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"Wir müssen eine klägliche Bilanz ziehen"

Kein Militärrichter wurde wegen Todesurteilen belangt. Bundestag berät über Rehabilitierung der "Kriegsverräter". Ein Gespräch mit Wolfram Wette *

Wolfram Wette ist Professor für Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Er berät die SPD-Bundestagsfraktion in Sachen Rehabilitierung ehemaliger Wehrmachtssoldaten, die im Zweiten Weltkrieg wegen »Kriegsverrats« verurteilt wurden. Das im Folgenden dokumentierte Interview erschien in der Tageszeitung "junge Welt".



Der Bundestag wird am heutigen Dienstag (8. Sept.) das »Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile« abschließend beraten. Mit seiner Verabschiedung wären ehemalige Wehrmachtssoldaten rehabilitiert, die wegen »Kriegsverrats« verurteilt wurden. Was bedeutet das für Sie?

Ich hatte mich gefragt, warum die sogenannten Kriegsverräter bislang von der Rehabilitation ausgenommen wurden und was das für Menschen waren. Ich habe dann genau hingesehen: So entstand eine größere Forschungsarbeit, deren Ergebnis in dem Buch »Das letzte Tabu« veröffentlicht ist. Grundlage sind Urteile gegen 65 Wehrmachtssoldaten.

Warum interessieren Sie sich für dieses Thema?

Ich habe mich seit 1982 immer mehr mit kritischen Minderheiten im deutschen Militär beschäftigt. Mein Schwerpunkt sind widerständige Soldaten in der deutschen Wehrmacht.

Welche Sachverhalte konnten zur Verurteilung wegen Kriegsverrats führen?

Kurz gesagt: Der Verratsparagraph wurde von den Kriegsrichtern als allgemeiner Schlagstock benutzt, um Unbotmäßigkeiten unterschiedlicher Art mit der Todesstrafe zu belegen. Opfer waren z. B. Soldaten, die in den Lagern Kriegsgefangenen geholfen, vielleicht mit ihnen sogar vertrauliche Gespräche geführt hatten. Andere hatten sich den Judenmorden entgegengestellt.

Welche Motive hatten die widerständigen Soldaten und Offiziere?

Die sind sehr unterschiedlich. Es gab wegen Kriegsverrats verurteilte Soldaten, die durchaus politische Motive hatten. Z. B. hatten sich einige an einer Flugblattaktion mit pazifistischer Tendenz beteiligt.

Wie weit reichte der Spielraum der Militärrichter?

Sehr weit, ihnen wurde die »elastische Interpretation« der Gesetze empfohlen. Die Militärrichter im Ersten Weltkrieg hatten -- zumindest nach Ansicht Hitlers und anderer führender Nationalsozialisten -- zu selten die Todesstrafe verhängt. Deshalb machte sich im Verlauf des Zweiten Weltkrieges die Mentalität breit, einem solchen Vorwurf nicht erneut Vorschub zu leisten. Deshalb griff man immer radikaler durch, wie die hohe Zahl von mehr als 30 000 Todesurteilen zeigt.

Wie erging es den Wehrmachtsjuristen nach 1945?

Sie lebten in der Kontinuität. Die Juristen vor und nach 1945 waren als Personen die gleichen, sie deckten sich gegenseitig. Wir müssen die klägliche Bilanz ziehen, daß kein einziger Militärjurist aus der Nazizeit vor Gericht gestanden hat und verurteilt wurde. Was das für die deutsche Geschichte bedeutet, hat eine neue Juristengeneration durchaus begriffen. Der Bundesgerichtshof hat 1995 festgestellt, daß diese Militärjuristen wegen Rechtsbeugung hätten bestraft werden müssen.

Und was ist mit den betroffenen Familien?

Hier möchte ich die Kriegsdienstverweigerer, Deserteure und Wehrkraftzersetzer einbeziehen. Sie alle hatten im Nachkriegsdeutschland das gleiche miserable Ansehen wie vorher in der Nazizeit. Die wegen Kriegsverrats Verurteilten leben nicht mehr. Sie wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Aber noch leben ihre Angehörigen oder ihre Nachkommen. Für sie ist es wichtig, daß man aus offiziellem Munde sagt: Eure Vorfahren sind keine Verbrecher! Sie waren aus heutiger Sicht anständige Leute, die sich dem NS-Staat verweigert haben.

Der Bundestag verhandelt darüber mehr als 64 Jahre nach Kriegsende. Ein wenig spät, oder?

Das kommt auf den Gesichtspunkt an. Es bedurfte eines langen und schweren Meinungsbildungsprozesses, an dem sich viele Menschen beteiligt haben, nicht zuletzt die evangelische Kirche. Es ist jetzt nicht zu spät, zu bedauern, daß der Meinungsbildungsprozeß nicht schneller voranging. Ich hoffe, daß sich eine Mehrheit im Bundestag findet.

Interview: Jürgen Tremper

Info: Wolfram Wette, Detlef Vogel(Hrsg.): »Das letzte Tabu«, Aufbau-Verlag Berlin 2008, 507 S., 24,95 Euro

* Aus: junge Welt, 8. September 2009


Sie wollten nicht töten

Ausstellung erinnert an Kriegsdienstverweigerer

Von Uta Herrmann **


Sie verweigerten den Kriegsdienst, entzogen sich dem Waffendienst, desertierten, liefen über, leisteten dem nationalsozialistischen System Widerstand, klärten auf oder informierten über den verbrecherischen Vernichtungskrieg Hitlerdeutschlands. Gegen sie verhängte die NS-Militärjustiz zwischen 1939 und 1945 über 30 000 Todesurteile, mehr als 20 000 wurden vollstreckt, dazu Zehntausende von Freiheitsstrafen. Die Mediengalerie in der Dudenstraße erinnert mit ihrer aktuellen Ausstellung an die Frauen und Männer, die nicht mitmachen wollten, als der Zweite Weltkrieg vor 70 Jahren begann. »Als Gewerkschafter fühlen wir uns ihnen verbunden und empfinden die notwendige und tiefe Verpflichtung, die Opfer der NS-Militärjustiz zu ehren«, meint Constanze Lindenberg von der Mediengalerie.

Die Autorengruppe mit Hans Canjé, Lothar Eberhardt und Gerhard Fischer sowie dem Gestalter Siegfried Lachmann sehen die Schau »Sie verweigerten sich« als gewerkschaftlichen Beitrag, geschichtliche Zusammenhänge zu verdeutlichen und Einzelschicksale zu dokumentieren. Dabei spannen sie den Bogen von NS-Gesetzen bis zur Entschädigung der Opfer in der Gegenwart und der Problematik von Einsätzen deutscher Soldaten im Ausland. Denn auch das wollen die Autoren mit ihrer Ausstellung erreichen -- ein Nachdenken über heutige Friedensarbeit anzuregen.

Der 87-jährige Ludwig Baumann ist nicht nur eines jener Einzelschicksale, über die die Ausstellung informiert. Ebenso ist sein langer Kampf um die Rehabilitierung der Kriegsdienstverweigerer, »Wehrkraftzersetzer« und »Kriegsverräter« dokumentiert. Der Bremer, der in sehr vielen Veranstaltungen auch vor Schülern und Jugendlichen über seine Geschichte spricht, tat dies auch zur Eröffnung der Ausstellung in der vergangenen Woche im Haus der Buchdrucker in Kreuzberg. Als 19-Jähriger wurde er 1940 in die Wehrmacht eingezogen. Als er mit seinem Freund Kurt Oldenburg Dienst im französischen Hafen von Bordeaux versah, überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Sie sahen Soldaten verhungern, erfrieren. »Wir wollten einfach leben und nicht töten.« Von Franzosen unterstützt, flüchteten er und sein Freund am 3. Juni 1942 aus Hitlers Armee. »Dummerweise fielen wir deutschen Grenzposten in die Hände.« Sie wurden verhaftet, gefoltert, weil sie die Namen ihrer Helfer nicht verrieten. Am 30. Juni 42 wurde Baumann wegen »Fahnenflucht im Felde« zum Tode verurteilt, verbrachte zehn Monate in der Todeszelle. »Das Grauen verfolgt mich heute noch«. Die Todesstrafe wurde aufgehoben, er kam ins KZ Esterwegen, ins Zuchthaus Torgau, ins Strafbataillon, das sehr wenige überlebten.

Auf Anerkennung hoffte er Jahrzehnte vergeblich. Im Gegenteil, er wurde als Feigling beschimpft, bekam als Vorbestrafter keine Arbeit. »Irgendwann ist man dann kaputt.« Schließlich engagierte er sich in der Friedensbewegung. 1990 gründete er mit noch 37 lebenden Wehrmachtsdeserteuren die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e.V., um die Aufhebung der Unrechtsurteile zu erreichen, was für »Desertation« erst im Jahr 2002 gelang und für die »Kriegsverräter«, die letzte Gruppe deutscher Kriegsdienstverweigerer, erst dieser Tage.

Die Dokumentation ist bis zum 9. Oktober zu sehen und wird von Diskussionsrunden, u.a. am 9.9., 18 Uhr, zur Entschädigung der Opfer mit Jan Korte, und Filmveranstaltungen begleitet.

Mediengalerie, Dudenstraße 10, Kreuzberg, montags und freitags. 14-16, dienstags, 17-19, donnerstags 14-19 Uhr, Tel.: 88 66 54 02, Programm im Internet unter: www.mediengalerie.org


** Aus: Neues Deutschland, 8. September 2009


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