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Die Kühlungssorgen der Okkupanten

Ein außergewöhnlicher Fund: Was die deutsche "Zentral-Handelsgesellschaft Ost" in der Sowjetunion suchte

Von Kurt Pätzold *

Dem schmalen in hellbraunes Leinen gebundenen Band, der im dritten Kriegsjahr gedruckt wurde, ist nicht anzusehen, was er birgt. Er hat es indes in sich. Der Titel: »Die Fleischwaren- und Kälteindustrie in den besetzten Gebieten der UdSSR«. Das Buch ist weder in der Berliner Staatsbibliothek noch in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main/Leipzig katalogisiert, gleichwohl sie zum Stichwort Fleisch- und Kälteindustrie 73 bzw. 154 Einträge verzeichnet. Die von der »Zentral-Handelsgesellschaft Ost für landwirtschaftlichen Absatz und Bedarf – Monopolgesellschaft für die besetzten Gebiete der UdSSR« herausgegebene Publikation hat die Bibliothek schlicht nicht erreicht. Denn sie war »ausschließlich für den Dienstgebrauch« der Gesellschaft bestimmt, die ihren Sitz in Berlin hatte und deren Rolle bei der Ausplünderung der Ukraine schon im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess 1946 nachgewiesen wurde.

In ihrem Vorwort erläutern die Verfasser, zwei Mitarbeiter der Abteilung Vieh und Fleisch der »Zentral-Handelsgesellschaft Ost«, dass ihnen die »Betreuung der be- und verarbeitenden Betriebe« im eben eroberten Territorium übertragen worden sei, in denen »für die Wehrmacht geschlachtet und Fleisch für die Standorttruppen sowie für die Front bereitgestellt« werden solle. In anderen Worten: Es galt, die Millionen deutschen Okkupanten, die am 22. Juni 1941 in die Sowjetunion eingefallen waren, aus eben diesem Land zu ernähren. Dass sich dies allein mit dem vorgefundenen einheimischen Leitungspersonal bewerkstelligen lassen werde, war mindestens zweifelhaft.

Um dem Auftrag gerecht zu werden, mussten zunächst vor allem »über die Größe und Leistungsfähigkeit der vorhandenen Betriebe« Unterlagen gesammelt werden. Das taten die beiden Autoren des Buches schon im Oktober 1941, der Wehrmacht gleichsam auf den Fersen, und während einer zweiten Reise im darauf folgenden Jahr. Sie inspizierten die Schlachthöfe und weiterverarbeitenden Fabriken und zeigten dabei angesichts des bevorstehenden Sommers besonderes Interesse für die Kühlhäuser. Ihre Reisen führten sie von Estland bis auf die Krim. Sie erfassten mit »deutscher Gründlichkeit«, was sie in mehr als 70 Orten von Reval bis Stalino sahen. Zwei Tatsachen beschrieben sie erkennbar beeindruckt: In den letzten Friedensjahren der UdSSR waren in mehreren Städten und deren Umgebung hoch moderne Fleischkombinate mit ebensolchen Kühlanlagen errichtet worden; sie waren notwendig geworden, um die nach dem Tiefpunkt in den Jahren der Kollektivierung wieder ansteigende Viehproduktion zu verarbeiten. Und zweitens: Insbesondere jene Anlagen sind vor dem Rückzug der sowjetischen Verteidiger durch den Abtransport von Maschinen und anderem Gerät oder durch gezielte Zerstörungen unbrauchbar gemacht worden; die beiden Mitarbeiter der Abteilung Vieh und Fleisch vermuteten gar, das müsse schon vor Kriegsbeginn geplant worden sein. Ihrem Bericht fügten sie Fotografien auf 30 Seiten Glanzpapier bei.

Die Bestandausnahme erstreckte sich von Produktions- und Kühlräumen über Maschinen und Anlagenbestand, von der Wurstspritze bis zum Speckschneider. Die aufgeführten Betriebe wurden von Schlächterkompanien der Wehrmacht oder so genannten Einsatzfirmen übernommen, wie jene 17 Unternehmen aus Berlin. Hamburg, Weimar, Königsberg, Fürth, Halberstadt und vielen weiteren deutschen Städten bezeichnet wurden, die nun auch das leitende Personal für die Betriebe in den okkupierten Gebieten stellten. Die Funktionäre der »Zentral-Handelsgesellschaft Ost« wussten, welche Folgen der Krieg für die Viehbestände hatte. Bei einer »zu rigorosen Erfassung des Viehs zu Schlachtzwecken« werde das Land in den »nächsten Jahren einer katastrophalen Lage gegenüberstehen«. Das war nicht mit Blick auf die dort lebende Bevölkerung notiert. Die Autoren gingen davon aus, dass die deutsche Okkupation von Dauer sein würde. »Die großen Fleischkombinate, die meist sehr leistungsfähig sind und über gute Maschinen und Einrichtungsgegenstände verfügen, müssten später sich hauptsächlich der Ausfuhr von Fleisch ins Reich und eventuell ins Ausland widmen.« Einige Sorgen bereitete ihnen das Fehlen von Schlächtern, da diese Arbeit, wie die beiden zu wissen glaubten, zuvor großteils von Juden verrichtet worden sei.

Das Druckwerk macht auf eine Lücke in der heutigen wissenschaftlichen Erforschung der räuberischen deutschen Besatzungspolitik aufmerksam, die zumeist nur von der Wehrmacht, den Einsatzgruppen des Sicherheitsdienstes, der Polizei und des in den »Ostraum« abgeordneten Nazi-Personal aus Dienststellen des Staates und der Partei sowie anderer NS-Organisationen handelt. Allenfalls noch von den großen Rüstungskonzernen und deren Abgesandten. Doch es waren an der Ausplünderung der Sowjetunion weit mehr »Volksgenossen« beteiligt, überzeugt vom »Endsieg« wie die beiden Mitarbeiter der »Zentral-Handelsgesellschaft Ost«.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 22. Juni 2013


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