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"Krieg ist schon lange wieder ein selbstverständliches Mittel der Politik geworden"

Erinnern und mahnen: Predigt in einem Gedenkgottesdienst anlässlich der 65. Wiederkehr der Zerstörung Kassels

Am 22. Oktober wurde Kassel durch alliierte Bombenangriffe fast total zerstört. In der Bürgerschaft wird seit jeher dieses Ereignisses gedacht - doch erst die Friedensbewegung der 80er Jahre hat darauf aufmerksam gemacht, wer die wirkliche Schuld an der Zerstörung der Stadt trägt: Die Kasseler Tragödie begann mit der Machtergreifung der Nationalsozialiszten 1933 und mit dem Ausbau Kassels zu einer bedeutsamen Garnisonsstadt und einem wichtigen Rüstungszentrum.
Im Folgenden dokumentieren wir eine bemerkenswerte Predigt des katholischen Geistlichen, Dechant Harald Fischer, die er bei einem Gedenkgottesdienst zum 65. Jahrestag der Zerstörung Kassels in der Martinskirche Kassel gehalten hat. Die Predigt wurde - was ungewöhnlich ist - mehrmals von spontanen Beifallskundgebungen begleitet.



Gedenkgottesdienst 22. Oktober 2008
Martinskirche, Kassel


Röm 12, 1 – 3
Lk 6, 27 - 36

Liebe Gemeinde!
Liebe Schwestern und Brüder!

Es ist ein emotionaler Tag in Kassel, dieser 22. Oktober. Die Zerstörung dieser Stadt hat unvorstellbares Leid erzeugt. Über 10 000 Tote in einer Nacht. Das Leben mancher, die jetzt hier anwesend sind, wurde durch diese Nacht für immer geprägt. Eindrucksvolle Zeugnisse davon konnten wir in den letzten Tagen in der HNA lesen.

Auch für mich – obwohl ich erst 11 Jahre später geboren wurde, gibt es einen unmittelbaren Bezug zur Kasseler Bombennacht. Meine Mutter machte – damals noch als junges Mädchen – einen Ausflug aus der Heimat bei Heiligenstadt nach Kassel – gerade am 22. Oktober 1943. Sie hat überlebt – in einem Bunker in Rothenditmold. Aber die Schrecken waren eingeprägt. Man hat ihr erzählt, dass der Feuerschein des brennenden Kassels bis nach Heiligenstadt zu sehen war. Und ihre Familie bangte um ihr Leben.

Neben den vielen Toten und Verletzten ist in dieser Nacht die Struktur unserer Stadt für immer zerstört worden. Viele wunderbare Bauten und Straßen sind unwiederbringlich verloren. Die Narben der Zerstörung prägen die Stadt bis heute – und wohl noch auf sehr lange Zeit.

Das alles sind die Konsequenzen einer verbrecherischen Politik, die in unserem Land ihren Ausgangspunkt genommen hat. Wie immer in allen Kriegen: die unschuldige Zivilbevölkerung – allen voran die Frauen und Kinder – leidet am meisten.

Wir leben nicht mehr 1943. Wir leben im Jahr 2008. Und: Gott sei Dank: Wir haben unsere Lektion gelernt. „Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen!“ Unter diesem Grundsatz standen die Aufbaujahre in unserem Land. In dieser Meinung sind sich alle Demokraten einig.

Muß man mittlerweile sagen: Gewesen?

Leider müssen wir in den letzten Jahren feststellen, dass dieser Konsens sich mehr und mehr auflöst.

Mittlerweile hat Deutschland sich wieder am Krieg beteiligt. Mittlerweile steht Deutschland wieder an vielen Orten unserer Welt im militärischen Einsatz.

z.Zt. sind nach Angaben der Bundeswehr ca. 8000 Soldaten weltweit im Einsatz: In Kosovo, Bosnien – Herzegowina, Georgien, Afghanistan, Usbekistan, Libanon, am Horn von Afrika, in Äthiopien, Eritrea, Sudan und in Sudan – Darfur. Nach dem jüngsten Beschluß des Bundestages kommen bald weitere 1000 Soldaten dazu, die zusätzlich nach Afghanistan entsandt werden.

Bei meiner Kriegsdienstverweigerung im Jahre 1973, die ich noch vor einer Kommission begründen musste, wurde mir von dem Vertreter der Bundeswehr eindringlich vorgehalten, dass ich mich der Verteidigung Deutschlands entziehen wollte, denn im Grundgesetz sei ja eindeutig festgelegt, dass die Bundeswehr ausschließlich bei einem Angriff auf deutsches Territorium aktiv werden dürfte. Jede andere Aktivität sei deutschen Soldaten – vom Grundgesetz - strikt verboten.

Von dieser Interpretation des Auftrags unseres Militärs sind wir heute weit entfernt. Heute – so heißt es in den verteidigungspolitischen Richtlinien, läßt sich die deutsche Politik von vitalen Sicherheitsinteressen leiten, die u.a. darin bestehen:“ ... Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt...“ (26. Nov. 1992) zu gewährleisten. Es ist in Deutschland wieder denkbar, dafür Militär einzusetzen und sich notfalls um dieser Interessen willen am Krieg zu beteiligen.

Ich zweifle daran, dass es wirklich nur um unsere Freiheit geht, die mittlerweile am Hindukusch verteidigt wird, wie es immer wieder heißt.

In der HNA konnte man bei der Diskussion um die Verlängerung des Mandats, deutsche Soldaten in Afghanistan zu stationieren, vor einigen Tagen im Leitkommentar lesen, dass es bei diesem Militäreinsatz der Völker gegen die Taliban mittlerweile bedauerlicherweise zu Tausenden Zivilopfern gekommen sei. Aber dennoch gebe es keine Alternative zu einem Militäreinsatz.

Es gibt keine Alternative zu einem Militäreinsatz, der Tausende Zivilopfer kostet!?

Wirklich?

Wofür kämpfen denn deutsche Soldaten, wenn nicht, um gerade diese Menschen zu retten? Können wir dem schon so ohne Scham zustimmen, dass wir dort militärisch die Grundlagen legen, um unseren Wohlstand zu schützen – auch auf Kosten des Lebens der Menschen dort? Können wir nicht erwarten, dass unsere Regierung uns deutlich sagt – deutlicher, viel deutlicher als bisher, was sie in diesem Land eigentlich zu suchen hat? Was sie dort wirklich erreichen will? Wann dieser Einsatz erfolgreich ist? Wann und wie er beendet werden soll?

Nicht nur Rupert Neudeck sieht die Aufstockung des Bundeswehrkontingents für Afghanistan als völlig falschen Schritt an. „Wir brauchen viel mehr zivile Hilfe für Afghanistan und nicht immer mehr schwer bewaffnetes Militär.“ (HNA 21.10.2008).

Caritas International rechnet nach der Ermordung einer ausländischen christlichen Sozialarbeiterin an diesem Montag mit weiteren zivilen Terror – Opfern in Afghanistan. Die Sicherheitslage habe sich enorm verschlechtert und weitere 1000 Soldaten würden keine Verbesserung bringen. Dringend notwendig seien zivile Maßnahmen und Gespräche mit den verschiedenen Kriegsparteien. Eine weitere Aufstockung der militärischen Präsenz ist nur ein weiterer Schritt auf einem falschen Weg. Alle humanitären Organisationen vor Ort, von denen ich weiß, sagen ähnliches. Warum werden sie nicht ernst genommen?

Desmond Tutu, ehemaliger Erzbischof von Südafrika, Friedensnobelpreisträger, hat vor einigen Tagen bei einem Konfliktgespräch zwischen Türken und Griechen um die Zukunft Zyperns gesagt: „Es gibt keinen Konflikt auf der Welt, der nicht friedlich gelöst werden kann!“

So muß ein Christ reden. Diese Haltung ist unsere Botschaft in eine gespaltene und zerrissene Welt hinein. Aber sie ist nicht mehr selbstverständlich. Im Gegenteil.

Krieg ist schon lange wieder ein selbstverständliches Mittel der Politik geworden. Dafür zeugt nicht zuletzt der völkerrechtswidrige Krieg Amerikas gegen den Irak. Mit wieviel Lügen ist er begründet worden! Wer zieht eigentlich die Lügner, die mittlerweile öffentlich entlarvt worden sind, zur Rechenschaft?

Der Diktator und Massenmörder Sadam Hussein hätte sich sehr viel einfallen lassen müssen, um sein Land derart zu ruinieren und zu destabilisieren, wie wir es jetzt erleben müssen.

Politik dieser Art, die zerstört, was sie vorgibt, bewahren zu wollen – viele andere Beispiele könnten noch benannt werden – wird uns als „Friedenssicherung“ verkauft – immer wieder!

Wie lange wollen wir noch glauben, dass der Weg der Gewalt, der sog. Präventivkriege und der militärischen Abschreckung Frieden bringen soll? Solange es Menschen gibt, ist immer wieder sichtbar geworden, dass diese Wege Zerstörung und Unheil bringen.

Wie gut, wenn wir als Christen die Worte von Paulus hören: „Angesichts des Erbarmens Gottes ermahne ich euch...: Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist.“ Röm 12, 1 – 2).

Im Lukasevangelium haben wir gehört: „Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch mißhandeln!“ (Lk 6, 27 ff.).

Man sagt immer wieder, mit der Bergpredigt sei keine Politik zu machen. Sie würde eine individuelle Glaubenshaltung zum Ausdruck bringen, zu der sich jeder Einzelne durchringen muß. Das kann sein. Aber ohne die Grundwerte der Bergpredigt kann man auch keine Politik machen, jedenfalls keine gute. Und wir Christen stehen unter diesem Wort. Uns ist es zugesagt und wir müssen uns ihm gegenüber verhalten.

Was hätten wir Christen für eine Botschaft in diese geschundene und gequälte Welt hinein, wenn nicht die des Zeugnisses Jesu Christi, der sich in seiner Gewaltfreiheit der Logik der Gewalt, der Abschreckung und der Militärs verweigert hat!

Sollten wir in unserem Land, in unserer Welt nicht endlich in der Lage sein, Kreativität und Phantasie einzusetzen – nicht um immer bessere Waffen und Militärstrategien zu entwickeln, sondern um unsere Kräfte zu gebrauchen, die Fragen nach Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich zu lösen – die die eigentlichen Wurzeln der Konflikte sind?

Tatsächlich: Wir müssen den Arm aufhalten, der auch heute noch meint, mit Zerstörung, mit Waffengewalt, mit kriegerischen Mittel Frieden zu schaffen.

Ich bin mir dabei sehr wohl bewußt, dass die Politiker nur das umsetzen können, was die Bevölkerung mit trägt und will. Deshalb ist es natürlich nicht belanglos, welche Einstellung wir zu diesen Fragen haben. Aber ich weiß auch, dass alle Umfragen sagen, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung z.B. den Militäreinsatz in Afghanistan ablehnt. Hier wird eine Politik gegen das Volk betrieben.

Für mich liegt in der Reflexion dieser Fragen der eigentliche Sinn von Gedenktagen, auch gerade dieses Gedenktages der Zerstörung unserer Stadt: dass wir als Christen - und als solche sind wir hier - unseren Beitrag leisten, dass der Weg der Gewalt und der Zerstörung nicht gegangen werden kann.

Wir Christen haben den Auftrag, für diese Botschaft einzustehen, die uns als lebendiges Wort Gottes geschenkt ist.

Damit dienen wir Gott – und bewahren die Würde der Opfer, an die wir uns heute erinnern.

Amen

Harald Fischer


Wir danken Herrn Fischer für die freundliche Überlassung des Manuskripts. AG Friedensforschung


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