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"Wenn der Russe erledigt ist ...""

Der Krieg gen Osten und die Deutschen

Von Helmut Bock *

»Der Überfall Deutschlands wird am 20. bis 22. Juni erfolgen.« Das war die Nachricht des verschlüsselten Textes, den Richard Sorge, Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Tokio und Kundschafter der Sowjetunion, am 15. Mai 1941 nach Moskau funkte. Am 10. Juni desertierte der Soldat Rudolf Richter, Sohn eines deutschen Sozialdemokraten, bei Wlodawa am Bug zur Sowjetarmee: Auch er meldete geheime Vorbereitungen der deutschen Wehrmacht. Der Arbeiter Albert Liskow, Gefreiter der 74. Infanteriedivision, durchquerte den Bug am 21. Juni, um zu warnen. Noch am 22. Juni, in der Stunde vor Invasionsbeginn, nach dem Verlesen des Befehls zum Angriff, schwamm Unteroffizier Wilhelm Schulz, Mitglied der KPD, durch den San: Von Kugeln getroffen und von einem Rotarmisten an Land gezogen, alarmierte er sterbend die Russen. – Vier Deutsche des antifaschistischen Widerstands.

Doch die Mehrheit der deutschen Soldaten reihte sich gehorsam ein, teils sogar fanatisch. Unter dem Datum des 22. Juni 1941 findet sich im Tagebuch eines Unteroffiziers der Artillerie die Notiz: »Endlich ist die Stunde da, auf die wir gewartet haben. Endlos liegt der Ostraum vor uns. Der Himmel strahlt in der ersten Morgenröte. Über uns braust unsere Fliegersturmstaffel gen Osten! Die ersten Schüsse sind aus dem Rohr. Geschütz marsch!« Das ist Kriegsromantik nach der Manier nationalistischer Literaten. Schwärend im Hirn eines kriegswilligen Deutschen, der seine »Schicksalsstunde« mit pseudo-poetischen Versatzstücken ausschmückte.

Soldat Helmut N., der in einer Flakbatterie des Ruhrgebiets seinen Dienst tat, hatte bei dem Gerücht eines bevorstehenden Kriegs gegen die Sowjetunion noch Bedenken getragen. Auf die reichsdeutsche Sondermeldung vom 22. Juni 1941 aber reagierte er in seinem Feldpostbrief, der sich wie eine zeitgenössische Propagandaschrift lesen lässt: »Die Stimmung bei uns ist prächtig ... Es erweist sich nun, dass unsere braven Deutschen sehr geneigt sind ..., die alte, naturgemäß feindliche Einstellung gegen die Sowjetunion wieder zu beziehen ... Der Führer hat wieder einmal alle ... Qual der Entscheidung, Gefahr und Größe des Einsatzes allein für uns alle getragen ... Mein Gesuch, zu einer Truppe der Ostfront versetzt zu werden, ist schon in der untersten Instanz.« Noch nach einer Feldzugswoche stand der Schreiber ganz unter dem Eindruck nationalistischer Selbstgewissheit, wie sie in den deutschen Medien inszeniert wurde. Am 30. Juni lautet der Brieftext: »Wir wollen es stillen und heißen Herzens hinnehmen, als eine Bestätigung unseres Glaubens daran, dass unser Volk zur Rettung und Führung Europas berufen ist ... Nun ist es Wahrheit, nun ist alles andere mit großer Zuversicht zu erwarten ... Ich gebe für Petersburg und Moskau nicht mehr viel.«

In Briefen, die von der Ostfront kamen, waren die Sätze oft nur kurz und kernig formuliert. So schrieb Schütze Emil Sesshaft (Feldpost-Nr. 07 138 C) am 14. August, nach sieben Feldzugswochen, an seine Freundin Erna Müller in Berlin: »Wir glauben hier, noch in diesem Jahr eine Parade in Moskau abzuhalten ... Wenn der Russe erledigt ist, dann haben wir ja bloß noch den Tommi. Die Nuss wird im Vorübergehen geknackt.« Kriegsberichterstatter Heinz Megerlein, der die Entfernung von Moskau zweckoptimistisch verkürzte, schmetterte im Herbst 1941 über den Frontsender: »Wir stehen auf einem Hügel vor den Toren Moskaus. Schon sind die Türme des Kreml mit dem Fernglas zu erkennen. Ein paar kraftvolle Stöße noch, und die letzten Hindernisse sind beseitigt. Die Mauern des Kreml und der Rote Platz werden den Rahmen abgeben für die gewaltigste Siegesschau aller Zeiten.«

Auch eine Mutter schrieb am 10. Oktober frisch-fröhlich an ihren Sohn, den Gefreiten Kurt Fries (Feldpost-Nr. 09 599 B): »Wir nehmen an, dass es mit dem Iwan aus ist, wenn Dich dieser Brief erreicht. Denn gestern wurde im Reichssender durchgegeben, dass der Endkampf an der ganzen Moskauer Front nun eingesetzt hat. Wir freuen uns ganz unbändig, dass Du aus dem Russland nach Hause kommst.«

Die Schlacht vor Moskau ließ diesen Jubel jäh verstummen. Die russische Gegenoffensive, die am 5. Dezember 1941 begann, warf den Aggressor um 100 bis 200 Kilometer zurück. Die letzte Eintragung im Tagebuch des Regimentsadjutanten vom 185. Infanterieregiment ist wie ein Aufschrei des Entsetzens: »Alles haben wir im Stich lassen müssen, unsere Fahrzeuge, unsere Maschinengewehre, unsere Sturmgeschütze, alles, sogar die Verwundeten; nur was wir auf dem Leib tragen, ist noch bei uns. Um uns heult der Schneesturm! Mein Gott, womit haben wir das verdient!« Hier scheiterten die Blitzkrieger, die unaufhaltsame Siegesläufe eingeübt und vor Moskau durch die Operationsbezeichnung »Taifun« auch semantisch angestachelt waren. Erstmals und sogleich fassungslos zweifelten sie jetzt sogar an der Gunst himmlischer Kräfte – obwohl sie »Gott mit uns!« als Wahlspruch auf ihren Koppelschlössern trugen.

Fast 130 Jahre zuvor hatten eine »Grande Armée« und ein »Großer Mann« schon einmal am 22. Juni den Feldzug nach Moskau begonnen und durch fluchtartigen Rückzug beenden müssen. Napoleon ward besiegt durch die Völker Russlands, bezeichnete aber im 29. Bulletin (3. Dezember 1812) allein den feindlichen »General Winter« als den Verhinderer seiner Eroberungspläne.

Die Volks- und Heerführer der Deutschen, die sich an dem französischen Imperator messen und ihn durch Sieg übertrumpfen wollten, hätten die historische Wahrheit und die darin liegende Warnung in den Geschichtsbüchern nachlesen können. Wie Napoleon nannten auch sie »Schneesturm« und »eisige Kälte« – den russischen Winter also – die Ursache des Misserfolgs. Als ob die Verteidiger auf der anderen Frontseite schönes Wetter gehabt hätten.

* Der Geschichtsprofessor Helmut Bock, Jg. 1928, Mitglied der Leibniz-Sozietät und der Historischen Kommission beim Parteivorstand der LINKEN, beschäftigt sich insbesondere mit dem Thema Krieg und Frieden. Vor Kurzem erschien von ihm in der Schriftenreihe des Vereins Helle Panke »Globalisierung und Militarisierung. Von Kriegsschuld und Friedensdenken seit 500 Jahren«.

Aus: Neues Deutschland, 18. Juni 2011 (Beilage)



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