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Warten auf Gerechtigkeit

Der Freiburger Historiker Wolfram Wette über den Widerstand einfacher Soldaten gegen den NS-Krieg und die Forderung nach ihrer Rehabilitierung *

1934 änderten die Nazis im Militärstrafgesetzbuch den "Kriegsverrats-Paragraphen", dem später Tausende Soldaten zum Opfer fallen sollten. Anders als bei Deserteuren, die nach langem Ringen in der Bundesrepublik inzwischen rehabilitiert sind, gelten die NS-Unrechtsurteile gegen "Kriegsverräter" bis heute. Seit Jahren will das die Vereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e. V. ändern. Ende 2006 brachte die Fraktion der Linken im Bundestag einen Gesetzentwurf ein, der eine Aufhebung aller dazu gefällten Urteile vorsieht. Dagegen wendet sich die Regierungskoalition mit dem Argument, Kriegsverräter hätten deutsche Soldaten gefährdet - sie seien nicht mit anderen Widerständlern in der Wehrmacht vergleichbar. Dem widerspricht der Historiker Wolfram Wette. Die Wochenzeitung "Freitag" veröffentlichte unter der Rubrik "Dokument der Woche" leicht gekürzt seine Stellungnahme für den Bundestags- Rechtsausschuss, der sich mit dem Thema befasste.

Wolfram Wette

Im Jahr 1934, also schon zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, erhielt der einschlägige Paragraph 57 des Militärstrafgesetzes von 1872 eine entscheidende Änderung. Sie sah für Kriegsverrat generell die Todesstrafe vor. Gleichzeitig fielen alle konkreten Tatbestandsbeschreibungen, die vordem im Gesetz aufgelistet waren, zugunsten allgemeiner Formulierungen weg. Wegen Kriegsverrats wird bestraft, so hieß es jetzt, wer es unternimmt, "der feindlichen Macht Vorschub zu leisten und der Kriegsmacht des Reiches oder seiner Bundesgenossen einen Nachteil zuzufügen" (Paragraph 91 b des Strafgesetzes, auf welches der geänderte Paragraph 57 des Militärstrafgesetzes Bezug nahm). Das aber war eine Definition, die sich nahezu beliebig ausdehnen ließ. Bei dem während des Zweiten Weltkrieges von der deutschen Militärjustiz angewendeten Kriegsverrats-Paragraphen handelte es sich also um NS-Recht.

Die Kommentare des wohl einflussreichsten zeitgenössischen Interpreten des Militärstrafgesetzbuches, Erich Schwinge, lassen eine fortschreitende Entgrenzung der Tatbestandsbeschreibung erkennen. Aus seiner Sicht erfüllte bereits eine pazifistische Gesinnung den Tatbestand des Kriegsverrats, und seit dem Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges im Juni 1941 reichte die kommunistische Gesinnung eines Wehrmachtsoldaten aus, um den Straftatbestand des Kriegsverrats zu erfüllen. Ein Kontakt zu russischen Kriegsgefangenen konnte ähnlich gewertet werden. Hier wird deutlich, was Hitler und die in seinem Dienst stehenden Militärjuristen mit dem pauschal formulierten Kriegsverrats-Paragraphen beabsichtigten: Sie wollten den Kriegsrichtern zusätzlich zu den übrigen, präziser formulierten Straftatbeständen des Militärstrafgesetzbuches einen allgemeinen justiziellen Schlagstock an die Hand geben, um Wehrmachtangehörige, die in irgendeiner Weise den Interessen der kämpfenden Volksgemeinschaft zuwider handelten, vernichten zu können. Die wegen Kriegsverrats ergangenen Todesurteile sprechen genau diese Sprache.

Die Zuständigkeit für den Straftatbestand Kriegsverrat (für die Fälle nach den Paragraphen 57, 59, 60 Militärstrafgesetzbuch) lag seit Kriegsbeginn grundsätzlich beim Reichskriegsgericht. Für Angehörige des im Operationsgebiet befindlichen Feldheeres konnten auch die Feldkriegsgerichte tätig werden. Im Herbst 1944 wurde die Zuständigkeit auf den Volksgerichtshof und die neu eingerichteten Standgerichte ausgedehnt. In der Quellensammlung Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und Kriegsverrat werden die wegen Kriegsverrats verhängten Todesurteile des Reichskriegsgerichts, des Volksgerichtshofs und einzelne Feldkriegsgerichtsurteile dokumentiert. Die Urteile der Feldkriegsgerichte insgesamt, die seit 2005 im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg verwahrt werden, sind noch nicht erschlossen. Es handelt sich um einen Bestand von 180.000 Akten, die ein Volumen von 926 laufenden Metern haben. Eine systematische statistische und inhaltliche Auswertung steht noch aus.

Es galten Doppelstandards für Angehörige der Elite und den "kleinen Mann" in Uniform

Es gab Soldaten, die den Kriegsgegnern Deutschlands Informationen über Angriffspläne zuspielten und sich damit gegen das NS-System stellten. Wehrmachtsoldaten in österreichischen Widerstandsgruppen organisierten bewaffneten Widerstand gegen das NS-Regime. Mit ihren Handlungen begingen sie Hochverrat, der dadurch zum Kriegsverrat wurde, dass diese Soldaten beabsichtigten, mit den einmarschierenden Truppen der späteren Siegermächte zusammen zu arbeiten. Die Überläufer zu den Partisanen hatten vermutlich ebenfalls meist politische Motive. Neben den Widerstandskämpfern bringt ein Teil der Kriegsgerichtsurteile unbotmäßige einfache Soldaten in unser Blickfeld, die den Krieg ablehnten, die sich gegen Vorgesetztenwillkür auflehnten, die entgegen den Befehlen anständig mit Kriegsgefangenen umgingen oder verfolgten Juden halfen. Diesen Soldaten war meist nicht einmal bekannt, was der Begriff Kriegsverrat überhaupt bedeutete und welche Strafe das Militärstrafrecht für ihn androhte. Zu Kriegsverrätern wurden sie insoweit erst durch die NS-Militärjustiz gemacht. Die Sachverhalte, die zur Verurteilung wegen Kriegsverrats führen konnten, waren also sehr unterschiedlich. Gelegentlich unterstellte die Militärjustiz politische Motive, wo sie gar nicht erwiesen waren. Nicht wenige der verurteilten Soldaten, so scheint es, wurden eher zufällig vom Kriegsverrats-Paragraphen 57 des Militärstrafgesetzbuches erfasst. Die Militärrichter hätten ebenso gut den Straftatbestand der Wehrkraftzersetzung oder einen anderen Paragraphen gegen sie zur Anwendung bringen können.

Wie eine qualitative Analyse der dokumentierten Fälle ergeben hat, handelten keineswegs alle 68 Soldaten, die wegen Kriegsverrats verurteilt wurden, im Sinne eines bewussten politischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Aktiven Widerstand leisteten, so weit dies den Urteilen zu entnehmen ist, wahrscheinlich 27 der wegen Kriegsverrats Verurteilten. Weitere 19, also ein knappes Drittel dieser Opfer der NS-Militärjustiz, verfolgten offenbar das Ziel, auf irgendeine Weise etwas zur Beendigung des Krieges beizutragen, was ebenfalls als ein widerständiges Verhalten betrachtet werden kann. Bei dem verbleibenden Drittel ist ein widerständiges Potential nicht ohne weiteres zu erkennen, was allerdings auch der für die Kriegsgerichtsurteile typischen Verfolgerperspektive geschuldet sein kann.

Bereits vor Kriegsbeginn 1939 und während des Zweiten Weltkrieges hatten Angehörige des konservativen Widerstandes immer wieder Kontakte mit führenden Persönlichkeiten der Feindmächte, also landes- und kriegsverräterische Auslandskontakte. Sie verstanden sich als deutsche Patrioten.

Um einen exemplarischen Fall zu nennen: Josef Müller und Hans von Dohnanyi aus dem Amt Ausland/Abwehr des OKW fertigten im Frühjahr 1940 - nach diversen Sondierungskontakten mit der Regierung in London - einen so genannten "X-Bericht" über die britischen Bedingungen für eine Zusammenarbeit mit dem nationalkonservativen deutschen Widerstand an. Darin war die Rede von: Beseitigung Hitlers und Ribbentrops, Neubildung einer deutschen Regierung bei klarer Trennung von den bisherigen Machthabern des NS-Regimes, Fortbestand der deutschen Grenzen von 1937. Generalstabschef Franz Halder ließ diesen Bericht im April 1940 seinem Vorgesetzten, dem - in die genannten Auslandskontakte eingeweihten - Oberbefehlshaber des Heeres, General Walther von Brauchitsch, überbringen. Brauchitsch ließ Halder durch den General Georg Thomas Folgendes ausrichten: "Sie hätten mir das nicht vorlegen sollen. Das ist glatter Landesverrat, das mitzumachen, kommt für mich unter keinen Umständen in Frage. Im Krieg ist für den Soldaten keinerlei Verbindung mit einer ausländischen Macht zulässig." Darüber hinaus verlangte von Brauchitsch die Verhaftung der an der Aktion beteiligten Hitler-Gegner. Halder setzte sich über diesen Befehl jedoch hinweg. Die Angelegenheit wurde nicht weiter verfolgt. In diesem und vielen vergleichbaren Fällen blieb eine kriegsgerichtliche Verfolgung aus. Offenbar gab es Doppelstandards für Angehörige der Elite und den "kleinen Mann" in Uniform.

Wider die Legende von der Gefährdung anderer Soldaten

In den Beratungen des Deutschen Bundestages hat das Argument eine Rolle gespielt, es sei nicht auszuschließen, dass die von den so genannten Kriegsverrätern begangenen Handlungen "eine Lebensgefährdung für eine Vielzahl von Soldaten" mit sich gebracht hätten, was auch im Falle eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges nicht entschuldbar sei. In der Tat haben sowohl Angehörige des konservativen Widerstandes - Zivilisten und Militärs - als auch Personen aus der Berliner Widerstandsgruppe "Rote Kapelle" militärische Angriffsplanungen verraten. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass diese Informationen zu einer unmittelbaren Lebensgefährdung einer Vielzahl deutscher Soldaten geführt hätten. Die meisten "kleinen Leute" in Uniform hatten zu einem Geheimnisverrat dieser Art gar keine Gelegenheit.

Das Argument macht auf einer größeren Ebene Sinn: Eine Lebensgefährdung für einen Vielzahl deutscher Soldaten ging von Hitler und der willfährigen Wehrmachtelite aus, die Europa mit Angriffskriegen überzogen, in deren Folge mehr als 50 Millionen Menschen ihr Leben verloren.

Der einzige hochrangige Offizier der Wehrmacht, der wegen Kriegsverrats zum Tode verurteilt wurde, war General Walther von Seydlitz-Kurzbach. Er geriet nach der Schlacht von Stalingrad, im Januar 1943, in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Dort trat er dem Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) und dem Bund Deutscher Offiziere (BDO) bei und übernahm in beiden Organisationen Führungspositionen. Er rief die im Osten kämpfenden Wehrmachttruppen in Flugblättern dazu auf, sich auf die Reichsgrenzen zurückzuziehen, sich gegen das NS-Regime zu erheben und eine Beendigung des Krieges zu erzwingen. Als Reaktion auf diese Frontpropaganda wurden gegen fast 300 Mitglieder von NKFD und BDO Strafermittlungsverfahren wegen "Verrat und Treuebruch" in Abwesenheit eingeleitet. Das Reichskriegsgericht verurteilte Seydlitz am 16. April 1944 in Abwesenheit wegen Hoch- und Kriegsverrats zum Tode.

Viele "Verräter" halfen verfolgten Juden oder desertierten und liefen zu den Partisanen über

Das Todesurteil gegen den "Kriegsverräter" Seydlitz wurde bald nach dessen Heimkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft im Jahre 1955 durch das Landgericht Verden an der Aller aufgehoben. Die Strafkammer bescheinigte ihm, ein Widerstandskämpfer gegen das NS-System gewesen zu sein. So erfuhr der General vom demokratischen Deutschland Gerechtigkeit. Die Todesurteile gegen die "kleinen Leute" in Uniform dagegen sind nach wie vor gültig. Sie müssen auf diese Gerechtigkeit bis heute warten.

Die meisten der wegen Kriegsverrats verurteilten Wehrmachtsoldaten leisteten auf unterschiedliche Weise politischen Widerstand gegen das NS-Regime, andere halfen verfolgten Juden oder Kriegsgefangenen, wieder andere desertierten und liefen zu den Partisanen über. Selbst die einseitig von der Betrachtungsweise der NS-Militärrichter geprägten Quellen lassen erkennen, dass die meisten Fälle von "Kriegsverrat" politisch oder moralisch/ethisch motiviert waren. Sie waren Opfer einer willkürlich urteilenden und gnadenlosen NS-Militärjustiz. Wer Widerstand gegen das verbrecherische NS-Regime für legitim hält, sollte den wegen Kriegsverrats Verurteilen die Rehabilitierung nicht verweigern.

Literaturempfehlung:
Wolfram Wette und Detlef Vogel (Hrsg.): Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und Kriegsverrat. Mitarbeit von Ricarda Berthold und Helmut Kramer. Mit einem Vorwort von Manfred Messerschmidt. Berlin Aufbau-Verlag 2007, 564 Seiten, 24,95 Euro.

* Aus: Freitag 20, 16. Mai 2008


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