfe von Maschinen unsere schlichten biologischen Einzelgehirne zu einer Art Superorganismus zusammen.« Die Menschen seien dabei, ihre »tierische Individualität aufzugeben und Teil von etwas zu werden, das vom Homo sapiens so weit entfernt ist, wie wir es von unseren einzelligen Urahnen sind«. So gibt Morris die Vorhersagen des heute als Suchmaschinenentwickler für Google arbeitenden Erfinders, Unternehmers und Futuristen Raymond Kurzweil und anderer Vertreter der transhumanistischen Denkschule wieder. Und hofft auf den Beginn des Zeitalters der »technologischen Singularität«, das des »ersten postbiologischen Mensch-Maschine-Wesens«, wie er den Protagonisten des herbeigesehnten posthumanen Zeitalters schon in seinem vom Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler hochgelobten Buch »Wer regiert die Welt« bezeichnet.

»Technologische Singularität« meint dabei jenen Zeitpunkt in der Geschichte, ab dem die künstliche Intelligenz autonom wird und in der Lage ist, sich weiterzuentwickeln. »Eine sich selbst vervollkommnende Singularität wäre das Ende der Biologie, wie wir sie kennen – und damit auch das Ende von Faulheit, Angst und Gier als Motoren der Geschichte.«

Die Ordensleute für den Frieden protestierten, als der Campus Verlag das Buch von Ian Morris im vergangenen Oktober in Kooperation mit dem US-Generalkonsulat in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main vorstellte (siehe jW vom 18.10.2013). Der Verlag verwahrte sich unter anderem in einem Brief an diese Zeitung gegen den Eindruck, es handele sich um ein »für den Krieg Propaganda machendes Buch«. Die Thesen von Ian Morris seien vielmehr »hoch relevant für das Verständnis der Weltgeschichte«. In Wirklichkeit dokumentiert das Buch, wie der Irrationalismus Einzug in die Geistes- und Sozialwissenschaften hält. Die Konzepte, die in den imperialistischen Ideenschmieden derzeit ausgebrütet, von angesehenen Verlagen verbreitet und im bürgerlichen Feuilleton beklatscht werden, zeugen von einer neuen Stufe der Zerstörung der Vernunft. Die Selbstabschaffung des Menschen soll nicht mehr verhindert, sondern mit vereinten Kräften möglichst bald ins Werk gesetzt werden.

Anmerkungen
  1. Thomas Wagner: »Von der feministischen Ethnologie zur Genderarchäologie. Herrschaft und Herrschaftslosigkeit«. In: Christian Sigrist (Hg.): Macht und Herrschaft. Ugarit-Verlag. Münster 2004, Seiten 85–113
  2. Vergleiche u.a.: Ilse Lenz und Ute Luig (Hg.): Frauenmacht ohne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1995
Ian Morris: Krieg - Wozu er gut ist. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2013, 527 Seiten, 26,99 Euro

* Aus: junge Welt, Freitag, 3. Januar 2014


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