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Armageddon über Elbflorenz

Die "Operation Donnerschlag", der Streit um Opferzahlen, Mitschuld und Mithaftung

Von Robert Allertz *

An der bretonischen Atlantikküste finden sich noch einige Befestigungsbauten aus dem Zweiten Weltkrieg. Und Städte wie Brest, Lorient und Nantes bestechen durch die architektonische Einfalt der 50er Jahre. Nachdem die Hafenstädte durch alliierte Bomben fast ausradiert worden waren, versuchte man die Weltkriegswunden rasch zu schließen. Dem Verbrechen folgte die Sünde. Dass die U-Boot- und andere Stützpunkte der faschistischen Wehrmacht vernichtet werden mussten, stand und steht außer Frage. Aber die – heute beschönigend als kollateral bezeichneten – Schäden warfen schon damals die Frage nach der Verhältnismäßigkeit auf.

Es stehen an der dortigen Küste noch einige Bunker. Die werden als Museen geführt. Vor ihnen flattern im schönen Dreiklang die Trikolore, die Flagge der Bretagne und das blaue Banner mit den gelben Sternen. Diese Einrichtungen sind sehr anschaulich und naturalistisch bestückt. Aber merkwürdig: Man zeigt zwar, dass die deutschen Soldaten da waren – aber weshalb sie bis an den Atlantik kamen und warum sie an die vier Jahre hier ihr ihr Unwesen trieben, das erfährt der Besucher nicht. Man breitet den Mantel nachsichtigen Vergessens darüber. Vermutlich hängt das mit der Europa-Fahne zusammen, die vor dem schweren Beton flattert. Ja, der Krieg war schlimm. Für alle. Und nun schauen wir gemeinsam in die Zukunft. Aus dieser Perspektive wird selbst die faschistische Okkupation zur Folklore.

Von vergleichbarer Art scheint der Umgang mit dem Untergang des barocken Dresden zu sein. Der Blick auf die Historie wird nicht geschärft, sondern auf unscharf gestellt. Im diffusen Dunst verschwimmen Zusammenhänge, Ursachen und Folgen. Das ist gewollt.

Dieter Lämpe, ein Rentner aus den Umkreis Berlin, der endlich Klarheit im Streit um die Opferzahlen der Bombennächte von Dresden im Februar 1945 bringen wollte, in Akten recherchierte und zahllose Briefe schrieb, stieß auf eine Allianz von Nachlässigkeit, Trägheit, Arroganz und Beamtenwillkür. Dass die bereits in frühen DDR-Zeiten, von Zeitzeugen gestützte, vom damaligen Dresdner Oberbürgermeister Walter Weidauer angegebene Zahl von 35 000 Toten der Wahrheit entspricht, will man nicht zugeben. Eine eigens zur Klärung des Sachverhalts eingesetzte Historikerkommission verwarf die Behauptungen von hundertttausenden Opfern, wollte aber auch nicht die Angabe aus DDR-Zeiten übernehmen und verkündete daher als letztliche Weisheit: Es waren »nur« 25 000 Tote. Denn was der ostdeutsche »Unrechtsstaat« in Umlauf brachte, ist prinzipiell falsch und gelogen. Das Gezeter um diese Zahlen ist Erscheinung, nicht das Wesen des Streits.

Die Verunschärfung des Blicks auf die Vergangenheit greift noch weiter. Was an der französischen Atlantikküste zu beobachten ist, findet sich auch in polnischen Museumsdörfern in Westpreußen, die mit EU-Mitteln errichtet werden, und an Gedenkorten auf Kreta, wo Hitlers Legionäre Bergdörfer niederbrannten und die Bewohner massakrierten. Wir sind modern, heißt es dort überall, wir sind Europäer, blicken in die Zukunft und nicht zurück. Und deshalb richtet man offiziell kein kritisches Wort an den mächtigen Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches. Man möchte sich dessen Gunst nicht verscherzen. Und außerdem kommen zahlende Touristen aus Deutschland. Die wollen doch im Urlaub nicht hören, wie sich ihre Vorfahren hier aufgeführt haben!

Diese fragwürdige Haltung hat sich auf dem ganzen Kontinent ausgebreitet: vom Baltikum bis zur Biskaya, von Spitzbergen bis zum Peloponnes. Und dabei ist es noch keine 65 Jahre her, dass der größte Völkermord der neueren Geschichte endete. Natürlich, kein Volk soll und kann bis ans Ende seiner Tage alle Last der Geschichte tragen. Auch wir Deutschen, die Nachgeborenen, haben ein Recht darauf, nicht fortgesetzt mit den Verbrechen unserer Vorfahren konfrontiert zu werden. Doch das ist nicht gleichbedeutend damit, die Vergangenheit vorsätzlich zu verdrängen. Geschichte ist Geschichte. Sie lässt sich im Nachgang weder ändern noch schönen. Man kann aus ihr lernen, Schlüsse ziehen und Haltung bezeugen.

Wie war das nun mit Dresden? Die vier Angriffe der Royal Air Force (RAF) und der United States Army Air Forces (USAAF) auf Dresden im Februar 1945 waren keineswegs die schwersten Flächenbombardements des Zweiten Weltkrieges. Aber nicht nur wegen des Zeitpunktes galten sie als die fragwürdigsten. Zu den unmittelbar danach verbreiteten Legenden gehörte die Erklärung, die Angriffe der Roten Armee wären ins Stocken geraten, man habe helfen müssen. Im Februar 1945 standen deren Truppen bereits rund 70 Kilometer vor Berlin. Das militärische Schicksal der Hitlerdiktatur war besiegelt. Man hört und liest auch: Auf der Konferenz in Jalta (4. bis 11. Februar 1945) hätte Stalin die Alliierten zu Fliegerangriffen gedrängt, darunter auch die auf Dresden. Das ist zweckdienliche Propaganda. Die Planungen für diese militärische Operation liefen bereits seit Monaten. Und sie zielte weniger auf das hitlerdeutsche Hinterland, sondern auf den mächtigen Verbündeten in der Antihitlerkoalition im Osten. Noch besaß man nicht den atomaren Knüppel, also wollte man der Sowjetunion mit konventionellen Mitteln eine vergleichbare Vernichtungskraft demonstrieren. Die Operation trug den Codenamen »Thunderclap«, Donnerschlag. Und es wird kolportiert, dass Churchill mit einem Zirkel in die Berlin-Karte stach, genau dort, wo sich das Brandenburger Tor befand, und einen Kreis von sechs Kilometern Durchmesser zog. Dort sollte kein Stein auf dem anderen bleiben, forderte er.

Prof. Mike Davis, Kulturhistoriker am Southern California Institute of Architecture, berichtete 1999 in der New Yorker Zeitschrift »Grand Street« über ein »German Village«, das auf dem Militärgelände »Dugway Proving Ground« in der Strauchwüste von Utah, rund hundert Kilometer von Salt Lake City entfernt, errichtet worden war. Dort probten die Amerikaner die Bombardierung Berlins. Detailgetreu ließen sie Mietskasernen nachbauen.

Armageddon, schreibt Davis, fand in zwei Akten statt: Der erste war die »Luftschlacht um Berlin« der Royal Air Force (RAF) vom November 1943 bis März 1944, der zweite die »Operation Donnerschlag« im Februar 1945. »Als Hitler nach der Landung der Alliierten in der Normandie Vergeltung mit V1- und später V2-Angriffen auf London übte, war Churchills erste Reaktion die Forderung nach weiteren Angriffen auf Berlin. Selbst den Einsatz von Giftgas ließ er prüfen, und auch Biowaffen waren nicht tabu: ›Es ist absurd, in dieser Frage Moral ins Spiel zu bringen.‹ ... Im August 1944 erklärte er gegenüber seinem Finanzminister Henry Morgenthau Jr. wutentbrannt: ›Wir müssen hart mit Deutschland umgehen, und ich meine die Deutschen, nicht nur die Nazis. Entweder müssen wir das deutsche Volk kastrieren oder ihm so eine Behandlung verpassen, dass es nicht weiter Nachwuchs zeugen kann, der dann immer so weitermachen will wie in der Vergangenheit.‹« Noch im gleichen Monat unterbreitete Chruchill dem US-Präsidenten den Plan für die »Operation Donnerschlag«, die nicht nur Berlin, sondern auch Dresden und Leipzig anvisierte.

Die Bombardierung Berlins am 3. Februar 1945 brachte nicht den großen K.o.-Schlag, den sich die Engländer erhofft hatten, gleichwohl 3000 Berliner an diesem Tag starben. »Dresden kam zehn Tage später der ursprünglichen apokalyptischen Vision der ›Operation Donnerschlag‹ näher« schreibt Davis. »Strategische Bedeutung hatte die mit schlesischen Flüchtlingen, Zwangsarbeitern und alliierten Kriegsgefangenen überfüllte Kulturmetropole lediglich als temporärer Verkehrsknotenpunkt für die zusammenbrechende Ostfront. Amerikanische Bomber konzentrierten sich auf die Bahnhöfe und Gleisanlagen, die Briten nahmen alles andere aufs Korn. Das Ergebnis war der größte Feuersturm seit Hamburg.« Davis ist nicht der Einzige, der die These vertritt, dass Dresden deshalb in Schutt und Asche sank, weil die Machtdemonstration der Alliierten in Berlin am 3. Februar 1945 nicht sehr überzeugend gelang. Er widerlegt auch die These, dass Churchill und Roosevelt einer Bitte Stalins gefolgt seien: Man probte schließlich schon seit Jahren in Utah.

Natürlich ist stets zu bedenken, dass zunächst Polen, Russen, Briten und Franzosen unter deutschen Bomben starben, ehe deutsche Städte und deutsche Zivilisten Opfer der Gegenschläge wurden. Das hütet davor, die deutsche Bevölkerung zum Märtyrer zu stilisieren. Das deutsche Volk war mitschuldig am Krieg, weil es den Faschismus nicht nur billigend hingenommen, sondern ihn mehrheitlich auch über Jahre getragen hat. So geriet es aus der Mitschuld zwangsläufig auch in Mithaftung. Dennoch stellt sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit ihrer Bestrafung.

Luftangriffe wie jene auf Dresden zielten nicht primär darauf, die Militärmaschinerie des verhassten Nazistaates zu zerschlagen, sondern möglichst viele Menschen umzubringen. Der Massenmord war politisches Kalkül. Das sollte man – bei allem Respekt und Dank der Antihitlerkoalition für die Befreiung von der Nazi-Diktatur – auch so deutlich aussprechen. Dazu gehört ebenso, allen Versuchen zu widersprechen, Kriegsverbrechen wie die Luftangriffe auf Dresden kurz vor der Kapitulation zu relativieren. Ob nun 35 000 Opfer plusminus 10 000 – in solcher Region verbietet sich jeder Streit. Es hat etwas von Leichenfledderei.

Und vielleicht sollte man auch ein mal daran erinnern, dass in Leningrad während der faschistischen Blockade etwa 700 000 Menschen starben. Und dass am Morgen des 13. Februar 1945 die letzten 70 Dresdner Juden deportiert wurden.

Lektüretipp: Dieter Lämpe, »Angriff auf Dresdens Tote« (spotless, 95 S., br., 5,95 €).

* Aus: Neues Deutschland, 13. Februar 2010


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