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Schlachtenglück von Kriegsverbrechern

Geschichte. Zur Diskussion über die "Blitzkriege" 1939/40

Von Dietrich Eichholtz *

Mit dem deutschen Überfall auf Prag im März 1939 und der Annexion Tschechiens als »Protektorat Böhmen und Mähren« zeigte der Krieg schon seine Fratze. »Die kapitalistische Welt wird durch ihr Hätschelkind, den Faschismus, zum Kriege gezwungen werden.« (Thomas Mann, 29. März 1939) Aber als er am 1. September begann, konnte niemand sich vorstellen, daß zehn Monate später vom Atlantik bis zum Bug, vom Nordkap bis zum Mittelmeer die faschistische »Achse« regierte. Keiner ahnte damals – und sogar kriegsbereiten deutschen Militärs erschien es durchaus unwahrscheinlich –, daß der Nazistaat, obwohl hochgerüstet und seit Jahren zu jedem Verbrechen bereit, einen Krieg gegen Frankreich, Großbritannien und die UdSSR, also einen Zweifrontenkrieg, jahrelang und womöglich siegreich führen könne. Schließlich war auch damals schon klar, daß die USA, wie Präsident Roosevelt es mehrfach bekräftigte, im Ernstfall die europäischen Westmächte unterstützen würden, die Polen Garantie- und Beistandsversprechen gegeben hatten (Garantie: 31. März; Beistand: 25. August 1939).

Hitler war seit dem Frühjahr entschlossen, Polen in zwei bis drei Wochen zu »zermalmen« und dann mit allen seinen Kräften, nach Gunst der Umstände, »entweder den Bolschewisten entgegenzutreten« (Generalstabschef Franz Halder) oder die Wehrmacht erst nach dem Westen zu werfen. Er konnte damit rechnen, daß ein entschlossenes Zusammengehen seiner westlichen Gegner mit der Sowjetunion nicht zustande kommen werde, weil in den vergangenen Jahren eine Last riesiger politischer Hypotheken gegen ein solches Bündnis aufgehäuft worden war. Der Sowjetstaat, von den Westmächten überhaupt erst seit kaum einem Dutzend Jahren offiziell als Staat anerkannt, war das Hauptziel ihres Antikommunismus geblieben. Ihre mehr oder weniger wohlwollende Duldung und Unterstützung des Hitlerschen Anti-Versailles-Revisionismus und der bedrohlichen deutschen Aufrüstung zu Lande, in der Luft und zu Wasser war nicht nur der fatalen eigenen Blindheit, sondern in gleichem Maße der sowjetfeindlichen Grundeinstellung der herrschenden konservativen Kreise zuzurechnen. Höhepunkte ihrer Vorkriegspolitik waren die »Nichteinmischung« in den Kampf der spanischen Republik gegen die Franquisten, die Duldung der deutschen Annexion Österreichs und vor allem das Münchner Abkommen mit seinen tragischen Folgen. Jeder dieser Auswüchse des »Appeasements« hatte eine mehr oder weniger scharfe antisowjetische Komponente.

Der erste »Sieg«, den Hitler vor dem Polen-Feldzug einfuhr, war der Nichtangriffspakt mit der UdSSR (23. August 1939). Die UdSSR schloß den Pakt, weil die antisowjetische Haltung Polens, die Unwilligkeit der Westmächte, das Land militärisch wirksam zu schützen, und ihre Geneigtheit, sich über sein Schicksal mit Hitler »friedlich« zu einigen, ein gegenseitig verpflichtendes Bündnis illusorisch machten. Mit der fatalen Aussicht, in kürzester Zeit eine gemeinsame Grenze mit dem schwerbewaffneten Deutschen Reich zu haben, ging die Sowjetunion auf große Zugeständnisse an Deutschland ein. Das Land des Sozialismus, vordem erklärter Gegner des Faschismus und Hoffnungsträger der antifaschistischen Welt, erklärte plötzlich seine »Freundschaft« mit dem Hitler-Regime und lieferte ihm kriegswichtige Waren. Es nahm per Geheimvertrag Ostpolen bis zur Curzon-Linie von 1920 in Besitz (17. September).

Die annexionistische Politik setzte die sowjetische Führung später fort – im sowjetisch-finnischen Krieg, im Baltikum, in Bessarabien. Der Landgewinn dort sollte Schutz gegen spätere faschistische Aggression bieten, zahlte sich aber letzten Endes bis Juni 1941 selbst militärisch nicht aus.

Diese Politik, damals auch in der kommunistischen Weltbewegung weithin unverstanden, war ein Zeichen peinlicher Schwäche. Sie ist, in ihrer Langzeitwirkung bis zum 22. Juni 1941, nicht zu verstehen, wenn man die Stalinschen Repressalien in den enddreißiger Jahren, besonders die Enthauptung eines großen Teils der eignen Armeeführung, nicht berücksichtigt.

Kein Wunder, daß aggressive französische und britische Kreise sich in ihrem blindwütigen Antikommunismus bestärkt sahen. Nur einzelne westliche Politiker urteilten nüchterner. Winston Churchill, seit kurzem Marineminister – Erster Lord der Admiralität – im Kriegskabinett Chamberlain, brachte seine Regierung in Verlegenheit, als er am 1. Oktober 1939 im Rundfunk das sowjetische Vordringen zur Curzon-Linie verteidigte: »Rußland hat eine kalte Politik des Eigeninteresses verfolgt. (...) Aber daß die russischen Armeen zu dieser Linie vorrückten, war klarerweise notwendig für die Sicherheit Rußlands gegenüber der Nazibedrohung.«[1]

Krieg und Okkupation in Polen

Als die deutsche Militärwalze über Polen hinwegging, kämpfte die polnische Armee einen aussichtslosen Kampf, der nach vier Wochen, mit der Einnahme Warschaus (28. September), besiegelt war. Die deutsche Wehrmacht führte gegen das isoliert kämpfende Land an Panzern das Fünffache, in den Hauptangriffsrichtungen das Achtfache, an Feldartillerie das Drei- bzw. Vierfache, an Flugzeugen mehr als das Fünffache ins Feld. Polen hatte im Krieg 200000 Tote und Verwundete zu beklagen, 420000 Mann an Gefangenen; der deutsche Aggressor 50000 bis 60000 Tote und Verwundete.

Briten und Franzosen, an der deutschen Westgrenze aufmarschiert, unternahmen keinen militärisch wirksamen Schritt zur Entlastung Polens, nicht einmal Luftangriffe auf deutsche Städte und Rüstungsanlagen. Das Ende Polens bestärkte die Militärs noch in ihrer Defensivhaltung; Polen hatten sie von vornherein abgeschrieben. So blieb das Land bis zu Bug und San, von Gdynia (Gdingen) bis Oswiecim (Auschwitz) fünf Jahre unter deutscher Knute.

Beachtlich war die Stärkung der deutschen Wirtschaft und Rüstung durch die polnische Beute. Das ostoberschlesische Industriegebiet – Kohlenrevier, Hüttenindustrie, Eisen- und Stahlverarbeitung – fiel unzerstört an die Eroberer. Vom galizischen Erdölrevier gerieten die westlichen Felder in deutsche Hand. In den kommenden Jahren dienten die Agrargebiete, in den annektierten Teilen enteignet und »eingedeutscht«, und das große polnische Arbeitskräftereservoir bis zum Ausbluten der deutschen Kriegswirtschaft und Kriegführung. Die deutsche Großchemie (IG Farben) und die Montanindustrie – Albert Vögler, Wilhelm Zangen und ein Dutzend andere führende Vertreter – reichten noch während der Kämpfe in Polen ihre Wünsche nach Besetzung und Übernahme polnischer Werke »im Interesse der deutschen Volkswirtschaft« ein.

Der Naziterror begann in den ersten Kriegstagen. Der Massenmord an Tausenden Juden und Polen, an Zivilisten und Kriegsgefangenen war ein Menetekel für die kommenden Kriegsjahre. Die Behandlung der polnischen Bevölkerung als »Untermenschen«, von zu vernichtendem »Führertum« bis zum »primitiven« »Wanderarbeiter«volk, wurde hier schon eingeübt für den späteren Krieg gegen die UdSSR. Verschleppung und Mord führte hauptsächlich die SS aus; aber die zuständigen Armeebefehlshaber hatten genaue Kenntnis von den Verbrechen, deckten sie und trugen sie mit.

Nach dem Feldzug existierte kein polnischer Staat mehr. Westpolen wurde annektiert, von der Ostsee bis Kattowitz/Auschwitz wurden neue deutsche »Reichsgaue« und Regierungsbezirke geschaffen. Östlich davon, bis zu Bug und San, entstand aus vier »Distrikten« (Krakau, Warschau, Radom, Lublin) ein deutsch regiertes »Generalgouvernement«.

Bleierne Zeit

Das halbe Jahr bis zum deutschen Überfall auf Dänemark und Norwegen offenbarte ein erschütterndes Ausmaß an Fehlverhalten und Ohnmacht der Gegner des Naziregimes. Die Verbrechen dieses Regimes, seine Vernichtungs- und Ausraubungspolitik blieben ja der Welt keineswegs verborgen. Die Empörung besonders der britischen Öffentlichkeit zwang die noch regierenden Appeasement-Politiker zu verdecktem, geheimem Vorgehen bei ihren ununterbrochenen Versuchen, durch Verhandlungen mit den Hitlerleuten »friedlich« auf den Weg einer München-ähnlichen Politik zurückzukehren. Demoralisierend wirkte das Zurückweichen der sowjetischen Politik vor antifaschistischer Analyse der deutschen Untaten und vor jeder Kritik am deutschen Paktpartner.

Der sowjetisch-finnische Krieg bot den Westmächten erwünschte Gelegenheit, die UdSSR zum Hauptfeind zu erklären. Den Winter über, bis Anfang April, beschäftigten sich höchste französische und britische Militärs und Politiker mit Plänen, über Norwegen, Schweden und Finnland (Petsamo) in Richtung Sowjetunion vorzudringen, noch besser aber im Nahen Osten die UdSSR lebensbedrohlich anzugreifen. Der französische Generalstabschef, Maurice-Gustave Gamelin, der gegen Hitler nicht kämpfen mochte, versuchte, einen alliierten Plan durchzubringen, sowjetische – auch rumänische – Ölfelder zu bombardieren, möglichst aber Baku und den ölreichen sowjetischen Transkaukasus zu bedrohen und zu zerstören (Februar 1940): »Eine Aktion gegen die russische Erdölindustrie im Kaukasus ist (...) von sehr großem Interesse für die Alliierten. Sie ermöglicht es, einen sehr schweren, wenn nicht einen entscheidenden Schlag gegen die militärische und wirtschaftliche Organisation Sowjetrußlands zu führen. In einigen Monaten könnte die UdSSR sogar in eine derartige Verlegenheit kommen, daß sie in die Gefahr eines völligen Zusammenbruchs käme.«[2]

Auf die Kriegführenden traf nach wie vor zu, was Bertolt Brecht im Exil schon am 3. September 1939 beobachtet hatte: »Die deutsche Regierung will den Krieg, das deutsche Volk nicht. Die französische und englische Regierung will den Krieg nicht, das französische und englische Volk wollen ihn, Hitler zu stoppen.«

Hitler sah die Bahn frei, den Krieg im Westen zu beginnen. Dieser Krieg aber, schon seit Oktober geplant, war ein Hasardspiel gegen zwei potente Gegner – beides Weltreiche; außerdem sollten Belgien und die Niederlande überrannt werden. Die Generalität war trotz Hitlers Drängen nicht bereit zu marschieren, ohne vorher sorgfältigere Vorbereitungen zu treffen, besonders auf dem Rüstungsgebiet. Die Kräfte beider Seiten waren keineswegs ungleich wie in Polen. Die deutsche Seite hatte in Polen größere materielle Verluste hinnehmen müssen als erwartet: 1000 gepanzerte Fahrzeuge, davon 800 Panzerwagen (25 Prozent des eingesetzten Bestandes), 521 Flugzeuge, davon 276 total, über 5000 LKW und PKW. Der Munitionsverbrauch war außergewöhnlich hoch gewesen, bis zu 50 Prozent höher als später im Krieg in Frankreich. Die Monatsproduktion von Fliegerbomben war vom Verbrauch im Oktober um das Siebenfache überstiegen worden. Ein Jahrgang Wehrpflichtige mußte intensiv ausgebildet werden. Der Generalstab brauchte von Oktober 1939 bis Ende Februar 1940, bis der vierte und endgültige Operationsplan für den Krieg im Westen fertiggestellt war.

Die Auseinandersetzungen des Winters zwischen Hitler und der Heeresgeneralität, bei denen auch wieder einmal – für Jahre zum letzten Mal – die Idee von einem Offiziersputsch auftauchte, ist von Historikern kontrovers beurteilt worden. Hitlers zuerst gesetzter Angriffstermin, der 12. November 1939, wurde schließlich nach und nach um sechs Monate verschoben. Dabei mag zeitweise das Herbstwetter, ungünstig für den Luftwaffeneinsatz, eine Rolle gespielt haben. Ganz sicher aber waren es Erwägungen hinsichtlich der Risiken eines neuen »Blitzkrieges«. Neben dem Widerstand eines Teils der Heeresgeneralität war im Volk das Erlahmen der Unterstützung für den Krieg zu spüren. Wichtig war noch etwas anderes. Die Westmächte enthielten sich nach wie vor jeder ernsthaften Angriffshandlung; Verhandlungsfäden liefen ununterbrochen hin und her. Hitler dagegen wußte um den schwindenden deutschen Rüstungsvorsprung. Er wußte auch von dem unbeschränkten Waffenangebot der USA an alle, die dafür Hunderte Millionen Dollar zahlen und die gekauften Waren sicher über den Atlantik transportieren konnten (US-Cash-and-Carry-Gesetz vom 3. November 1939). Anfang 1940 hatten England und Frankreich bereits Tausende von Kampfflugzeugen geordert; im Mai verfügte Frankreich bereits über 500 neue amerikanische Flugzeuge.

Stand Hitler unter dem Zwang, einen neuen »Blitzsieg« durch Geschwindigkeit und Überraschung erfechten zu müssen, so zog er angesichts der Tatenlosigkeit der Gegner doch eine etwas gründlichere Vorbereitung vor – freilich diesmal unter Kriegsgesetzlichkeit und unter rücksichtslosem Druck auf die arbeitende Bevölkerung, eingeschlossen bereits viele hunderttausend Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, ganz überwiegend Polen (Mai 1940: über eine Million).

Das Konsumniveau in Deutschland fiel schon im ersten Kriegsjahr um elf Prozent, vor allem infolge der Rationierung und des Verschwindens vieler Konsumgüter. Die nicht ausgegebenen Barmittel der Bevölkerung flossen auf geräuschlosem Wege in die Kriegskasse. Im Jahre 1940 pumpten allein die Sparkassen acht Milliarden RM in die Rüstung.

Letztlich gelang es durch dieses System, gewaltige Mengen an Rohstoffen in die Rüstungsproduktion zu lenken, besonders an Stahl, aber auch an Kupfer und anderen Metallen, zu Lasten der übrigen Verbraucher, nicht ausgeschlossen die Reichsbahn, den allgemeinen Maschinenbau und sogar den Export.

Im Februar/März 1940 änderte sich die Rüstungsorganisation in Deutschland wesentlich. Die Führungsrolle ging von der Wehrmacht über auf Fritz Todt, einen radikalen Partei- und Produktionsmann, den Hitler am 17. März 1940 zum »Reichsminister für Bewaffnung und Munition« ernannte. In Todts Ministerium gaben die großen Rüstungsindustriellen einander die Klinke in die Hand. Sie konnten nun über autorisierte eigene Ausschüsse die Aufträge an die Firmen verteilen und direkt mit verbindlichen »Festpreisen« und großzügigen Abschreibungsrichtlinien arbeiten.

Der Erfolgsschub war überwältigend. Von Januar bis Juli trat eine dramatische Rüstungsbeschleunigung ein, deren prozentuales Ergebnis während des gesamten Krieges nicht mehr seinesgleichen hatte. Insgesamt verdoppelte sich die Rüstungsproduktion; ganz überwiegend auf Rechnung der drei größten Bereiche: bei Munition etwa von 18 auf 40 Prozent, bei Kampfflugzeugen (in erster Linie Ju 88) von 20 auf 38 Prozent, und auch bei Kraftfahrzeugen verdoppelte sie ihren Rüstungsanteil (von drei auf sieben Prozent). In der Panzerfertigung gab es keine so augenfällige Steigerung, aber die Wehrmacht erneuerte den Bestand und verfügte am 10. Mai 1940 schon über 1 456 der neuen mittelschweren Panzer moderner Ausstattung.

Der Überfall auf Dänemark und Norwegen Anfang April 1940 sicherte der deutschen Rüstung die Zufuhr von schwedischem Eisenerz und schloß damit die zu jener Zeit empfindlichste Rohstofflücke. Erschreckend war für die Hitlergegner die ausbleibende Gegenwehr Großbritanniens, der führenden maritimen Großmacht. »Das Versagen Englands in Skandinavien erweckt Entsetzen.« (Brecht)

»Durchknüppeln bis zum Kanal«

Hitler war klar, daß er im Westen gewinnen mußte, um einem Ende wie im Ersten Weltkrieg zu entgehen. Mit einem zweiten »Blitzsieg« konnte er aber nicht rechnen. Die aufstellbaren Kräfte der Westmächte waren nicht schwächer als die deutschen; sie waren am Boden, gerade auch bei Panzern, zahlenmäßig überlegen. Damit hatte der »Westfeldzug« von vornherein den Charakter eines verzweifelten Va-banque-Spiels.

Trotzdem ereignete sich im Mai 1940 etwas Unwahrscheinliches. Der nachmals berühmte »Sichelschnitt«, nach Ideen des Generalleutnants Erich von Manstein, schlug in zehn Tagen durch. Die zusammengefaßte motorisierte deutsche Kraft, darunter etwa zwei Drittel aller Panzerkräfte, erreichte auf schwierigen Wegen durch die Ardennen, über Sedan und entlang der Somme am 20. Mai bei Abbéville die Kanalküste. Die französisch-britische Streitmacht war völlig überrascht und wurde in zwei Teile zerrissen. Im nördlichen Teil befanden sich die besten französischen Truppen mit den gesamten französischen Reserven, das britische Expeditionskorps und das komplette belgische und niederländische Heer. Dieser riesige Kessel in Nordfrankreich und Belgien gilt als größte Einkesselung der Militärgeschichte.

Zwischen 24. Mai und 4. Juni konnten bei Dünkirchen und Ostende 370000 Briten und Franzosen über den Kanal entkommen. 1,2 Millionen Franzosen gingen in Gefangenschaft. Alle Ausrüstung ging verloren. Die Schlacht war geschlagen, die französische Hauptkraft gebrochen. Belgier und Niederländer kämpften nicht mehr. Am 14. Juni, nach harten Kämpfen, ergab sich Paris. Am 17. Juni boten die Franzosen Frieden an, am 22. Juni wurde er in Compiègne geschlossen.

Das Ganze sah wie ein »Blitzkrieg« aus. Hitler ließ sich von der eigenen Propaganda als »Größter Feldherr aller Zeiten« feiern. Tatsächlich aber war die Strategie des v. Manstein eine riskante Aushilfe, ein ausgesprochen waghalsiger Plan, durch einen starken, entschlossenen Gegner nicht schwer zu durchkreuzen. Die Alliierten aber, befangen in den Erfahrungen von 1914–1918, gingen in die nordfranzösisch/belgische Falle, wo sie mit gepanzerter Wucht und wirksamen Bombardements aus der Luft an der Kanalküste zusammengedrängt wurden.

Die Möglichkeit, den zehntägigen deutschen Panzermarsch über fast 500 Kilometer auf schmalen Wegen zum Kanal durch beherzte, konzentrierte Angriffe aus der Flanke und aus der Luft rechtzeitig zu unterbinden, lag außerhalb des beschränkten Gedankenkreises der alliierten Strategen. Damit war eine aussichtsreiche Chance vertan, den faschistischen Eroberern Einhalt zu gebieten.

Krieg und kein Ende

Militärisch und wirtschaftlich schien der deutsche Imperialismus Mitte 1940 auf dem Gipfel des Erfolgs zu stehen. Wäre es denkbar gewesen, alle Staaten Europas, die sich damals dem Einflußbereich »Großdeutschlands« und der »Achse« nicht entziehen konnten, mit ihrem Potential den deutschen Weltmachtplänen dienstbar zu machen, so wäre wirtschaftlich ein gewaltiger Block mit einem größeren Bruttoinlandsprodukt entstanden, als es die USA und das gesamte britische Weltreich erwirtschafteten.[3] Tatsächlich aber hatte die deutsche Führung Probleme zu lösen, die schwerer wogen als zuvor. Kollaborateure fand sie allerorten, aber die Völker leisteten Widerstand gegen die deutschen und die einheimischen Organisatoren und Propagandisten der europäischen »Neuordnung«. Großbritannien, seit dem 10. Mai unter Churchill als Premier, sollte sich als unerbittlicher Gegner erweisen, und das Schreckensbild des britisch-amerikanischen Bündnisses sah Hitler wie eine drohende Wolke heraufziehen. Die Sowjetführung gratulierte ihm wohl zum Sieg über Frankreich, blieb aber ein unbequemer, ihm verhaßter Vertragspartner und stand als Objekt künftiger Aggression fest.

Wehrmacht und Nazipolitiker sahen sich gefangen einerseits im Mythos der eigenen Unbesiegbarkeit, in ihren Weltherrschaftsillusionen und ihrem weltanschaulichen Größenwahn, andererseits in der Welt der rauhen Tatsachen, der Unmöglichkeit, ihre hybriden strategischen Vorstellungen durchzusetzen. Sie fühlten sich zwar als Welteroberer, zumindest als Herren in Europa; aber ihre militärischen und politischen Probleme nahmen mit großer Geschwindigkeit zu.

Fußnoten
  1. Churchill, War Speeches (Hrsg. Charles Eade, London 1952, Bd. 1, S. 108). Meine Übers.
  2. Der zweite Weltkrieg. Dokumente. Hrsg. Gerhard Förster/Olaf Groehler, Berlin 1974, Dok. 11, S. 66 (Aufz. Gamelin für Daladier, 22. 2. 1940)
  3. Nach: Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung, Berlin 2007, S. 445. – Kriegsgeschichtlich empfehlenswert: Karl-Heinz Frieser, Blitzkriegs-Legende. Der Westfeldzug 1940, München 1994
Von Dietrich Eichholtz erschien im Februar (zusammen mit Titus Kockel): »Von Krieg zu Krieg. Zwei Studien zur deutschen Erdölpolitik in der Zwischenkriegszeit« (mit Illustrationen und Dokumenten), Leipziger Universitätsverlag

* Aus: junge Welt, 19. Dezember 2009


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