Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Schrankenloser Terror

Geschichte. Vor 70 Jahren verwüsteten deutsche Soldaten die griechische Gemeinde Distomo und töteten mehr als 200 Einwohner. Die Angehörigen der Opfer sind bis heute nicht entschädigt

Von Martin Seckendorf *

Der 10. Juni 1944 hat sich tief in das kollektive Gedächtnis von Franzosen und Griechen eingebrannt. An diesem Tag zerstörten Soldaten einer Waffen-SS-Einheit die Gemeinde Oradour sur Glane in Mittelfrankreich und ermordeten 642 Einwohner. Es war das größte Kriegsverbrechen, das die deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkrieges in Westeuropa verübten. Auch wegen eines aufsehenerregenden Strafverfahrens, das die DDR-Justiz 1983 gegen einen Haupttäter führte, war der Massenmord in Deutschland gut bekannt – lange vor dem Besuch des Bundespräsidenten 2013 an den zum Denkmal erklärten Ruinen des von den Faschisten zerstörten Dorfes. Dagegen ist das Massaker der deutschen Besatzer vom 10. Juni 1944 in dem griechischen Ort Distomo noch immer weiten Teilen der hiesigen Bevölkerung kaum bekannt.

Massenmord im Wochentakt

Am Abend des 14. Juni 1944 erreichte die in Athen tätige Vertretung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) die Nachricht, daß deutsche Soldaten in Distomo ein Massaker mit vielen Toten verübt und das Dorf abgebrannt hätten. Das schwedische Ehepaar Clio und Sture Linnér, beide Mitarbeiter des IKRK, meldeten sich für eine Erkundungsmission. Distomo liegt südöstlich des Parnassos-Gebirges und unweit des Apollon-Orakelheiligtums in Delphi, das in der Antike als »Nabel der Welt« galt. Die beiden Schweden brachen noch in der Nacht mit Kleidung und Verbandsmaterial in die 170 Kilometer von Athen entfernte Ortschaft auf.

2001 schilderte Professor Linnér dem Historiker Dieter Begemann die Eindrücke, die er und seine Frau bei der Fahrt nach Distomo am 15. Juni 1944 gewonnen hatten: Kurz vor Erreichen der Gemeinde bemerkten sie, daß etwa 10 Leichen, »festgenagelt mit Bajonetten«, wie Linnér sagte, an den Straßenbäumen hingen. »Über der ganzen Gegend lag ein fürchterlicher Gestank von Brand und Verwesung«, ergänzte er. Auf dem Dorfplatz lagen »überall Tote«. Sie meinten, es seien Hunderte gewesen. Viele Leichen waren furchtbar verstümmelt.

Linnér beschreibt die Folgen einer der seit 1943 in Griechenland fast im Wochentakt durchgeführten »Säuberungs- und Vergeltungsaktionen«. Am Morgen des 10. Juni 1944 brach die 2. Kompanie des Regiments 7 der 4. SS-Polizei-Panzergrenadier-Division mit ca. 100 Soldaten und einigen zwangsverpflichteten Griechen von der Bezirkshauptstadt Livadia aus in Richtung Westen auf. Die Einheit sollte das Gebiet der über Arachowa und Delphi an den Golf von Korinth führenden Hauptstraße südlich des Parnassos im Abschnitt der Gemeinde Distomo von Partisanen »säubern«. Auf halbem Weg zwischen Livadia und Distomo bemerkten die Deutschen Erdhöhlen, die sie als Partisanenbunker deuteten. 18 unbewaffnete Männer, die Schafe hüteten, wurden umzingelt, sechs von ihnen »auf der Flucht« erschossen. Zwölf nahm man mit nach Distomo. Das Dorf wurde durchsucht. Im Verhör berichteten der Bürgermeister und der zufällig im Ort anwesende Pfarrer von Stiri, einem fünf Kilometer südöstlich von Distomo gelegenen Dorf, daß sich am Vortag etwa 30 Partisanen in Distomo aufgehalten hatten, die dann weiter nach Stiri gezogen seien. Der Kompaniechef, SS-Hauptsturmführer (Hauptmann) Fritz Lautenbach, entschied, die Partisanen zu verfolgen. Wenige hundert Meter vor Stiri geriet die Kolonne in einen Hinterhalt. Mit MG- und Gewehrfeuer attackierten die Partisanen die Nazis. Diese erlitten einige Verluste: sieben Tote und zahlreiche Verwundete. Nachdem Verstärkung für die SS-Kolonne eingetroffen war, zogen sich die Partisanen zurück. Gegen 17.30 Uhr traf die Kompanie wieder in Distomo ein. Die Deutschen mutmaßten, die Einwohner hätten von dem Hinterhalt der Partisanen gewußt, und beschlossen, eine Strafaktion durchzuführen. Zuerst erschoß man die zwölf gefangenen Hirten. Dann wurden die Häuser durchsucht. Angetroffene Bewohner beiderlei Geschlechts und jeden Alters brachten die Deutschen auf oft entsetzliche Weise um. Über 200 Menschen starben. Das älteste Opfer war 85, das jüngste zwei Monate. Ganze Familien wurden ausgelöscht. 32 mal ist der Name Sfonturis in die Stele der heutigen Gedenkstätte gemeißelt. Nach einer Stunde brach die Dämmerung herein. Die Schlächter stoppten aus Furcht vor Partisanenangriffen ihr grausames Tun und kehrten in die befestigten Unterkünfte in Livadia zurück.

Im Prozeß gegen die Südostgenerale der Wehrmacht, dem sogenannten Geiselmordprozeß, urteilten US-amerikanische Richter 1948, das Verbrechen in Distomo sei eines der »furchtbarste(n) Massaker an wehrlosen (helpless), unschuldigen Männern, Frauen und Kindern«. Im Spiegel vom 29. Dezember 1997 sagte Professor Hagen Fleischer, damals an der Universität Athen tätig: »Es gab geradezu sadistische Exzesse.« Der britische Historiker Mark Mazower beschreibt die Aktion der Deutschen als Amoklauf.

Alliierte Landung befürchtet

Über die Ursachen des Amoklaufs wird noch immer diskutiert. Wenige Wochen vor der furchtbaren Tat hatte eine Kampfgruppe des gleichen Verbandes unter Führung des Regimentskommandeurs Karl Schümers ein Massaker in dem Dorf Klissura in Nordgriechenland angerichtet. Am 5. April 1944 wurden dort 215 Menschen, meist Frauen und Kinder, auf ebenso grausame Weise wie in Distomo umgebracht.

Ausschlaggebend dürfte die Kriegslage und die entsprechende Propaganda der Offiziere in den Truppen gewesen sein: Im Frühjahr 1944 konnte die Rote Armee den Belagerungsring um Leningrad sprengen und im Südteil der Ostfront die Wehrmacht bis an die Karpaten zurückdrängen. Am 4. Juni 1944 wurde Rom als erste europäische Hauptstadt befreit. Am 6. Juni (siehe jW-Thema vom 6.6.) begann die alliierte Invasion in der Normandie. In allen okkupierten Ländern führten die Erfolge der Antihitlerkoalition zu einem Aufschwung des Widerstandskampfes. Standartenführer Schümers berichtete am 11. Juni dem vorgesetzten Generalkommando in Athen, das dem Fliegergeneral Hellmuth Felmy unterstand, über »vermehrte lebhafte Bandentätigkeit« im Bereich Livadia–Arachova–Delphi. In nur einer Woche habe das Regiment 20 Tote und 36 Verwundete an Verlusten hinnehmen müssen. An der Bahnstrecke Lamia–Theben–Athen, der einzigen Nord-Süd-Verbindung auf der Schiene, von den Militärs als Nabelschnur für die südlich von Thessaloniki stehenden deutschen Verbände bezeichnet, sei eine »Zunahme von Sabotageakten« registriert worden, obwohl starke Sicherungsmaßnahmen ergriffen worden wären. So seien »Sperr- oder Todeszonen« parallel zu den Gleisen eingerichtet worden, in denen auf alles geschossen wurde, was sich bewegte. Außerdem habe das Regiment auch die neueste »Errungenschaft« der Eroberer, die sogenannte Geiselwagen, eingesetzt. Bei Eisenbahnzügen wurde vor die Lokomotive ein offener Güterwagen gekoppelt. Darauf waren in einem Drahtkäfig Geiseln zusammengepfercht. Der Befehl lautete, bei einer Partisanenattacke auf den Zug – ob erfolgreich oder nicht – ist der Wagen samt den Menschen darin in die Luft zu sprengen.

Schümers führte die gesteigerte Partisanentätigkeit auf die für Deutschland dramatisch verschlechterte Kriegslage zurück. Kurt von Graevenitz, Vertreter des »Sonderbevollmächtigten des Auswärtigen Amtes für Südosten«, Hermann Neubacher, meldete aus Athen zur Situation in Griechenland: »Wir beherrschen kein größeres zusammenhängendes Gebiet mehr.«

Die Entwicklung schien den Deutschen auch deshalb so gefährlich, weil sie eine alliierte Landung auf dem für die Okkupanten wirtschaftlich so wichtigen Balkan befürchteten. Man war der Auffassung, eine alliierte Landung könne vereitelt werden, wenn die Nachschub- und Verbindungswege zur Küste, der »Rücken«, frei wären. Der Oberbefehlshaber Südost hatte am 14. Juli 1943 eingeschätzt: »Bei feindlichen Landungsangriffen ist mit weitestgehender Beteiligung aufsässiger Bevölkerungsteile auf seiten des Feindes zu rechnen.« Am 1. November 1943 befahl er, die Partisanen zu vernichten, bevor die Angelsachsen landen. Deshalb seien schon vor einer Invasion »schärfste Maßnahmen zu ergreifen«. Schrankenloser Terror sollte die Bevölkerung derart einschüchtern, daß sie es nicht wage, sich im Invasionsfall gegen die Okkupanten zu erheben.

Als für die Deutschen »gefährlichste Stoßrichtung« einer alliierten Aktion wurde in einem Strategiepapier des Wehrmachtführungsstabes vom 10. Dezember 1942 »die gegen … den Golf von Patras« bezeichnet. Eine solche Operation konnte, weiterentwickelt über den Isthmus von Korinth, direkt nach Athen (siehe jW-Thema vom 13.12.2013) oder an der Nordküste des Golfes entlang über Delphi–Livadia in Richtung Mittelgriechenland führen.

In diesem Zusammenhang erlangte die Straße von Livadia nach Delphi und von dort in südlicher Richtung zur Hafenstadt Itea am Golf von Korinth herausgehobene militärische Bedeutung. Sie war die einzige Verbindungsstrecke, die den Kfz-Verkehr für die schnelle Zuführung von Verstärkung und Nachschub gegen anglo-amerikanische Truppen am Nordufer des Golfs ermöglichte. Die Straße verlief im Bereich Livadia–Distomo nordöstlich des Helikon. Der Gebirgszug war Operationsbasis und Rückzugsgebiet des 34. Regiments der Griechischen Volksbefreiungsarmee (ELAS). Von dort konnte der Verkehrsweg schnell unterbrochen werden. Die »Befriedung« der Region wurde von den Faschisten als wichtige Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der deutschen Herrschaft in Griechenland und für die Abwehr alliierter Landungen angesehen. In dem Gebiet um Distomo war das Schümers-Regiment für die »Pazifizierung« zuständig. Die »Befriedung« der als »bandenverseucht« ausgewiesenen Region sollte die gesamte Bevölkerung treffen. Schümers rechtfertigte in einem Bericht vom 21. Juli 1944 an General Felmy die massenhafte Tötung von Frauen und Kinder am 10. Juni in Distomo mit der Behauptung, die Partisanen gingen »allgemein dazu über«, nicht nur bewaffnete Einheiten aus Frauen aufzustellen, »sondern auch … Frauen und Kinder zu Spionagezwecken, zur Nachrichtenübermittlung, zu Sabotageakten und zum Werfen von Bomben abzurichten«.

Anfang Juni hatte Schümers vom Generalkommando in Athen den Auftrag erhalten, eine Operation gegen Partisanen im Helikon-Gebirge durchzuführen. Als Sammelpunkt dieser Aktion unter der Deckbezeichnung »Sommergewitter« für die deutschen Einheiten war das Gebiet um Distomo vorgesehen. Dazu gehörte die »Freikämpfung« der Straße westlich von Livadia, ein Erkundungsvorstoß nach Distomo sowie die Durchsuchung des Ortes nach Hinweisen auf Verbindungen zu Partisanen.

Griechen geschockt

Die Nachricht von dem Massaker verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Am 13. Juni hatte der von den Okkupanten eingesetzte Nomarch (Präfekt) von Böotien die Athener Kollaborationsverwaltung darüber informiert. Sehr bald erhielten auch die alliierten Stellen im Nahen Osten Nachrichten und verbreiteten sie u.a. über den auch in griechischer Sprache arbeitenden Sender Kairo. Am 10. Juli berichtete der Vertreter des Auswärtigen Amtes in Griechenland, Karl von Zeileissen, von »in ganz Athen umlaufende Gerüchte(n) über angebliche Sühneaktion SS-Regiments gegen Ort Distomo«. Der Sender Kairo habe »die Angelegenheit aufgegriffen«. In einem Report des Spionageoffiziers beim Oberbefehlshaber Südost, Franz von Harling, vom 16. Juli an das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) wurde darauf hingewiesen, daß der amerikanische Außenminister Cordell Hull »auf einer Pressekonferenz zu Vorgängen (in Distomo – M.S.) Stellung genommen« hat.

Selbst kollaborationsbereite Griechen wandten sich von den Okkupanten ab. In einem Bericht des Vertreters des »Sonderbevollmächtigten« Neubacher in Athen, Graevenitz, vom 28. Juli, heißt es, die Meldung über die »Vernichtung Dorf Distomo« habe im Hinblick auf die Stimmung in der griechischen Bevölkerung geradezu »vergiftend gewirkt«.

Wegen der hohen Wellen, die die Nachrichten über das Massaker in Griechenland sowie im »feindlichen« und im neutralen Ausland schlugen, forderten die deutschen Spitzenbehörden – Wehrmachtführungsstab im OKW, Oberbefehlshaber Südost in Belgrad, Militärbefehlshaber Griechenland und Sonderbevollmächtigter Neubacher – Informationen. Dabei stellte sich heraus, daß es zwei »Gefechtsberichte« mit entgegengesetzten Darstellungen der Ereignisse gab. Der Kompaniechef Lautenbach hatte am 11. Juni dem SS-Regiment 7 berichtet, auf der Fahrt von Livadia in Richtung Distomo habe man in Erdbunkern Zivilisten beobachtet, die das Feuer eröffnet hätten. In dem anschließenden Gefecht seien 18 »Männer jüngeren Alters auf der Flucht erschossen« worden. Bei Annäherung an das Dorf sei die Einheit »mit Granatwerfern, Maschinengewehren und Gewehren … aus Richtung Distomo« angegriffen worden, wobei die Kompanie Verluste erlitten hätte. Daraufhin habe man die Ortschaft »mit allen zur Verfügung stehenden Waffen« beschossen und anschließend »gesäubert«. Dabei »wurden insgesamt 250–300 tote Bandenverdächtige und Bandenangehörige gezählt«. Die Häuser habe man dann »niedergebrannt«. Einen Tag später verfaßte der bei der »Aktion« anwesende Unteroffizier Georg Koch von der Geheimen Feldpolizei ebenfalls einen Gefechtsbericht. Danach hätte es in Distomo zu keiner Zeit »Feindberührung« mit Partisanen gegeben. Die Morde an der Zivilbevölkerung seien erst nach der Rückkehr von dem am späten Nachmittag erfolgten Kampf mit Partisanen fünf Kilometer östlich von Distomo verübt worden. Die Darstellung Kochs gilt in der Forschung als weitgehend dem Ablauf des tatsächlichen Geschehens in Distomo entsprechend.

Besonders empört über den gefälschten Bericht zeigte sich der Kommandierende General des LXVIII. Armeekorps, Felmy, dem der Waffen-SS-Verband unterstand. Am 4. Juli schrieb er, der Gefechtsbericht der SS-Kompanie »und die damit erstattete dienstliche Meldung ist wissentlich falsch«. Ein im preußisch-deutschen Militärapparat ungeheuerlicher Vorgang – wenn er »auffliegt«. Vor allem, so hob Felmy hervor, sei die auf der Grundlage des gefälschten Berichts von ihm »eingeleitete Gegenpropaganda … entwertet«. Er fuhr fort, »ich habe infolgedessen auch keine Handhabe mehr, gegen den Bezirkschef von Lewadia (Schreibweise der Nazis/Felmys für Livadia, jW) einzuschreiten«, der die Informationen über das Massaker an die Kollaborationsregierung in Athen geliefert hatte. Der General war öffentlich desavouiert und befahl dem Kommandeur der SS-Division, eine Untersuchung durchzuführen. Wegen der durch das Auftauchen der unterschiedlichen »Gefechtsberichte« bei den deutschen Behörden erzeugten Unsicherheit und, wie der Außenamtsvertreter in Athen, Zeileissen, schrieb, infolge ein Kompetenzgerangels zwischen Dienststellen der Wehrmacht in Griechenland, kam es bei der deutschen »Gegenpropaganda« zu einer Verzögerung von mehreren Wochen. Der Rechtfertigungsversuch der Nazis lief ins Leere.

Neben der Fälschung kritisierte Felmy auch die Erschießung der durch die Kompanie am Morgen gefangenen zwölf Hirten in Distomo. Damit sei gegen einen »Führerbefehl« zur »Gewinnung« von Arbeitskräften verstoßen worden. Um die prekäre Situation in Deutschland zu mildern, hatte Hitler am 27. Juli 1943 befohlen, gefangene Partisanen nicht mehr, wie bislang üblich, zu töten, sondern als Zwangsarbeiter ins »Reich« zu deportieren. Das Massaker an den Bewohnern spielte in der Beschwerde Felmys keine Rolle. Er kritisierte nur, daß Lautenbach nicht vor den »Sühnemaßnahmen« das Einverständnis des Divisionskommandeurs eingeholt hatte. Das verlangte eine Weisung des Oberbefehlshabers Südost vom Dezember 1943. Die Okkupanten hatten eingesehen, daß der wahllose Terror gegen die Bevölkerung den Zulauf zu den Partisanen verstärkten. Vor allem durchkreuzte dieses Vorgehen die deutschen Pläne, in großem Umfang Kollaborateure für die bewaffneten Formationen zu gewinnen. Deshalb sollten Terrormaßnahmen künftig, nur noch die Partisanen und ihre Unterstützer treffen. Der Generalstabschef der Heeresgruppe E, August Winter, erläuterte die »neue« Linie: Es gehe »leider (sic!) nicht an, alle Leute zu köpfen« und »völlig unbeteiligte Ortschaften dem Erdboden gleichzumachen«, da dies nur zur »Vermehrung des Bandenwesens« führe. Deshalb solle man nur noch die richtigen Griechen, »die wahrhaft Schuldigen«, töten. Das waren in den Augen der Faschisten jene Griechen, »die sich zum Kommunismus bekennen«. Doch selbst die führenden Militärs hielten sich nicht an die »neue« Linie. Für sie war im Hinblick auf eine alliierte Landung die »Befriedung« des Hinterlandes durch Massenterror gegen die Bevölkerung wichtiger als politische Manöver. Im April 1944 erhielt Oberstleutnant Konrad Warnstorff, als »Feindlagebearbeiter« der für die Partisanenbekämpfung in Griechenland wichtigste Offizier im Stab der Heeresgruppe E, eine Expertise. Darin war festgestellt worden, daß die politisch undifferenzierten »Sühnemaßnahmen«, die die Partisanen kaum schwächten, nutzlos seien. Er schrieb an den Rand des Papiers, sie seien unerläßlich. »Es gibt keine andere Lösung.«

Keine Sühne und Entschädigung

Auch Felmy war, nicht zuletzt deshalb, weil die Vorgesetzten Lautenbachs die Fälschung veranlaßt hatten, damit einverstanden, daß der Kompaniechef mit einer, wie man heute sagen würde, Abmahnung davonkam.

1948 wurde Felmy im Prozeß gegen die faschistischen Südostgenerale, auch wegen der von der ihm unterstellten Einheit begangenen Verbrechen in Distomo zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Da die Westmächte im Kalten Krieg einen »Wehrbeitrag« Westdeutschlands erwarteten, schien eine Stigmatisierung »deutscher Soldaten« als Kriegsverbrecher nicht opportun. Felmy wurde wie viele andere begnadigt. Am 15. Dezember 1951 verließ er das Gefängnis.

In Westdeutschland wurde keiner der Mörder je verurteilt. Das Landgericht München I stellte 1972 Verfahren wegen Verjährung ein. Nicht nur die strafrechtliche Sühne blieb aus, den überlebenden Dorfbewohnern und den Nachfahren der Opfer wurde bis heute auch Entschädigung verweigert.

Nachdem die Bundesregierung Gespräche über dieses Thema abgelehnt hatte, gingen die Nachfahren und Überlebenden den teuren Rechtsweg. 1997 verurteilte das Landgericht Livadia die Bundesrepublik zur Zahlung von zirka 37,5 Millionen Euro. Die Berliner Regierung legte Revision ein, weil gemäß der Staatenimmunität Privatpersonen einen fremden Staat nicht vor einheimischen Gerichten verklagen könnten. Die Richter am höchsten griechischen Gerichtshof, dem Areopag, meinten aber, daß bei Menschenrechtsverletzungen die Staatenimmunität nicht greife und bestätigten das Urteil von Livadia. Eine eingeleitete Pfändung deutschen Staatseigentums in Griechenland zugunsten der Opfer verhinderte die griechische Regierung. Die Opfer klagten daraufhin in Deutschland. Die Verfahren gingen durch alle Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht – und die Forderungen wurden jeweils abgewiesen. Tenor der Entscheidungen war, daß Massaker eine »normale Kriegshandlung« gewesen und Klagen von Privatpersonen gegen Deutschland deshalb unzulässig seien. Nur durch staatliche Verhandlungen könnten die Entschädigungsforderungen geklärt werden. Reparationsverhandlungen seien dies aber nicht. Die Reparationsfrage hätte sich mit dem 2+4-Vertrag von 1990 erledigt. Die Opfer erhielten Hilfe aus Italien. Letztinstanzliche Gerichte auf der Apenninenhalbinsel entschieden, daß bei Verbrechen gegen die Menschenrechte die Staatenimmunität nicht gelte. Die Opfer konnten Rechtstitel, auch in Italien, zu Lasten deutschen Staatsvermögens vollstrecken lassen. 2008 schlug Berlin zurück und klagte vor dem Internationalen Gerichtshof (siehe jW-Thema vom 13.12.2013). Im Januar 2012 entschied das Gericht, das Prinzip der Staatenimmunität gelte. Privatklagen gegen Deutschland wegen faschistischer Verbrechen seien abzuweisen und schon ergangene Urteile aufzuheben. Die Bundesregierung solle mit den Opfern verhandeln.

Nach 70 Jahren wird es endlich Zeit, die Verantwortung für die Verbrechen regierungsamtlich anzuerkennen und tätige Reue zu zeigen. Bundespräsident Gauck hat am 7. März 2014 die Gemeinde Lyngiades in Nordwestgriechenland besucht. Dort hatten am 3.Oktober 1943 deutsche Soldaten 83 Bewohner, meist Frauen und Kinder, umgebracht. Gauck fand Worte des Bedauerns, wies aber Entschädigungsforderungen zurück. Der letzte Überlebende des Massakers in Lyngiades sagte: »Das waren nur Worte, die bedeuten nichts. Ich will Gerechtigkeit, das heißt Wiedergutmachung.«

* Martin Seckendorf ist Historiker. An dieser Stelle schrieb er zuletzt am 21.3. über eine grausame Vergeltungsaktion von Wehrmacht und SS an der italienischen Zivilbevölkerung im März 1944.

Aus: junge Welt, Dienstag 10. Juni 2014



Zurück zur Kriegsgeschichte-Seite

Zur Kriegsgeschichte-Seite (Beiträge vor 2014)

Zur Griechenland-Seite

Zur Griechenland-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage