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Großraumwehrwirtschaft

Deutsche Kriegsziele, formuliert von industriellen Experten

Von Dietrich Eichholtz *

25 Jahre waren seit 1914 vergangen, als der deutsche Imperialismus erneut einen Krieg begann, von Anfang an Mächte herausfordernd, gegen die er schon im Ersten Weltkrieg verloren hatte. Seine Ziele waren, auf den ersten Blick, wieder sehr ähnlich. In seinen Plänen standen Begriffe, die seit damals den herrschenden Kreisen geläufig waren: Weltmachtstellung, Unterwerfung von Ländern, Auslöschung von Staaten in West und Ost, Verdrängung und Aussiedlung von großen Teilen ihrer Bevölkerung, Rassenkrieg (»Germanen gegen Slawen«), Orgien wirtschaftlicher Eigentumsnahme und Ausplünderung sowie Ausbeutung von Zwangsarbeitern.

Nach dem Ersten Weltkrieg hatten Mitteleuropa- und Paneuropa-Pläne Konjunktur – »von Petsamo bis Katanga«, forderte der österreichische Schriftsteller und Politiker Coudenhove-Kalergi, »von Bordeaux bis Odessa« der deutsche Industrielle Carl Duisberg.

Unter der Nazidiktatur öffneten sich nun alle Schleusen für Anti-Versailles-Chauvinismus, nationalistischen Größenwahn, Weltmachtgeschwätz, Rassenhetze und pangermanischen Schwulst. Deutschland rüstete wie besessen. Ihre ersten Ziele – die Vereinnahmung Österreichs und die Zerschlagung der Tschechoslowakei – erreichte die Hitlerwehrmacht ohne Krieg, ohne Gegenwehr. Erst der Einmarsch in Prag verschärfte die internationale Situation aufs Äußerste. Verzweifelt über Hitlers Raubzug in Europa, notierte Thomas Mann im Exil: »Die kapitalistische Welt wird durch ihr Hätschelkind, den Faschismus, zum Kriege gezwungen werden.«

Zu dieser Zeit war bereits der mächtige Kriegsblock zwischen Nazispitze, Wehrmacht und Großwirtschaft zusammengewachsen. Zu diesem militärisch-industriellen Block gehörten jetzt auch höchste Militärs wie Franz Halder, Generalstabschef des Heeres, und Georg Thomas, Chef des Wehrwirtschaftsstabes des OKW, die noch heute von Historikern als Widerständler gehandelt werden. Halder, ein Ehrgeizling und miserabler Charakter, begrüßte Ende April 1939, in den Tagen der Kündigung des deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrages durch Hitler, intern vor Offizieren die »hervorragende, ich möchte sagen, instinktsichere Politik des Führers«, die nun die Bahn zum Krieg gegen Polen freigemacht habe. Polen sei jetzt zu »zermalmen«, müsse »nicht nur geschlagen, sondern liquidiert werden«. Er nannte als weitere kriegerische Pläne und Ziele: »Wir müssen in spätestens drei Wochen mit Polen fertig sein, ja möglichst schon in 14 Tagen. Dann wird es von den Russen abhängen, ob die Ostfront zum europäischen Schicksal wird oder nicht. In jedem Fall wird dann eine siegreiche Armee, erfüllt von dem Geist gewonnener Riesenschlachten, bereit stehen, um entweder dem Bolschewismus entgegenzutreten oder – nach dem Westen geworfen werden.«

Die Denkschrift aus dem Wehrwirtschaftsstab mit dem Titel »Die Mineralölversorgung Deutschlands im Kriege« von gleichem Datum (April 1939), bis vor kurzem in der Forschung genau so unbekannt wie die Rede Halders, hatte von vornherein die Planung des bevorstehenden Angriffskrieges im Blick, in dem »die Feindschaft der Weststaaten und Sowjetrußlands und feindlich eingestellte Neutralität Belgiens, Hollands, Dänemarks, Norwegens und Polens« vorausgesetzt war. Eine Seeblockade sei unvermeidlich. Rumänien sei als indifferent einzuschätzen. In Rumänien liege aber die Lösung des Ölproblems. Die »Forderungen an die Wehrmacht« lauteten entsprechend eindeutig: »1. Beherrschung der rumänischen Ölfelder und somit des gesamten Donauraums. 2. Durchführung der Besetzung unter Vorbedacht der Erhaltung und Betriebsfähigkeit der rumänischen Erdölindustrie. 3. Schutz der Transportwege, Erdölanlagen, Raffinerien und Tankläger.«

Noch bedeutender als Denkfabrik Hitlers und Görings war die von industriellen Experten dominierte Vierjahresplangruppe unter Carl Krauch (IG Farben). Seit April/Mai stellte diese Gruppe die weitaus wichtigste kriegsvorbereitende Unterlage für die NS-Spitze fertig. Zwanzig Staaten – von Finnland bis zur Türkei, von Bulgarien bis Portugal – sollten hiernach binnen weniger Jahre »unter deutscher Führung« ihre wirtschaftlichen Kräfte in einer »Großraumwehrwirtschaft« vereinen, um, wie Krauch sich schon im April ausdrückte, im kommenden Krieg »den Anstrengungen fast der ganzen übrigen Welt« gewachsen zu sein. Unbotmäßige Länder sollten durch den »chemischen Krieg, besonders aus der Luft«, zur Räson gebracht werden.

Hitler zog es vor, wie er gegenüber Mussolini am 8. Mai 1940 erklärte, »den vom Westen beabsichtigten Krieg zwei oder drei Jahre früher auszulösen«, um nicht wegen der hochgefahrenen Rüstungen der künftigen Gegner ins Hintertreffen zu geraten.

So oder so: Den Krieg zu beginnen, barg ein ungeheures Risiko, war ein Vabanque-Spiel der faschistischen Koalition. Ungleich aussichtsloser noch als 1914 angesichts der neuen Konstanten der Welt von 1939: der überwältigenden Wirtschaftsmacht der USA, der im Osten heranwachsenden sozialistischen Weltmacht UdSSR und des weltweiten Widerstands gegen die faschistische Barbarei. Zur Verwirklichung der verbrecherischen Ziele des neuen Krieges wurde eine neue Stufe der Unmenschlichkeit betreten.

* Prof. Dr. Dietrich Eichholtz ist Autor des mehrbändigen Standardwerk »Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945« und war berteiligt am Sechsbänder »Deutschland im Zweiten Weltkrieg«; in jüngster Zeit hat er mehrere Publikationen zum Thema »Krieg um Öl« verfasst.

Aus: Neues Deutschland, 29. August 2009



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