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Der Weg in den Untergang

Geschichte. Die am 6. Juni 1944 beginnende alliierte Invasion in der Normandie und die Offensivoperationen der Roten Armee an der Ostfront führten zur endgültigen Vernichtung der faschistischen deutschen Wehrmacht

Von Dietrich Eichholtz *

Es ist erst wenige Jahre her, daß sich die offiziellen deutschen Militärhistoriker entschlossen haben, ein bisher von ihnen ganz stiefmütterlich behandeltes Thema in das auf viele tausend Seiten angelegte Gesamtwerk »Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg«, herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr, aufzunehmen. Gemeint ist jene Phase vor 70 Jahren, die mit den Rückzügen im Osten (Stalingrad) und aus Afrika (Tunesien) begann, bevor im Sommer 1944 die Kraft der faschistischen Wehrmacht in Ost- und Westeuropa in den gewaltigsten Schlachten des Krieges gebrochen wurde.

Es war den Autoren wohl peinlich, daß darüber, was sie heute ein »vergessenes« Kriegsjahr nennen, im Ausland und, nicht zu vergessen, in der DDR schon jahrelang bemerkenswerte Abhandlungen erschienen waren, von ihnen aber kein als maßgeblich auszugebendes Werk. Für sie hat es womöglich einen ganz eigenen Reiz zu versuchen, die fatale Geschichte der deutschen Wehrmacht und besonders die »verlorenen Siege« (wie der Titel der Autobiographie des Heeresgruppenoberbefehlshabers Erich von Manstein lautet) ihrer Generale im Kampf gegen die Rote Armee, gegen Kommunismus, Bolschewismus und »Stalinismus« in ihrem Sinne zu deuten.

Seit den Alliierten-Konferenzen von Casa­blanca und Teheran 1943 (siehe jW-Thema vom 15.1.2013 und 28.11.2013) kam für wenige Jahre eine Zusammenarbeit der Antihitlerkoalition zustande, deren militärische und wirtschaftliche Überlegenheit den Sieg über den Faschismus sicherte. Sie legte zugleich weltweit die antifaschistischen Potenzen der Volksmassen frei.

Heute ist die Propaganda und Geschichts­»aufklärung« bemüht, der beispiellos blutigen Fortsetzung des Krieges durch die Deutschen einen Sinn zu verleihen – eines Krieges, der doch nichts war als ein Verbrechen des Naziregimes.

Fehleinschätzung der Lage

Die Fähigkeit zu strategischem Denken kam der deutschen Führung schon viele Monate vor der westalliierten Invasion am 6. Juni 1944 in der Normandie abhanden. Katastrophal war die Verkennung der militärischen Realitäten durch die deutsche Aufklärung, die seit Teheran vollkommen im unklaren darüber war, was die drei alliierten Mächte tatsächlich für den Sommer 1944 und für die zukünftige gemeinsame Kriegführung beschlossen hatten. Die endlosen Erörterungen darüber, die bis in die heutige Zeit hinein anhalten, scheinen der Entlastung der im »Kalten Krieg« so nützlichen antisowjetischen »Experten«, wie etwa Generalmajor Reinhard Gehlen, zu dienen. Tatsächlich schreibt diese Art »Aufklärung« auch Hitlers Gesamt»strategie« einen Erfolg zu. Der und sein Stab planten ja, mit der Invasion in die Sowjetunion schnell fertig zu werden und dann den »Bolschewisten« die entsprechenden Bedingungen aufzuzwingen.

Hitler, die Generalität und die Aufklärung waren auch nach den verheerenden Niederlagen entschlossen, ihren verbrecherischen Krieg mit Menschenopfern in beliebiger Höhe fortzusetzen und schließlich auch im eigenen Land keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Das heutige Betrauern damaliger »Fehleinschätzungen« soll suggerieren, daß die totale Niederlage hätte verhindert werden können. Hier werden noch nachträglich Luftschlösser gebaut, deren Unsinnigkeit schon 1944 offenbar war. Das damals feste militärische Bündnis innerhalb der Antihitlerkoalition und deren Überlegenheit zu Lande, in der Luft und zur See scheint der deutschen Führung vollständig entgangen oder wenigstens nicht der Berücksichtigung wert gewesen zu sein. Deren Mittel waren außer Hitlers umstrittener »Haltestrategie« (»Feste Plätze«) das rücksichtslose Blutvergießen an allen Fronten, wobei auch die der eigenen Kräfte verheizt wurden, die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Bevölkerung (»Verbrannte Erde«), einschließlich der eigenen, und der Terror gegen die Zivilbevölkerung.

Entscheidungsschlachten

Im Sommer und Herbst 1944 schlug die Antihitlerkoalition jene Schlachten, in denen die Wehrmacht aus Ost- und Westeuropa vertrieben wurde. Damit verlor das Deutsche Reich nicht nur den Kernbestand seiner Wehrmacht, viele Dutzend Divisionen, sondern auch die zusammengeraubten Schätze und Ressourcen, auf die es bisher gebaut hatte (Erdöl, Eisenerz, Bauxit, Mangan usw.).

Die Invasion in Nordfrankreich begann am 6. Juni 1944 als beispiellose amphibische Operation mit mindestens 5300 Schiffen, zunächst 18000 Mann Luftlandetruppen und, bis zum 1. Juli, einer Viertelmillion angelandeter Soldaten. Sie standen zuerst im Kampf gegen eine Übermacht deutscher Divisionen, darunter mehrere Panzerdivisionen, setzten dagegen aber eine überwältigende Luftüberlegenheit und das konzentrierte Feuer schwerer Schiffsgeschütze ein. Am 12. Juli hatten sie Churchill zufolge bereits über eine Million Mann in der Normandie, zu denen täglich 25000 hinzukamen. Am 24. Juli berichtete der britische Premier Stalin, es seien schon 1,4 Millionen Mann.

Die Eroberung und Behauptung des Landungskopfes auf der Cotentin-Halbinsel und die des Küstenstreifens östlich davon bis zur Orne-Mündung mit dem wichtigen Hafen Caen, in einer Breite von wenig mehr als 100 Kilometern, kostete die Alliierten bei zähem, verlustreichen Kampf sechs Wochen. Der Ausbruch aus dem Cotentin und der Durchbruch bei Avranches in Richtung Süden gelang am 1. August. Die Einkesselung und Zerschlagung starker deutscher Verteidigungskräfte bei Falaise Mitte August eröffnete schließlich den Operationsraum nach Osten in Richtung Paris. In einer ungeheuren Materialschlacht wurden 50000 Deutsche gefangengenommen; 10000 fielen. Vier entscheidende Faktoren erleichterten den Alliierten das Vorankommen:
  • die rasche Kräftevermehrung zu Lande,
  • die vernichtende Luftüberlegenheit,
  • die Unterstützung Hunderttausender französischer Widerstandskämpfer,
  • die Entlastung durch die in Teheran abgesprochene sowjetische Großoffensive.
Paris im August

Während alliierte Divisionen, von Italien kommend, zwischen Toulon und Cannes am 15. August gelandet, in Südfrankreich schnell Rhône-aufwärts bis vor Lyon vorgedrungen waren, setzten die Hauptkräfte nach dem Sieg bei Falaise zum Angriff auf Paris an und legten jetzt 250 Kilometer in schnellem Tempo zurück.

Seit dem 7. August 1944 war General Dietrich von Choltitz als Wehrmachtbefehlshaber für Groß-Paris verantwortlich. Sein Vorgänger Carl-Heinrich von Stülpnagel war wegen Beteiligung am Attentat auf Hitler am 20. Juli zum Tode verurteilt worden. Oberbefehlshaber West war seit dem 17. August Generalfeldmarschall Walter Model. Hitler und die Wehrmachtführung begriffen die Lage in keiner Weise und verlangten, Paris als »Brückenkopf« zu halten. Sie befahlen, die Stadt keineswegs zu übergeben, sondern sie nach dem Beispiel Warschaus im äußersten Falle dem Feind nur vollkommen zerstört zu überlassen.

Paris aber war stets ein Zentrum des französischen Widerstands, und die Wehrmacht war von Anfang an nicht Herr über die ganze Stadt. Die Eisenbahner streikten, die organisierte Widerstandsbewegung (Forces françaises de l’intérieur; FFI) ging zum Aufstand über (19. August). Am 24. August erreichte die französische 2. Panzerdivision im Verband der alliierten Truppen als erste die Stadt, mit der die FFI gemeinsam zum Sturm überging.

Choltitz, der sich ohne jede Chance sah, neue Kräfte zum Kampf in Paris einschließlich Panzer und Artillerie zu erhalten, übergab die Stadt am 25. August 1944 und ging in französische Gefangenschaft. Am 26. August zog General Charles de Gaulle im Triumphzug in Paris ein. Allerdings luden in der folgenden Nacht noch über 100 deutsche Bomber im schwersten Luftangriff ihre Last über der Stadt ab.

Antwort der Roten Armee

Am Tage der alliierten Invasion in Frankreich, am 6. Juni, hatte Stalin dem britischen Premier versichert: »Die Sommeroffensive der sowjetischen Truppen, entsprechend der Abmachung in Teheran durchgeführt, wird Mitte Juni beginnen. … (Sie) wird sich stufenweise entwickeln (und) zwischen Ende Juni und Ende Juli in eine allgemeine Offensive der Sowjetarmee übergehen.« Die Vorbereitung der gewaltigen Angriffsoperation, die sich vom 22. Juni bis Oktober zur größten zusammenhängenden Schlacht des ganzen Krieges entwickelte, nahm also Monate angestrengtester Arbeit in der Führung der Roten Armee in Anspruch. – Sie blieb dennoch der noch heute hochgerühmten deutschen Aufklärung verborgen.

Tatsächlich handelte es sich von Juni bis September/Oktober um fast ein Dutzend große strategische Teiloffensiven, in denen die Rote Armee die Hauptkräfte des deutschen Heeres zerschlug und bis auf den Kurlandzipfel das gesamte, zuvor in deutscher Hand befindliche sowjetische Territorium befreite. Die Heeresgruppen Nord, Mitte, Nordukraine, Südukraine und die 20. Gebirgsarmee in Nordfinnland büßten zahlreiche Verbände und Einheiten ein und verloren große Bestände ihrer Kampftechnik. Noch nicht mitgerechnet ist hier die im Spätherbst/Winter 1944/45 sich anschließende Zerschlagung der deutschen und ungarischen Truppen während der Kämpfe in Ungarn, die später in den Einmarsch nach Österreich mündete.

Die Offensivoperationen der Roten Armee trugen zunächst den Decknamen »Bagration« (nach dem zwischen 1765 und 1812 lebenden Feldherrn der russischen Armee, Pjotr Iwanowitsch Bagration). In der sowjetischen Propaganda war hierfür der Begriff der »zehn Stalinschen Schläge« gebräuchlich. Diese Formel verschwand mit der Zeit, wohl auch weil diese eng miteinander verbunden waren und nicht zuletzt aufgrund zeitweiliger Rückschläge und der blutigen Verluste in den Kämpfen.

Am 21. Juni 1944 hatte Stalin den Alliierten für den kommenden Tag den Beginn der Offensive der Roten Armee angekündigt, die mit 130 Divisionen antreten sollte. Im Nordabschnitt der 2000 Kilometer langen sowjetisch-deutschen Front waren die Finnen schon im Januar hinter ihre Grenze zurückgeworfen und das Leningrader Gebiet befreit worden. Am 22. Juni brach die Großoffensive nun in die Heeresgruppe Mitte ein, befreite Belorußland und stieß in Richtung auf Riga, Ostpreußen und Warschau weiter vor. Nach zwölf Tagen härtester Kämpfe nahm die Rote Armee die belorussische Hauptstadt Minskein – die Grenzen Litauens und Polens waren nah.

Das Ende der Schlacht um den »belorussischen Balkon« und die Befreiung von Minsk war von der Einkesselung der 4. deutschen Armee und von Teilen der 9. Armee markiert. Die Deutschen hatten riesige Verluste von mehr als 100000 Toten und Gefangenen. Insgesamt fielen beim Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte bis Anfang Juli über 350000 Soldaten und Offiziere, mehr als 1942/43 bei Stalingrad.

Ein riesiges Loch von 400 Kilometern Breite klaffte in der deutschen Front zwischen Brest und Kaunas, so daß der Weg für die Rote Armee in Richtung Warschau und Ostpreußen nun frei war. In diese Lücke stießen die sowjetischen Truppen vor und befreiten bis Ende Juli wichtige Städte in Südlettland (Daugavpils, Jelgava und Siauliai – heute im Norden Litauens) und in Litauen die Hauptstadt Vilnius und zuletzt Kaunas (1. August).

In Polen fielen die früheren Grenzstädte Brest und Bialystok/Belastok an die Sowjetarmee. An der Weichsel erkämpfte sie südlich von Warschau bei Magnuszew, Baranów und Sandomierz erste Brückenköpfe. Auf polnischem Boden wurden Lublin (23.7.), weiter südlich Lwow (heute Lwiw in der Ukraine), Stanislaw und Przemysl befreit (27.7.).

Ende Juli hatte sich nach 600 Kilometern ununterbrochenen Vormarschs die Offensivkraft der sowjetischen Soldaten erschöpft. Sie bedurften dringend der Pause und Auffrischung, die Zufahrtsstraßen und Bahnen der Rekonstruktion. Am 1. August riefen die polnische Exilregierung und ihre eingesickerten schwachen Truppen (»Heimatarmee«) in Warschau den Aufstand aus, ohne die weiter östlich schwer kämpfende sowjetische Armee zu verständigen. Die Deutschen zogen in äußerster Eile Kräfte von mehreren starken Divisionen zusammen, die die Rote Armee von der Stadt abdrängten und in Warschau selbst ein furchtbares Blutbad anrichteten.

Gemeinsame Strategie

Die Kriegführung der Alliierten zu Lande und in der Luft im Sommer/Herbst 1944 spricht dafür, daß auf der Basis der Teheraner Abmachungen eine immer wirksamere Abstimmung zwischen den Stäben stattgefunden hat. Entsprechende Unterlagen, wie etwa Generalstabsdokumente, die diese Annahme bestätigen könnten, fehlen allerdings weitgehend.

Im Anschluß an die belorussische Operation im Juni/Juli richteten sich die Angriffe der Roten Armee in vernichtenden Schlägen gegen die Besatzer an den für die deutsche Kriegführung wichtigen Rohstoffquellen. Das heißt gegen Galizien mit den Erdölrevieren zwischen Lwow und den Karpaten (nach harten Kämpfen Anfang August frei), gegen Rumänien (bis Ende September aus dem Krieg an deutscher Seite ausgeschieden und fortan auf sowjetischer Seite), gegen Estland (mit seinen von den Deutschen ausgebeuteten großen Ölschiefervorkommen, in der zweiten Septemberhälfte befreit) und schließlich, in den folgenden Herbst- und Wintermonaten, in langwierigen, blutigen Schlachten gegen Ungarn und Ostösterreich. Deren Ölvorkommen hatte Hitler schon seit Juli/August als »lebensnotwendig« und später, im Januar 1945, als ersten »strategischen Schwerpunkt der Ostfront« eingeordnet.

Der Bombenkrieg gegen die Grundlagen der deutschen Kriegswirtschaft und Rüstung war unter den Westalliierten bereits in Casablanca erörtert worden. Aber erst Ende 1943 in Teheran beschlossen die drei führenden Staatsmänner der Antihitlerkoalition (Josef Stalin, Franklin D. Roosevelt, Winston Churchill) eine wirksam aufeinander abgestimmte Kriegführung zur Niederringung der deutschen Wirtschafts- und Militärmacht. Im Frühjahr/Sommer 1944 begann die 15. US-Luftflotte mit der Bombardierung der Förderanlagen auf den rumänischen Ölfeldern und der Infrastruktur der für die Ausfuhr nach Deutschland wichtige Donauschiffahrt. Die Angriffe auf rumänische Ziele nahmen rasch zu. Die Bomber flogen von April bis Mai, von Mittelitalien aus startend, Serien schwerer Attacken, die sich zum Teil auch gegen ungarische Ziele richteten. Das rumänische Ölgebiet, so notierte das US-War Department am 15. Mai für Roosevelt, sei »das wichtigste Angriffsziel auf dem Balkan, noch wichtiger als die Kommunikationslinien der Achsenmächte oder andere Einrichtungen«. An zweiter Stelle im Mittelmeerraum stehe die Verminung der Donau wegen der Öltransporte nach Deutschland.

Im Juni flogen die Bomber eine Weile im Shuttle-bombing-Verfahren von Italien aus ihre Angriffe mit Zwischenstopps auf sowjetischen Flugplätzen (Poltawa, Mirgorod) beim Hin- und Rückflug, was natürlich militärische und politische Absprache und Vorbereitung der Stäbe beider Seiten voraussetzte.

Noch am 18. August 1944, zwei Tage vor Beginn derjenigen sowjetischen Großoffensive, in deren Folge Rumänien kapitulierte, flogen, wie der deutsche Gesandte meldete, 1100 »feindliche Flugzeuge« ein, die sich sowohl über dem Ölgebiet (Ploiesti, Campina) als auch über Bukarest und bei der Verminung der Donau gegen die immerhin starke deutsch-rumänische Luftabwehr durchsetzten.

Seit September/Oktober 1944 wurde die strategische US-Bomberoffensive gegen die deutschen Hydrierwerke mehr und mehr mit systematischen Angriffen auf das deutsche Verkehrswesen verbunden. Letztere richten sich vordringlich gegen die Bahnanlagen. Diese waren für die Rüstungsindustrie vernichtend. Rüstungsminister Albert Speer faßte später seine Erfahrungen aus der Endphase der Kriegswirtschaft zusammen: »Durch die Verluste in der Treibstoffindustrie war auch die verringerte Rüstungsproduktion für den Kampf bereits im Dezember 1944 und Januar 1945 nicht mehr auszuwerten. Der Verlust an Treibstoff war daher für den Kriegsverlauf noch entscheidender als die Schwierigkeiten in der Rüstung und im Verkehr.«

Die größten Wirtschafts- und Rüstungszentren – Ruhrgebiet, Oberschlesien – waren Ende des Jahres 1944 noch in deutscher Hand. Aber ihr Verlust war voraussehbar. Die Katastrophen der nächsten Monate warfen ihre Schatten voraus. Die Fronten standen nahe den deutschen Grenzen in West und Ost, bei Aachen war sie schon überschritten. Waffen und Truppen, noch immer in Millionenstärke, warteten auf Munition und Treibstoff, die Elektro-, Hydrier- und großen Chemiewerke auf Kohle.

Wirtschaft vor dem Ende

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt stellte das Regime vor unlösbare Aufgaben. Rücksichtslose Rekrutierungen für die Wehrmacht gefährdeten auch wichtigste Betriebe der Rüstungswirtschaft. Die Arbeitsverpflichtung von Frauen und vermehrter Druck zur Aufnahme von Heimarbeit lösten das Problem nicht. Ausländische Zwangsarbeiter, etwa aus der UdSSR und aus Westeuropa, waren seit langem nicht mehr zu beschaffen. Allerdings setzten brutale Rekrutierungswellen ein: 600000 italienische »Militärinternierte«, 400000 nach dem Aufstand verschleppte Warschauer Einwohner und 200000, vielleicht auch 300000 jüdische Arbeiter, etwa die Hälfte davon aus Ungarn, überwiegend Frauen, die über Auschwitz »verteilt« wurden. Daneben wurden Menschen für die Betreuung der »Vertriebenen« aus dem Osten, in erster Linie Frauen und Kinder, benötigt, vornehmlich für deren Unterbringung und Verpflegung. Ungeheuer war der Bedarf an Aufräum- und Reparaturkräften nach den Bombenangriffen auf Städte und Betriebe.

1944 konnte noch keine Rede davon sein, daß die Großbourgeoisie, wirtschaftliche Hauptstütze des Regimes, Klarheit über ihre Zukunft hatte. Noch war der Rüstungsminister mit seiner engen Verbindung zur Führungsspitze, besonders in seiner Vertrauensstellung bei Hitler auch politisch ihr erster Gewährsmann, und er tat alles, sie fest in seinen mächtigen Rüstungsapparat einzubinden und sie in ihrem Durchhaltewillen zu bestärken. Speer, immerhin früh (März/April) von engen industriellen Vertrauten wie Walter Rohland, Vorsitzender der Vereinigten Stahlwerke AG, auf die Möglichkeit einer deutschen Niederlage hingewiesen, bereitete während der Invasion der Alliierten und unter dem Eindruck der großen sowjetischen Offensive eine Kampagne vor, um die Spitzen der Industrie auf den Sieg und sein System der kriegswirtschaftlichen Führung einzuschwören. Dazu hielten er und seine wichtigsten Mitarbeiter mehrere große Reden in Ruhrgebiet und in Linz und sorgten auch für das dazugehörige Presseecho. Am 26. Juni ließ Speer den »Führer« in Berchtesgaden eine von ihm vorbereitete Durchhalterede halten, womit der Minister in der damaligen Situation seine enorme Macht demonstrierte.

Monate später hatten weiterblickende Industrielle schon manche Illusionen verloren. Wann werde denn nun »endlich Schluß gemacht«, fragte Ende November 1944 Albert Vögler, die graue Eminenz innerhalb der Monopolbourgeoisie, den Minister. Als Speer ihm andeutete, daß Hitler noch einen größeren Militärschlag vorbereite (die spätere »Ardennen-Offensive«), erschrak Vögler: Die Offensive werde doch wohl im Osten stattfinden; Hitler könne doch nicht »die Verrücktheit begehen, den Osten zu entblößen, um im Westen den Gegner aufhalten zu wollen«. Im übrigen zeigte er sich hartnäckig: »Aber er ist sich doch im klaren darüber, daß danach Schluß sein muß? Wir verlieren zu viel Substanz. Wie soll ein Aufbau möglich sein, wenn die Zerstörungen in der Industrie auch nur einige Monate so weitergehen?«

* Dietrich Eichholtz ist Historiker. Von ihm stammt die dreibändige »Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945«, die heute noch als Standardwerk gilt.

Aus: junge Welt, Freitag, 6. Juni 2014



War der D-Day kriegsentscheidend?

Peter Lieb berichtet über die Landung der Westalliierten in der Normandie vor 70 Jahren

Von Karlen Vesper **


Der Apfel ist reif. Der Onkel besucht dich bald.« Für Ernst Melis aus Kassel kam die Landung der Westalliierten in der Normandie nicht überraschend, dank verschlüsselter Funksprüche, die er und Genossen in Lyon aus London erhielten. In den frühen Morgenstunden des 6. Juni 1944 folgte endlich die sehnsüchtig erwartete Nachricht: »Der Himmel über Frankreich ist wolkenlos.« Die Zweite Front war eröffnet. »Wir haben uns sogleich im Lokal von Alfons, einem Gaullisten, getroffen, um weitere Aktionen abzusprechen«, sagt Melis im Gespräch mit »nd«.

Hans Heisel aus Leverkusen erinnert sich: »Paris glich einem aufgeschreckten Bienenstock.« Der Obermaat wollte am liebsten handstreichartig das Kommando im deutschen Marinestab am Place de la Concorde an sich reißen. »Das war natürlich völlig unrealistisch, jugendliche Naivität«, räumt der Veteran rückblickend ein. Mit Kurt Hälker aus Duisburg hatte er in der Fernschreiberzentrale der deutsch-faschistischen Kriegsmarine eine kleine Widerstandsgruppe gebildet, die den Maquis, den bewaffneten Arm der Résistance, mit kriegswichtigen Informationen versorgte. Bei nächstbester Gelegenheit desertierten beide; im August ’44 waren sie beim Aufstand zur Befreiung von Paris dabei.

Werner Knapp aus Berlin strandete mit der zweiten Welle der »Operation Overlord« an der Küste der Normandie, nordwestlich von Caen, bei Arrochomanches-les-Bains. »Wir sind mit relativ trockenen Füßen an Land gegangen«, berichtet er im »nd«. Montgomerys German Soldier, der lieber eine »Spitfire« geflogen wäre, steuerte einen »Cromwell« und nahm an den mörderischen Gefechten um Falaise, »auch Knochenmühle genannt «, und Dünkirchen teil, das vom deutschen Oberkommando zur Festung erklärt worden war. Drei dieser vier Deutschen, die an der Seite der Alliierten gegen Hitler & Co. kämpften, lebten und arbeiteten später in der DDR, einer in der Bundesrepublik. Den ostdeutschen Staat überlebte eine Gedenktafel im Memorial bei Caen. Gestiftet wurde sie von der République Démocratique Allemande (RDA = DDR) in Zeiten des Kalten Krieges, lange bevor sich Staatsoberhäupter dort zu D-Day-Feiern einfanden.

Erst 1994 waren die Regierungschefs aller 1944 in der Normandie kämpfenden Staaten eingeladen – mit Ausnahme der Deutschen. Es sollte bis 2004 dauern, ehe Frankreichs Präsident Jacques Chirac mit Gerhard Schröder erstmals einen deutschen Kanzler empfing. Warum aber Paris über Jahrzehnte nicht die vormaligen Verbündeten einlud, erklärt Peter Lieb in seinem zum 70. Jahrestag erschienenen Buch: Charles de Gaulle verübelte es den US-Amerikanern und Briten, dass seine »Freien Franzosen« bei »Overlord« nur eine marginale Rolle spielen durften.

Der Dozent im Department of War Studies an der Royal Academy Sandhurst bietet zunächst (aus deutscher und britischer Sicht) zwei Ausschnitte der gewaltigen Schlacht, die bis Ende August 1944 an die 55 000 deutsche und bis zu 65 000 alliierte Soldaten sowie bis zu 19 000 Zivilisten das Leben kosten sollte, Städte und Dörfer in der Normandie verwüstete. Sodann geht er chronologisch vor, berichtet, wie es der Wehrmacht gelang, was der Reichswehr 1914 misslang: Im Frühjahr 1940 war Frankreich in nur sechs Wochen besiegt. Hitler ließ am 22. Juni revanchelüstern die Kapitulation in Compiègne in eben jenem, bereits musealen, Salonwagen unterzeichnen, in dem am 11. November 1918 der Waffenstillstand zwischen Entente und Deutschland besiegelt worden war.

Lieb untersucht anschließend die Kollaborationsmotive des Maréchal Pétain, Chef de l’État des kollaborierenden Vichy-Regimes, bis auch die sogenannte »Freie Zone« im November 1942 von der Wehrmacht besetzt wurde. Erstaunlich wenig Personal zählte die Okkupationsmacht in Frankreich: kaum tausend Beamte, 2500 Polizisten sowie 40 000 bis 80 000 Soldaten. Seit Hitlers »Weisung Nr. 21. Fall Barbarossa« vom 18. Dezember 1940 galt der Westen als Nebenkriegsschauplatz. Lieb widerspricht jedoch dem gängigen Bild von der ruhigen, gemütlichen Westfront. Der Widerstand war von Anfang an aktiv. Vor allem Kommunisten und Juden setzten mit ihren »actions immédiates « den Aggressoren heftig zu – was Lieb leider nicht gebührend würdigt. Gewiss, die Rache der Okkupanten folgte prompt: Verhaftungen, Geiselerschießungen, Massaker. Und dennoch, kommunistische Widerstandskämpfer sind in Frankreich nicht von ungefähr hoch angesehen und Ritter der Ehrenlegion. Ohne sie hätte de Gaulle am 25. August ’44 nicht in Paris einziehen können.

Liebs Hauptaugenmerk gilt der Planung und Vorbereitung der Invasion in der Normandie, der am 10. Juli 1943 die Landung auf Sizilien vorausging, die zum Sturz von Mussolini und zum Seitenwechsel Italiens unter der neuen Regierung Badoglio führte. »Aus heutiger Sicht war es für die Alliierten sehr vorteilhaft«, schreibt der Militärhistoriker, »dass die Briten ihre amerikanischen Verbündeten von einer frühzeitigen Landung im Westen abgebracht hatten. Diese hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer militärischen Katastrophe geführt.« Die Westalliierten hätten vor 1944 noch nicht über die notwendigen Landungskapazitäten verfügt, zudem sei die US-Army noch reichlich kampfunerfahren gewesen, rechtfertigt Lieb die Verzögerung zur Entlastung des Alliierten im Osten, der Sowjetunion. Das sehen andere anders, vor allem auf russischer Seite. Erstaunlicherweise erwähnt Lieb nicht Valentin Falins voluminöses Buch »Zweite Front. Die Interessenkonflikte in der Anti-Hitler-Koalition « (1995), erfreulicherweise jedoch zitiert er einen DDR-Historiker: Karl- Heinz Jahnke mit »Hitlers letztes Aufgebot « (1992).

Lieb will wider Urteile bürsten, die unter Historikern inzwischen Konsens sind. So widerspricht er der Ansicht, »Overlord« wäre keine kriegsentscheidende Schlacht gewesen, da der Krieg im Frühjahr 1944 bereits entschieden war – und zwar an der Ostfront. Auch streitet er mit Kollegen, die operative Schwächen der Westalliierten kritisieren, die einen raschen Vorstoß vereitelten, womit der Krieg hätte verkürzt werden können. Lieb verweist auf die Weisung Nr. 51 vom 3. November 1943, mit der Hitler angesichts der erwarteten Invasion in Frankreich eine verstärkte »Abwehrkraft« im Westen forderte. Dennoch standen im Juni 1944 dort nur knapp 60 deutsche Divisionen, hingegen 165 an der Ostfront. Lieb betont: »Von Overlord hing es ab, wie die Sieger die europäische Landkarte nach dem Krieg zeichnen würden, welche Länder in den Einflussbereich der Sowjetunion und welche in den Einflussbereich der Westalliierten gerieten. Ein Scheitern der Landung hätte sicher bedeutet, dass ganz Deutschland und möglicherweise sogar Teile Westeuropas unter Hammer und Sichel gekommen wären. « Er schlussfolgert: »Overlord war also eine Entscheidungsschlacht des Zweiten Weltkrieges, und zwar im politischem Sinne.«

Tatsächlich hat die Rote Armee über Jahre fast im Alleingang die Wehrmacht bekriegt und besiegt. Und während sie im Januar 1945 in einer Großoffensive die Ostfront durchbrach, eroberte die US-Army erst Anfang März die Brücke bei Remagen, um nun ihrerseits die Reichsgrenze am Rhein zu überschreiten. Bleibt in Anbetracht dramatischer Geschichte und spannungsgeladener Gegenwart die Frage: Werden sich heute Putin und Obama in der Normandie die Hand reichen?

Peter Lieb: Unternehmen Overlord. Die Invasion in der Normandie und die Befreiung Westeuropas. C.H. Beck, München. 254 S., br., 14,95 €.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 6. Juni 2014


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