Die Entgrenzung von Gewalt
Der "europäische Bürgerkrieg" von 1914 bis 1945 – von Enzo Traverso
Von Reiner Tosstorff *
Der Begriff »europäischer Bürgerkrieg« für den Zeitraum vom Beginn des
Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges ist mit seiner Verwendung
durch Ernst Nolte im bundesdeutschen Historikerstreit Ende der 80er
Jahre etwas in Verruf gekommen. Mit apologetischem Beiklang wollte er
damit die »asiatische Herausforderung« des bürgerlichen Europas in
Gestalt der bolschewistischen Oktoberrevolution ausdrücken. Dagegen habe
es halt in einer Art Überreaktion mit dem Faschismus geantwortet.
Der an der französischen Universität Amiens lehrende italienische
Politikwissenschaftler Enzo Traverso ist durch zahlreiche Arbeiten über
das jüdische Geistesleben in Deutschland, über die Bedeutung des
nationalsozialistischen Genozids und die Erinnerungs- und
Geschichtspolitik ausgewiesen. Daran schließt sich jetzt dieser
anspruchsvolle Versuch einer Interpretation dieses so entscheidenden
Zeitraums im 20. Jahrhundert an. Nichts liegt ihm dabei ferner, als
irgendeine Art von Rechtfertigung zu betreiben. Nicht nur verweist er
auf bereits früher formulierte Vorstellungen eines modernen
»Dreißigjährigen Kriegs« in Europa. Zudem setzt er im Gegensatz zu Nolte
dessen Beginn mit dem Ersten Weltkrieg an, also mit dem, was man auch
oft den eigentlichen Zivilisationsbruch der Moderne nennt. Dagegen
stellte die russische Revolution einen Versuch des Ausbruchs dar. Sie
zielte auf das bürgerliche Europa, deswegen, weil es diesen Bürgerkrieg
bereits in Gang gesetzt hatte.
Traverso will nicht die zentralen Ereignisse dieser Jahrzehnte
darstellen. Es geht ihm um eine Herausarbeitung der sich immer mehr bis
zum »Ausbluten« beim Ende des Zweiten Weltkriegs steigernden
Gewaltspirale, ihrer bestimmenden Elemente, ihrer Rechtfertigungen und
Erklärungen. Kultur, Politik und Gewalt sind dabei aufs Engste
verschränkt. Der Autor zeigt auf, wie die Entgrenzung von Gewalt in den
verschiedensten Bereichen gerechtfertigt und dabei ständig gesteigert wurde.
Beispiele dafür sind etwa seine Betrachtungen, wie die Aufhebung allen
Schutzes für Zivilisten systematisch entschuldigt wurde, wie die
absolute Vernichtung des Feindes in das Zentrum der Kriegspropaganda
rückte, über den nach dem militärischen Sieg ein Gericht zu halten war.
Eine weitere Ebene der Analyse ist die Entwicklung der Vorstellungen von
Gewalt, der sich dahinter versteckenden psychischen Bedingungen und die
Konstruktion ihrer politischen und oft auch juristischen
Rechtfertigungen. Das Jahr 1933 ist dabei ein entscheidender Drehpunkt,
der zur Antwort des Antifaschismus führte, einer Wendung gegen die
Gewalt, wie sie vom Nazi-Regime ausging und die angesichts des Versagens
der alten liberalen Eliten nur von der Linken geführt werden konnte.
Seinen großen Höhepunkt stellte der spanische Bürgerkrieg dar. Der
prinzipielle Charakter des Antifaschismus änderte sich auch nicht durch
die Entfaltung des Stalinismus, einer Herrschaft der Gewalt eigener Art.
Dies alles wird von Traverso mit einem umfassenden historischen Blick
nachgezeichnet, der mehr die großen Konturen im Auge hat als eine
Filigranarbeit sein will. Dabei schaut er vor allem auf die Denker der
unterschiedlichsten Ausrichtungen mit einer Vorliebe für Walter Benjamin
und Leo Trotzki auf der einen und Carl Schmitt und Ernst Jünger auf der
anderen Seite. Nicht so sehr, weil er einer Art Totalitarismustheorie
der »Gleichheit der Extreme« nachfolgt. Dabei hat er, ganz der
französischen und italienischen Diskussion verpflichtet, der die
spezifischen deutschen Wendungen abgehen, gegenüber dem Begriff
»totalitär« durchaus keine Berührungsangst.
Traversos Buch setzt freilich schon eine gewisse Kenntnis der
historischen Abläufe voraus. Es liefert dafür einen deutlichen
Erkenntnisgewinn für die ideologischen Zusammenhänge, die sie bewegten,
und für die Art und Weise, in der ihre Protagonisten argumentierten.
Allerdings erheben sich auch Fragen: Wenn der Fokus auf eine
Kulturgeschichte der Gewalt gerichtet ist, was sind dann die
sozioökonomischen Bedingungen dieser Gewaltexplosion? Wenn Ausübung von
Gewalt letztlich gesellschaftlich verursacht ist, welche Interessen
werden wie verfolgt? Im »europäischen Bürgerkrieg« waren auch mehrere
Konflikte miteinander vermischt, die hier nicht analytisch scharf
getrennt sind. Im Jahre 1914 begann der imperialistische Kampf um die
Vorherrschaft zwischen verschiedenen Staaten, die dann allerdings auch
durch Klassenkämpfe im Inneren zerrissen wurden.
Welche Gemengelagen dabei auftauchten, deutet z. B. der Protagonist in
Evelyn Waughs »Wiedersehen in Brideshead« an, der an der Niederschlagung
des britischen Generalstreiks von 1926 mitwirkt, um damit
»wiedergutzumachen«, dass er für die Schützengräben des »Großen Kriegs«
noch zu jung gewesen war. Und wie eindeutig ist der Abschluss dieser
Periode im Jahre 1945? Hier wird nur von Europa gesprochen, doch der
weltweite Kontext fehlt. Während die Konfrontation in Europa zum Kalten
Krieg gefror, fand dieser seine Stellvertreterkämpfe in der Dritten
Welt, wie überhaupt der koloniale Kontext auch für die Zeit davor nur
angedeutet ist. Und letztlich wird sich der Leser fragen, ob die
gesellschaftlichen Bedingungen in Europa für eine solche
Gewalteskalation unwiderruflich vorbei sind oder nicht.
Enzo Traverso: Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg
1914-1945. Siedler Verlag, München. 400 S., geb., 24,95 €.
* Aus: Neues Deutschland, 9. Juli 2009
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