Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Entgrenzung von Gewalt

Der "europäische Bürgerkrieg" von 1914 bis 1945 – von Enzo Traverso

Von Reiner Tosstorff *

Der Begriff »europäischer Bürgerkrieg« für den Zeitraum vom Beginn des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges ist mit seiner Verwendung durch Ernst Nolte im bundesdeutschen Historikerstreit Ende der 80er Jahre etwas in Verruf gekommen. Mit apologetischem Beiklang wollte er damit die »asiatische Herausforderung« des bürgerlichen Europas in Gestalt der bolschewistischen Oktoberrevolution ausdrücken. Dagegen habe es halt in einer Art Überreaktion mit dem Faschismus geantwortet.

Der an der französischen Universität Amiens lehrende italienische Politikwissenschaftler Enzo Traverso ist durch zahlreiche Arbeiten über das jüdische Geistesleben in Deutschland, über die Bedeutung des nationalsozialistischen Genozids und die Erinnerungs- und Geschichtspolitik ausgewiesen. Daran schließt sich jetzt dieser anspruchsvolle Versuch einer Interpretation dieses so entscheidenden Zeitraums im 20. Jahrhundert an. Nichts liegt ihm dabei ferner, als irgendeine Art von Rechtfertigung zu betreiben. Nicht nur verweist er auf bereits früher formulierte Vorstellungen eines modernen »Dreißigjährigen Kriegs« in Europa. Zudem setzt er im Gegensatz zu Nolte dessen Beginn mit dem Ersten Weltkrieg an, also mit dem, was man auch oft den eigentlichen Zivilisationsbruch der Moderne nennt. Dagegen stellte die russische Revolution einen Versuch des Ausbruchs dar. Sie zielte auf das bürgerliche Europa, deswegen, weil es diesen Bürgerkrieg bereits in Gang gesetzt hatte.

Traverso will nicht die zentralen Ereignisse dieser Jahrzehnte darstellen. Es geht ihm um eine Herausarbeitung der sich immer mehr bis zum »Ausbluten« beim Ende des Zweiten Weltkriegs steigernden Gewaltspirale, ihrer bestimmenden Elemente, ihrer Rechtfertigungen und Erklärungen. Kultur, Politik und Gewalt sind dabei aufs Engste verschränkt. Der Autor zeigt auf, wie die Entgrenzung von Gewalt in den verschiedensten Bereichen gerechtfertigt und dabei ständig gesteigert wurde.

Beispiele dafür sind etwa seine Betrachtungen, wie die Aufhebung allen Schutzes für Zivilisten systematisch entschuldigt wurde, wie die absolute Vernichtung des Feindes in das Zentrum der Kriegspropaganda rückte, über den nach dem militärischen Sieg ein Gericht zu halten war. Eine weitere Ebene der Analyse ist die Entwicklung der Vorstellungen von Gewalt, der sich dahinter versteckenden psychischen Bedingungen und die Konstruktion ihrer politischen und oft auch juristischen Rechtfertigungen. Das Jahr 1933 ist dabei ein entscheidender Drehpunkt, der zur Antwort des Antifaschismus führte, einer Wendung gegen die Gewalt, wie sie vom Nazi-Regime ausging und die angesichts des Versagens der alten liberalen Eliten nur von der Linken geführt werden konnte. Seinen großen Höhepunkt stellte der spanische Bürgerkrieg dar. Der prinzipielle Charakter des Antifaschismus änderte sich auch nicht durch die Entfaltung des Stalinismus, einer Herrschaft der Gewalt eigener Art.

Dies alles wird von Traverso mit einem umfassenden historischen Blick nachgezeichnet, der mehr die großen Konturen im Auge hat als eine Filigranarbeit sein will. Dabei schaut er vor allem auf die Denker der unterschiedlichsten Ausrichtungen mit einer Vorliebe für Walter Benjamin und Leo Trotzki auf der einen und Carl Schmitt und Ernst Jünger auf der anderen Seite. Nicht so sehr, weil er einer Art Totalitarismustheorie der »Gleichheit der Extreme« nachfolgt. Dabei hat er, ganz der französischen und italienischen Diskussion verpflichtet, der die spezifischen deutschen Wendungen abgehen, gegenüber dem Begriff »totalitär« durchaus keine Berührungsangst.

Traversos Buch setzt freilich schon eine gewisse Kenntnis der historischen Abläufe voraus. Es liefert dafür einen deutlichen Erkenntnisgewinn für die ideologischen Zusammenhänge, die sie bewegten, und für die Art und Weise, in der ihre Protagonisten argumentierten. Allerdings erheben sich auch Fragen: Wenn der Fokus auf eine Kulturgeschichte der Gewalt gerichtet ist, was sind dann die sozioökonomischen Bedingungen dieser Gewaltexplosion? Wenn Ausübung von Gewalt letztlich gesellschaftlich verursacht ist, welche Interessen werden wie verfolgt? Im »europäischen Bürgerkrieg« waren auch mehrere Konflikte miteinander vermischt, die hier nicht analytisch scharf getrennt sind. Im Jahre 1914 begann der imperialistische Kampf um die Vorherrschaft zwischen verschiedenen Staaten, die dann allerdings auch durch Klassenkämpfe im Inneren zerrissen wurden.

Welche Gemengelagen dabei auftauchten, deutet z. B. der Protagonist in Evelyn Waughs »Wiedersehen in Brideshead« an, der an der Niederschlagung des britischen Generalstreiks von 1926 mitwirkt, um damit »wiedergutzumachen«, dass er für die Schützengräben des »Großen Kriegs« noch zu jung gewesen war. Und wie eindeutig ist der Abschluss dieser Periode im Jahre 1945? Hier wird nur von Europa gesprochen, doch der weltweite Kontext fehlt. Während die Konfrontation in Europa zum Kalten Krieg gefror, fand dieser seine Stellvertreterkämpfe in der Dritten Welt, wie überhaupt der koloniale Kontext auch für die Zeit davor nur angedeutet ist. Und letztlich wird sich der Leser fragen, ob die gesellschaftlichen Bedingungen in Europa für eine solche Gewalteskalation unwiderruflich vorbei sind oder nicht.

Enzo Traverso: Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914-1945. Siedler Verlag, München. 400 S., geb., 24,95 €.

* Aus: Neues Deutschland, 9. Juli 2009


Zurück zur Seite "Kriegsgeschichte"

Zurück zur Homepage