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Zerfallserscheinungen

Die Weltwirtschaftskrise, die Präsidialkabinette und der Aufstieg der NSDAP. Die Weimarer Republik ging um 1930 ihrem Ende entgegen

Von Manfred Weißbecker *

In diesen Tagen erscheint im Kölner Papyrossa-Verlag in der Reihe Basiswissen der Band »Weimarer Republik« aus der Feder Manfred Weißbeckers. Der Text beruht zu großen Teilen auf Artikeln, die der Autor zuerst in dieser Zeitung veröffentlicht hat. jW übernimmt aus dem Buch einen Auszug aus dem V. Kapitel, in dem der Zeitabschnitt vom Beginn der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 bis zu den Reichstagswahlen im September 1930 behandelt wird. (jW)<

Die Weltwirtschaftskrise – offen ausgebrochen am 25. Oktober 1929 mit einem überraschenden und ungeheuer tiefen Sturz der Aktienkurse an der New Yorker Börse – ergriff alle kapitalistischen Länder der Welt. Sie traf mit besonderer Wucht und Intensität Deutschland. Eine zyklisch auftretende Überproduktionskrise verschmolz hier mit der seit Jahren schwelenden Agrarkrise. Drastisch wurden die Produktionskapazitäten gedrosselt und massenhaft Arbeitsplätze vernichtet, Löhne und Gehälter rapide gesenkt. Alle Folgen der Krise gingen zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung, des Proletariats und ebenso von Gewerbetreibenden, Händlern, Künstlern, Intellektuellen usw. Die rasch zunehmende Arbeitslosigkeit  – 1932 erfasste sie rund sechs Millionen Menschen – und sinkende Kaufkraft führten noch tiefer in die Krise. Immer breitere Schichten der Bevölkerung gerieten in schwere Not. Im Krisenstrudel brachen selbst angesehene Großbanken und altbekannte Firmen zusammen. Die vor allem mit den Reparationsverpflichtungen verbundene Abhängigkeit vom internationalen, insbesondere vom US-amerikanischen Finanzkapital belastete zusätzlich die Verhältnisse in Deutschland. Doch die schlimmsten Folgen der Krise entstanden mit dem Versuch führender Kreise der deutschen Eliten, dieselbe als eine willkommene Möglichkeit zur Durchsetzung ihres bereits seit Mitte der 20er Jahre ins Auge gefassten innen- und außenpolitischen Kurswechsels zu nutzen. Bei einem Treffen mit Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht in der Kruppschen Villa Hügel fasste Thyssen dies 1929 in einer knappen Formel zusammen: »Diese Krise brauche ich jetzt! Nur dann sind Lohnfragen und Reparationsfragen auf einmal zu beseitigen.« Krisennutzung nach innen und nach außen – so lautete das Motto einer krisenverschärfenden Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, die alle Fesseln der Weimarer Verfassung zu lösen und den Versailler Vertrag völlig zu überwinden anstrebte. Die zwangsläufig zunehmenden sozialen Konflikte sollten in Kauf genommen und mit verschärftem Repressionsdruck bewältigt werden.

»Kompromisse helfen nicht mehr«

Eine Denkschrift markiert den Übergang der Weimarer Republik in die Krisenzeit der Weltwirtschaft. Sie wurde verfasst vom Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) und veröffentlicht am 2. Dezember 1929. Ihr Titel täuschte Alternativlosigkeit vor: »Aufstieg oder Niedergang?« Die Arbeit an diesem geschichtlich bedeutsamen Dokument war schon geraume Zeit zuvor von deutschen Großindustriellen veranlasst worden. Sie hatten mit Sorge verfolgt, wie die Konjunktur der letzten Jahre sich abschwächte und die Unternehmensgewinne zurückgingen. Was vorgelegt wurde, bedeutete den Beginn verstärkter und offensiv betriebener Versuche, die Regierung nachdrücklich zu beeinflussen und zur Erfüllung oft erhobener Forderungen zu zwingen.

Im einzelnen verlangte der RDI eine generelle »Umstellung« der deutschen Wirtschaftspolitik, wobei die »Förderung der Kapitalbildung« als Ausgangspunkt aller neu zu treffenden Maßnahmen zu gelten habe. Kategorisch hieß es: Die deutsche Wirtschaft müsse von allen unwirtschaftlichen Hemmungen befreit werden. Die Belastung der Wirtschaft durch Steuern sei auf ein unumgänglich notwendiges Maß zurückzudrängen. Alle Unternehmen in öffentlicher Hand sollten künftig grundsätzlich in privatwirtschaftlicher Form betrieben werden. Zu reformieren sei das Sozialversicherungswesen, ebenso die Arbeitslosenversicherung. Aufzuheben seien die bestehende Schlichtungsordnung und das, was die Industriellen als »Zwangslohnsystem« bezeichneten. Sie meinten damit die Beseitigung der staatlichen »Zwangseinwirkung auf die Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen« und wandten sich auch gegen die Schiedssprüche bei Tarifauseinandersetzungen, welche nicht länger als verbindlich betrachtet werden dürften. Alle Ausgaben der öffentlichen Körperschaften sowie die Steuern sollten einer »wesentlichen Senkung« unterliegen. Hingegen seien die indirekten Steuern, insbesondere die Verbrauchssteuern »stärkerer Anspannung« zu unterwerfen.

Alles zielte direkt gegen die Bemühungen, errungene sozialpolitische Positionen zu bewahren. Es blieb eine Frage der Zeit, bis die von Reichskanzler Hermann Müller (SPD) angeführte Regierung einer großen Koalition kapitulieren würde. Es nützte der Sozialdemokratie auch nicht, ebenfalls einen starken Staat zu wünschen, und, wie Reichsinnenminister Carl Severing schrieb, »die Kommunisten scharf anzufassen«. Letzteres praktizierte der sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin, Karl Zörgiebel, am 1. Mai 1929, als er erstmals seit dem Sturz der Monarchie die traditionelle Maidemonstration verbot und sie, als sie auf Initiative der KPD trotzdem stattfand, zusammenschießen ließ. Nach dem »Blutmai« – der ähnlich verheerend alle Bemühungen für ein gemeinsames Handeln der Arbeiterparteien beeinträchtigte wie die kommunistische Losung von den »Sozialfaschisten«, die in seiner Folge in der KPD vollends Fuß fassen konnte – wurde auch der Rote Frontkämpferbund verboten.

Entscheidende Schritte für Müllers Sturz unternahm die Deutsche Volkspartei (DVP) nach dem Tod Gustav Stresemanns, dessen Warnung in seiner Partei kein Gehör fand, nicht zu einer »reinen Industriepartei« zu werden. Im März 1930 entfachte sie eine Kampagne gegen die Arbeitslosenversicherung, der die Hauptschuld am defizitären Reichshaushalt angelastet wurde. Als sich der Reichskanzler wegen der starken gewerkschaftlichen Proteste genötigt sah, eine Gesetzesvorlage über eine erneute Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zurückzuziehen, traten mehrere bürgerliche Minister demonstrativ zurück. Das Schicksal der großen Koalition war damit besiegelt, der Weg frei für eine umfassendere Realisierung der Forderungen deutscher Wirtschaftsverbände. Im Gegensatz zu den Koalitionen, die nach den Regeln des Parlamentarismus entstanden waren, folgte nun die Schaffung eines autoritär wirkenden Kabinetts. An dessen Spitze berief der Reichspräsident am 30. März 1930 den konservativen Zentrumspolitiker Heinrich Brüning.

Mit dem Übergang zu einer Präsidialherrschaft – sie wurde von der Sozialdemokratie als »kleineres Übel« toleriert und eröffnete durch fortschreitenden Demokratieabbau dem größeren Übel wachsender faschistischer Gefahr unheilvolle Chancen – endete eine lange und intensiv betriebene Suche nach anderen, von parlamentarischen Mehrheiten unabhängigen Regierungsmöglichkeiten. Bislang bot der Artikel 48 der Weimarer Verfassung manche Möglichkeiten autoritären Regierens, doch wurden sie, weil der Artikel dem Reichstag eine Mitsprache einräumte, mehr und mehr als unzureichend angesehen. In diesem Sinne war vom Vorsitzenden des RDI, Carl Duisberg, schon 1926 gefordert worden: »Es darf nicht halbe, es muss ganze Arbeit sein, die gemacht wird. Kompromisse helfen nicht mehr. Es geht ums Prinzip, ums ganze System.« In der Sprache der Nazis hieß das: »Alles oder nichts!« Und wenn bei ihnen »Großdeutschland« bzw. »Lebensraum« im Programm stand, dann kann parallel dazu gelesen werden, dass der RDI in seinen Veröffentlichungen vom Oktober 1929, also noch vor dem »Schwarzen Freitag«, die Politik aufforderte, ein »Großraum-Wirtschaftsgebiet« zu schaffen, denn nur so sei »etwaigen Wirtschaftskrisen und sozialen Erschütterungen wirksam zu begegnen«. Schon 1928 hatte es Kampagnen der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und des Wehrverbands »Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten« gegeben, dem Reichspräsidenten mehr Befugnisse zuzubilligen und den Verfassungsartikel 54 zu streichen, der besagte, dass Reichskanzler und Reichsminister des Vertrauens einer parlamentarischen Mehrheit bedürfen.

Was seit 1930 praktiziert wurde, entsprach nicht mehr der demokratisch-parlamentarischen Verfasstheit der Weimarer Republik. Es diente dieser auch in keiner Weise, denn es lag im Grunde bereits außerhalb der Legalität politischen Handelns. Das politische Kräfteverhältnis verschob sich weiter nach rechts, womit jener Boden verfestigt wurde, auf dem alldeutsch-völkischer Nationalismus sich entfalten und schließlich faschistisch-rassistischer Ungeist triumphieren konnte. Die pseudo- und antidemokratisch-autoritären Herrschaftsformen ließen sich nicht als faschistisch charakterisieren, wie Zeitgenossen oftmals behaupteten, wohl aber waren sie dem Faschismus dienlich, ihn fördernd und bestärkend.

»Faules Lügengewäsch«

Allerdings bemühten sich Brüning und die sein Kabinett unterstützenden Parteien, die beabsichtigten »sozialpolitischen Maßnahmen« so zu gestalten, dass sie ihren linken Gegnern keinen »bedenklichen Agitationsstoff« bieten würden. Der Kanzler strebte vor allem ein Ermächtigungsgesetz an, da parlamentarische Mehrheiten für weitere Notverordnungen zwar notwendig, aber nicht zu erwarten waren. Im Kabinett wurden auch Wahlrechtsänderungen erwogen. Allein die Themen, die in den Ministergesprächen mehrfach zur Debatte standen, sprechen Bände: Osthilfe, Reform der Arbeitslosenversicherung und der Krankenversicherung, Maßnahmen zur Verhütung »unwirtschaftlicher Preisbindungen«, Einführung einer »Bürgersteuer«, Senkung der »Industriebelastung«, Erhöhung von Agrarzöllen, Handelsverträge u. ä. m. Im Kabinett hieß es mit dem Blick auf den Wahlkampf demagogisch: »Dieser ganze Verordnungsinhalt müsse gerechtfertigt werden mit der Devise: Aufrechterhaltung (sic!) der Arbeitslosenversicherung und Maßnahmen zur Ermöglichung der Beschäftigung der Arbeitslosen.« (aus dem Protokoll der Ministerbesprechung vom 24.7.1930)

Als am 18. Juli 1930 eine Mehrheit des Reichstages gegen eine Reihe von Notverordnungen des Brüning-Kabinetts stimmte, löste Hindenburg das Parlament auf. Wieder einmal hielten dafür die Artikel 48 und 25 der Weimarer Verfassung her. Andere Artikel dieses Grundgesetzes blieben indessen unberücksichtigt: Niemals hätten dieselben Notverordnungen nach dem Nein des Parlaments wieder in Kraft gesetzt werden dürfen, doch genau das tat die Regierung. Mit Recht sprechen Kritiker von einem Staatsstreich. Brüning redete hingegen – wider besseres Wissen und eigene Zielsetzung – davon, dass er den Parlamentarismus nicht abschaffen, sondern ihn etwas verändern wolle, um ihn retten zu können.

Zum Kurswechsel nach rechts gehörte auch ein zunehmend unkritischeres Verhältnis konservativer und rechtsliberaler Kräfte zu jener neuen Partei, die rechts von ihnen ganz offen den Kampf gegen alle Ergebnisse der Novemberrevolution, gegen die Weimarer Republik, für eine umfassende Revision der Ergebnisse des Ersten Weltkrieges und für Deutschlands Vormachtstellung in der Welt auf ihre Fahnen schrieb. Es mehrte sich die Zahl der lokalen und regionalen Bündnisse rechter Organisationen mit den Nazis. Antifaschisten wurden weitgehend behindert. Mehr Gelder flossen in die Kassen der NSDAP. Vor allem deren 1929 erfolgte Aufnahme in die Reihen der Organisatoren eines Volksbegehrens gegen den die deutschen Reparationszahlungen betreffenden Young-Plan hatte sie »salonfähig« gemacht. Den meisten der nationalistisch-antidemokratischen Parteien und Verbänden schien sie ein nützlicher Bündnispartner zu sein. Auch mit ihrer Hilfe wollte man angeblich alle Wirtschaftsprobleme allein durch das Brechen der »Knechtschaft von Versailles« gelöst sehen, vor allem aber die Aktionskraft der organisierten Arbeiterbewegung schwächen.

Nach der Auflösung des Reichstages begann ein erbittert geführter Wahlkampf. Die in der Regierung vertretenen Parteien gaben vor, gegen jeden Radikalismus auftreten zu wollen. Im Auge hatten sie indessen nur die Arbeiterparteien. Zwar rechnete man auch mit einem gewissen Zuwachs für die NSDAP, doch der wurde als relativ klein und unerheblich eingeschätzt. Brüning erklärte am 31. August 1930 in Trier sogar, es könne doch keinem verantwortlichen deutschen Staatsmann in den Sinn kommen, das deutsche Volk »in Abenteuer irgendwelcher Art zu verstricken«. Mit sich selbst beschäftigt und um die Durchsetzung der Notverordnungen bemüht, wurden alle Gefahren außer acht gelassen, die von der erstarkenden NSDAP ausgingen. Eine völlige Fehlbeurteilung der politischen Lage zeigte sich auch im sorglosen Umgang mit einer Denkschrift, die 1929/30 im preußischen Innenministerium ausgearbeitet worden und zu dem Ergebnis gekommen war, die NSDAP sei eine staats- und republikfeindliche, hochverräterische Verbindung. Die Reichsregierung meinte indessen ausweichend, sich zur Frage von deren Legalität oder Illegalität nicht äußern zu können.

Warnende, ja geradezu beschwörende Stimmen vor dem, was eine erfolgreiche NSDAP mit sich bringen würde, kamen vor allem aus den Reihen von KPD, SPD und Gewerkschaften. Sie sahen in den Hakenkreuzlern die größte Gefahr, warnten vor dem Faschismus und erreichten bei Großveranstaltungen mit dem Motto »Nie wieder Krieg«, z. B. am 1. August 1930 in Berlin, mehrere zehntausend Menschen; die eine fand allerdings im Lustgarten, die andere auf dem Winterfeldtplatz statt. Von antifaschistischer Gemeinsamkeit keine Spur, im Gegenteil: KPD und SPD nutzten jede Gelegenheit, sich gegenseitig zu beschuldigen. Da diffamierten die einen die anderen als »Sozialfaschisten«, jene wiederum die anderen als »rotlackierte Nazis«. Demokraten und Pazifisten, die wie Carl von Ossietzky in Die Weltbühne vom Februar 1930 den »Rotkoller« der Herrschenden erkannt hatten, zeigten sich vom realitätsfernen Verhalten der Arbeiterparteien enttäuscht.

Niemandem kam die Auflösung des Reichstages gelegener als den Nazis. Man stehe, so erklärte Hitler am 2. August, an der »Wende des deutschen Schicksals« und werde ein Vielfaches gegenüber der bisherigen Zahl an Stimmen erhalten. Seine Hoffnung war nicht unbegründet: Die NSDAP verbuchte einen erheblichen Zulauf an Mitgliedern. Auch dadurch wuchsen ihre finanziellen Mittel, wovon auch der Ankauf des Barlowschen Palais im Zentrum Münchens zeugte, das nach seinem Umbau den Namen »Braunes Haus« erhielt. Wiederholte Aufrufe an Mitglieder und Gönner, Erwerb und Einrichtung dieses verschämt »Zentralheim« genannten Palastes finanzieren zu helfen, sollten auch vertuschen, dass es schließlich vor allem eine aus einem Darlehen hervorgegangene Spende Fritz Thyssens war, die dem Zentralapparat der Faschistenpartei zu feudaler Residenz und höherer Funktionstüchtigkeit verhalf. In dem Schwerindustriellen besaß die NSDAP eine ihrer verlässlichsten Stützen im Ruhrgebiet, wo traditionell die Deutschnationalen gefördert wurden. Thyssen – nach früherer Mitgliedschaft im Zentrum noch Mitglied der DNVP – blieb der NSDAP verbunden und bis Anfang 1932 deren Stadtverordneter in Mülheim/Ruhr. Viele Großindustrielle folgten ihm, wenngleich sie dies zumeist nicht derart demonstrativ taten.

Ihren Wahlkampf führte die NSDAP sowohl gegen die beiden Arbeiterparteien als auch gegen die anderen bürgerlichen Parteien. Hitler sprach vom »Elend«, das der Marxismus dem deutschen Volke aufgeladen habe: »Sozialdemokratie und Kommunismus haben gemeinsam Deutschland in dieses namenlose Unglück gestürzt, beide müssen vernichtet werden«. Zugleich klagte er das Bürgertum an, da es mit der »Pest des Marxismus« paktiere. Alle wurden als Novemberverbrecher und Systemparteien beschimpft. Plakate zeigten »saufende Minister« und »feiste Bonzen«. Bestechungsskandale, in die Beamte verwickelt waren, wurden weidlich ausgebeutet, um das als verkommen bezeichnete Gemeinwesen anzuprangern. Es müsse durch einen sauberen Staat ersetzt werden. Solche Attacken appellierten an eine unausgegorene Gedankenwelt unter Anhängern und Suchenden, knüpften an Unzufriedenheit, Enttäuschungen und verletzte Gefühle an. Den vorgetäuschten Antikapitalismus nahm die wachsende Gefolgschaft hin, ohne zu bemerken, wie sorgsam mit der antisemitisch orientierten Trennung von »schaffendem« und »raffendem« Kapital vermieden wurde, die kapitalistische Gesellschaft als ganze anzugreifen. Einzelne Politiker und deren Parteien erschienen als die Alleinschuldigen am Massenelend. Ihre Beseitigung und Ersetzung durch eine von Hitler geführte Regierung sollte als Ausweg erscheinen. Doch wie? Dafür boten die Nazis an: »Ausrottung des Marxismus«, »Raumerweiterung« und Durchsetzung »deutscher Grundwerte« in der ganzen Welt. Man dürfe nicht von »Brüderlichkeit« oder »Nie wieder Krieg« faseln, denn das sei zu allen Zeiten nur »ein faules Lügengewäsch« gewesen.

Zu der rund 34.000 Veranstaltungen umfassenden Wahlkampagne der Nazis gehörte auch ein immer rabiateres Vorgehen gegen Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Die in Uniform und in Zivil auftretenden Schlägertrupps verübten Anschläge auf das Eigentum von Arbeiterorganisationen, überfielen politische Gegner mit Revolvern, Hieb- und Stichwaffen. Demonstrativ bekannten sich SA-Führer zu individuellem Terror. Zugleich perfektionierte die NSDAP Organisation und Technik ihres öffentlichen Auftretens. In Städten mietete sie die größten Versammlungshallen und verstand es meist, sie komplett zu füllen, so dass häufig Übertragungen per Lautsprecher ins Freie oder in benachbarte Säle notwendig wurden. Auch dadurch gewann die Öffentlichkeit den Eindruck, dieser Partei würden die Massen unaufhaltsam zuströmen. SA-Trupps, die vor den Rednerbühnen aufzogen, suggerierten Jugendlichkeit, Kraft und Geschlossenheit und standen bereit, jeden Zwischenrufer aus dem Saal zu prügeln. Systematisch wurde die Bevölkerung der Kleinstädte und des platten Landes bearbeitet. Die NSDAP schickte geübte Parteiredner auch in entlegene Gebiete. Manche von ihnen waren in der am 1. Juli 1929 ins Leben gerufenen Rednerschule vorbereitet worden, nach deren Besuch sie eine parteiamtliche Anerkennung erfuhren. Sie hatten ein festgelegtes Pensum von Einsätzen zu bestreiten, und ihre Dienste wurden nach jedem Einsatz auch finanziell belohnt.

»Bindet den Helm fester«

Der sich demagogisch als »nationalsozialistisch« bezeichnenden Partei des deutschen Faschismus brachte die Wahl einen ersten großen Erfolg: Nahezu sechseinhalb Millionen Wähler votierten für sie. Ihr Stimmenanteil erhöhte sich von den mageren 2,6 Prozent – erreicht im Mai 1928 – auf 18,3 Prozent. Die größten Zugewinne verbuchte sie in Nord- und Ostdeutschland. In Schleswig-Holstein stieg ihr Anteil von vier Prozent sogar auf 27 Prozent, auch in Ostpreußen, Pommern, in der Provinz Hannover und in Mecklenburg erreichte sie über 20 Prozent. Der 14. September 1930 machte sie sensationell zur zweitstärksten Partei, unter den bürgerlichen Parteien sogar zur stärksten. Sie verfügte jetzt über 107 Sitze im höchsten deutschen Parlament, 95 mehr als bis dahin. Profitiert hatte sie sowohl von den Schwächen aller anderen Parteien, von den allgemein verwendeten nationalistischen Parolen und ihren eigenen sozialpolitischen Verheißungen, aber auch von einer sehr hohen Wahlbeteiligung. Zahlreiche Jugendliche hatten sich ihr zugewandt, auch solche aus proletarischen Kreisen. Die rechten bürgerlichen Parteien erlitten hingegen herbe Verluste. Der Stimmenanteil der DVP ging von 8,7 auf 4,5 Prozent zurück, jener der DNVP von 14,2 auf 7,0 Prozent. Auch die Sozialdemokratie verlor 5,3 Prozentpunkte, obgleich sie immer noch mit 24,5 Prozent stärkste Partei war. Die Kommunisten hatten sich um 2,5 Prozentpunkte verbessert und kamen jetzt auf 13,1 Prozent. Allein die großbürgerlich-katholische Zentrumspartei und die BVP konnten ihren Wählerstamm bewahren.

Als der neue Reichstag am 13. Oktober 1930 eröffnet wurde, kam es sofort zu einem Eklat: Die 107 Abgeordneten der NSDAP erschienen alle in brauner Parteiuniform und verstießen damit provokativ gegen das in Preußen geltende Uniformverbot. Dennoch brauchten sie eine Strafverfolgung nicht zu befürchten, da dazu ihre politische Immunität hätte aufgehoben werden müssen. Zugleich erlebte Berlin an diesem Tag pogromartige Ausschreitungen. Für Juden gehaltene Passanten wurden von SA-Leuten beschimpft und verprügelt, dem Kaufhaus Wertheim wurden die Schaufensterscheiben eingeworfen.

Im Reich und auch im Ausland wuchsen Befürchtungen vor einem erneuten Putsch der NSDAP, zumal diese die Parole verbreitete: »Nach dem Sieg – Bindet den Helm fester!« Doch anders als noch im Herbst 1923 bemühte sich ihre Führung zugleich, den Ludergeruch von Unzuverlässigkeit und illegitimem Verhalten gegenüber Bündnispartnern loszuwerden. Eine demonstrativ genutzte Gelegenheit bot ein Prozess vor dem Leipziger Reichsgericht, der vom 23. September bis zum 4. Oktober 1930 gegen drei ehemalige Reichswehroffiziere stattfand, die in Kontakt mit SA-Führern versucht hatten, im Heer nationalsozialistische Zellen zu bilden. Der als Zeuge geladene Hitler konnte eine zweistündige Rede über die angebliche vollkommene Legalität der Methoden und Ziele seiner Partei halten. Obwohl dem obersten Gericht der Republik zahlreiche Dokumente vorlagen, durch welche die hochverräterische Tätigkeit der NSDAP bewiesen wurde, konnte Hitler unbestritten behaupten, seine gesamte Partei lehne eine gewaltsame Beseitigung der Verfassung ab. Die SA habe keinen militärischen Charakter, sei waffenlos und lediglich als Schutztruppe gegen linke Überfälle bestimmt. Werde in seiner Bewegung von »Revolution« gesprochen, sei lediglich ein geistiger Prozess gemeint. Als Hitler darauf eine oft zitierte Stelle aus den Nationalsozialistischen Briefen vorgehalten wurde, wonach er selbst drohend angekündigt hatte, dass im Kampf um die Macht Köpfe in den Sand rollen würden, gab er dem zynisch die Auslegung, der Henker werde erst nach dem Sieg seiner Bewegung und dann auf der Grundlage von Urteilen eines Staatsgerichtshofes in Aktion treten.

Manfred Weißbecker: Weimarer Republik. Basiswissen Politik, Geschichte, Gesellschaft, Ökonomie. Papyrossa-Verlag, Köln, 138 Seiten, 9,90 Euro

* Aus: junge Welt, Freitag, 16. Januar 2015


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