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Verlogen heißt jetzt bizarr

Von Clausewitz oder Die Zukunft der NATO ist ungewiß: Ein sachsen-anhaltinischer Gedächtnisabend in Berlin

Von Kurt Pätzold *

Keine Generation in Deutschland, in der sein Name und sein Hauptwerk, zumindest dessen Titel »Vom Kriege«, nicht zum Bildungsgut der »besseren Stände« gehört hätte. Nur in wenigen Jahren nach 1945, in denen die Deutschen vom Kriege vollends genug hatten, traten Mann und Werk aus der Öffentlichkeit zurück. Aber schon in den 50ern war Carl von Clausewitz wieder unter uns. In Deutschland-West und -Ost erschienen Neuausgaben (freilich anders kommentiert als jene, die kurz zuvor etwa der Nazi-Studentenbund herausgegeben hatte). In beiden deutschen Staaten waren Tagungen auf die neuerliche Verwertbarkeit des Militärtheoretikers aus. Die Armeen dieser Staaten standen einander im Kalten Krieg gegenüber. In beiden gab es Verstand genug, daß daraus kein heißer wurde.

Nun führt Deutschland-einig-Vaterland wieder Krieg, auch unter Berufung auf den preußischen Generalstäbler, Heeresreformer, der sogar schon Militärphilosoph genannt wurde. Von Clausewitz war Offizier in den Armeen des preußischen Königs und denen des russischen Zaren – ein Umstand, der nach 1990 nicht mehr so arg verstört. Vor allem aber war er ein zum Selberdenken fähiger Kopf. Sein Wissen über Strategie und Taktik in Feldzügen, Schlachten und Gefechten schöpfte er weniger aus der Literatur, mehr aus eigenen Erfahrungen, die er in vier Kriegen machte: dem Koalitionskrieg der Feudalmächte gegen das revolutionäre Frankreich 1793, an dem er als dreizehnjähriger Kindersoldat teilnahm, dem Preußens 1806/07 gegen Napoleon, an dessen Ende er sich für etwa ein Jahr in Gefangenschaft befand, und den antinapoleonischen Kriegen von 1812/13 und 1815. Nach Waterloo war von Clausewitz Soldat in Friedenszeiten. 1831 übernahm er die Befehlsgewalt über Preußens Truppen in Polen. Im Herbst raffte ihn die Cholera dahin.

Am Dienstag ((8. Juni) widmete die Vertretung des Landes Sachsen-Anhalt in Berlin ihm eine Veranstaltung, die sie mit der Deutsch-Atlantischen und der Clausewitz-Gesellschaft organisiert hatte. Es gab einen Anlaß: Clausewitz wurde am 1. Juni vor 230 Jahren in der Kleinstadt Burg, seit 1713 Garnisonsstadt, geboren, und fand hier 1971 seine zweite Ruhestätte – was nach seinem Tode der Breslauer Erde übergeben worden war, wurde aus dem nun polnischen ­Wroclaw in das nicht mehr preußische Burg überführt.

Der bunte Abend in der sachsen-anhaltinischen Vertretung begann mit drei Begrüßungen. Erst spät sei Clausewitz’ über das Militärische herausreichende Bedeutung für die Politikwissenschaft entdeckt worden, hieß es da – unwidersprochen. Das Publikum hatte sowenig Marx, Engels oder Lenin gelesen wie der Redner. Niemand ahnte, daß sich die drei für den Militärtheoretiker auch unter dem Gesichtspunkt interessiert hatten, was sich für den Krieg der Klassen aus dessen Erkenntnissen über Strategie und Taktik, Angriff und Verteidigung gewinnen ließ.

Als nächstes informierte ein einstiger Burger Bürgermeister darüber, daß das einschlägige Kirchenbuch letzte Zweifel über das Geburtsdatum des Generals beseitige. Dieser befände sich nebst Uniform und Säbel auch wirklich in dem 1971 herbeigeschafften Sarg – die Legende vom leer gelieferten Behältnis entbehre jeder Grundlage, beruhigte er die Anwesenden. Zu beunruhigen vermochte der folgende Vortrag eines Bundeswehrmajors. Der Mann war von der Klarheit, in der Clausewitz sich auszudrücken verstand, gänzlich unangesteckt. Was er sagte, verdiente Bezeichnungen wie »geleertes Geschwätz« oder »höheres Blech«. Von diesem »Impulsreferat« ging Anregung nicht aus.

Im Hauptteil wurde von Clausewitz dann nicht mehr bemüht. Auf die Frage eines Generals a. D. hin diskutierten zwei Nichtmilitärs die gegenwärtige Debatte über die NATO-Strategie. Was vorherrschte, waren Sorgen über die unwägbaren Folgen der Etatkürzungen bei den Armeen der überschuldeten Mitgliedsstaaten: Würden sich deren Territorien, Bewohner und vitalen Interessen gegen die (nicht konkretisierten) Bedrohungen noch sichern lassen? Zweifel waberten vom Podium in den Saal. Die Zukunft, hieß es, sei ungewiß.

Etwas Bewegung kam in die Debatte, als undreist gefragt wurde, ob die Diskussion über die Zukunft der NATO– sagen wir einschränkend: ihr öffentlicher Teil – denn auch »ehrlich geführt« werde. Das ließe sich, meinte ein Experte der Adenauer-Stiftung, vollends nicht behaupten. Jedenfalls solange nicht, wie der Krieg in Afghanistan als Sonder- oder Einzelfall dargestellt würde. So, wie die Welt beschaffen sei, werde es auch künftig Interventionskriege dieses Typs geben. Da war dieser Christ sicher. Der Ehrlichkeit wegen müsse das auch gesagt werden. Mancher mag sich hinzugedacht haben: nicht gerade aus dem Munde eines Staatsoberhauptes und nicht überall und vielleicht auch nicht zu Zeiten von Wahlkämpfen.

Da die Rede einmal auf das offene Visier gekommen war, ließ sich der »Fall« des Horst Köhler nicht vollends ausblenden. Angeblich unstaatsmännisch hatte dieser Präsident über den Zusammenhang von Politik und Krieg geplaudert, mehr noch über die »Wirtschaft« im Hintergrund der Politik. Die Kritik daran wurde auf dem Podium »bizarr« genannt – unter Vermeidung des Wortes verlogen. Noch »bizarrer«, mithin verlogener, sei gewesen, daß man den Attackierten da so allein habe herumstehen lassen.

Der Abend hätte lebendig werden können, wäre etwa der folgende Satz von Clausewitz zitiert worden: »Also noch einmal: der Krieg ist ein Instrument der Politik; er muß notwendig ihren Charakter tragen, er muß mit ihrem Maße messen; die Führung des Krieges in seinen Hauptumrissen ist daher die Politik selbst, welche die Feder mit dem Degen vertauscht, aber darum nicht aufgehört hat, nach ihren eigenen Gesetzen zu denken.« Es hätten gar die Bewegungsgesetze dieser Republik zur Sprache kommen können.

Doch gemach: Der Mann wird den Deutschen bleiben. Nicht nur sein Name, der in Berlin und Kiel, Bremen und Hannover, Erfurt und Chemnitz auf Straßenschildern steht, in Burg eine Schule und dazu natürlich Kasernen in Hamburg und Nienburg bezeichnet. Generationen werden sich weiterhin zu entscheiden haben, wie sie mit den Ansichten des Generals umgehen, aus welchen Antrieben und mit welchem Interesse. Aus dem der Hindukusch-Krieger oder aus dem entgegengesetzten jener, die lesen, was Clausewitz über Krieg und Frieden schrieb und deren Gedanken sich dabei auf Ursprung und Gefährdung des Friedens richten. Und dann sind da auch noch jene, deren Interesse auf Clausewitz’ Gedanken über den Guerillakrieg gerichtet ist, für deren Formulierung ihm der Kampf der Spanier gegen Napoleon in den Jahren 1808 bis 1814 Anschauungsstoff geliefert hatte.

* Aus: junge Welt, 10. Juni 2010


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