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Krieg ohne Beispiel

Vorabdruck. Die Deutschen und der 22. Juni 1941

Von Kurt Pätzold *

Zum 70. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 erscheint Ende dieser Woche im Verlag Das Neue Berlin ein Fotoband unter dem Titel »Der Fall Barbarossa. Der Krieg gegen die Sowjetunion in unbekannten Bildern«. Wir veröffentlichen daraus vorab eine um einige Passagen und die Fußnoten gekürzte Fassung des Nachworts von Kurt Pätzold. Der Berliner Historiker stellt dar, wie der Krieg an der Ostfront der deutschen Mehrheitsbevölkerung medial-propagandistisch vermittelt wurde und analysiert die reduktionistische Formel »Vernichtungskrieg«, die von den eigentlichen Zielen des faschistischen Raubzugs ablenkt.

In den frühen Nachmittagsstunden des 22.Juni 1941 füllte sich das weite Rund des Olympiastadions, jener riesigen 100000 Zuschauer fassenden Sportstätte im Berliner Westen, die mit dem Blick auf die Olympischen Spiele des Jahres 1936 errichtet worden war. Um 15 Uhr begann dort das Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft. Gegeneinander traten die Mannschaften von Schalke 04 und von Rapid Wien an. Der Verlauf des Wettkampfes erscheint aus dem Rückblick wie ein Menetekel dessen, was sich in den folgenden Jahren an der Ostfront ereignen sollte, wo die Deutschen anfänglich als die sicheren Sieger auftraten. Schalke führte lange mit drei Toren. Dann wendeten die Wiener das Blatt. Sie gewannen mit vier zu drei. Das Sportereignis wird hier erwähnt, weil es für die Politik der Machthaber steht, im Deutschen Reich die Illusion von Normalität aufrechtzuerhalten, selbst an einem solchen Tag. (…)

Wenige Tage später wurden Bilder des Ereignisses in der Filmwochenschau gezeigt, die sogar mit ihnen begann. Erst danach folgten die ersten Aufnahmen von der neu eröffneten Front im Osten. Da diese Filmstreifen die Kontrolle des Propagandaministers passierten, läßt sich bei der Abfolge nicht an einen Zufall glauben. Eher war sie Bestandteil einer Manipulation, die darauf zielte, allzu große Besorgnisse über diese Wendung im Kriegsverlauf zu dämpfen und den Eindruck zu erwecken, der Feldzug im Osten werde nicht wesentlich anders verlaufen als die vorausgegangen vier in Ost-, Nord-, West- und Südeuropa. Und in der Tat zeigten die geheimen Berichte des Sicherheitsdienstes, daß die Schritte, welche die aufgestörten Volksgenossen beruhigen sollten, aus der Sicht der Machthaber durchaus am Platz waren.

Unerwünschter Krieg

Am Tag nach dem Überfall hieß es in den Meldungen aus dem Reich, einer für einen ausgewählten kleinen Kreis von Führern bestimmten regelmäßigen Information, eingangs, die Deutschen wären vom Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion überrascht gewesen. Ganz ohne Einschränkungen läßt sich die Feststellung nicht lesen. Eine Millionenarmee nach Ostpreußen und in das deutsch-besetzte Polen vor die Grenzen der UdSSR zu transportieren und das teils auf weiten Wegen quer durch das deutsche Reichsgebiet, das hatte sich schwerlich »im Dunkel der Nacht« bewerkstelligen lassen. Und die dort in immer größerer Zahl versammelten Soldaten waren nicht ohne Verbindungen in die Heimat. Sie schrieben Feldpostbriefe, und in vielen stand mindestens in einer Andeutung, wo sich der Absender inzwischen befand. Indessen hatten sich manche »Volksgenossen« auf die ihnen unbezweifelbar zugekommenen Informationen ihren eigenen Vers gemacht. In mehreren Gegenden Deutschlands kursierte ein Gerücht, von dem sich sicher nicht sagen läßt, daß es die Machthaber selbst unter das Volk gebracht hatten. Es besagte: Zwischen dem Reich und der UdSSR sei ein Abkommen getroffen worden, das den Transport deutscher Truppen durch das Land an dessen südliche Grenzen erlaube. Von dort werde der deutsche Angriff in die Räume des nahen und mittleren Orients erfolgen. So solle Großbritannien im wertvollsten Teil seines Kolonialreiches getroffen werden. Würde aber Indien, das Kronjuwel des Gegners, bedroht, bliebe dem nur die Kapitulation.

Nun also: kein Abkommen, kein Durchmarsch, sondern ein Einfall in den Staat, mit dem 22 Monate zuvor ein Nichtangriffsvertrag geschlossen worden war, der Hitler Anlaß und Gelegenheit gegeben hatte, sich der Vermeidung eines Zwei­frontenkrieges zu rühmen. Nein, ein Schock sei durch die Nachricht nicht ausgelöst worden, hieß es in den Stimmungsberichten, doch sei »überall« Bestürzung, Nervosität und Bedrücktheit festzustellen. So hatten sich die Deutschen, so wenig konkret ihre Bilder vom weiteren Kriegsverlauf ein Jahr nach dem Triumph über Frankreich immer gewesen sein mochten, jedenfalls den Weg zum »Endsieg« nicht vorgestellt. (…)

Was das deutsch-sowjetische Verhältnis anlangte, so kursierten im Frühjahr 1941 in der deutschen Bevölkerung wilde Gerüchte. Es wurde geglaubt, daß die Beziehungen sich gebessert hätten, erzählt, Stalin und ein türkischer Regierungsvertreter würden nach Berlin kommen, um dem Dreimächtepakt – Deutschland, Italien, Japan – beizutreten, und deutsche Truppen befänden sich bereits auf dem Wege in Richtung Irak, der eben von britischem Militär besetzt wurde. »Truppentransporte nach dem Osten werden immer noch überwiegend dahin ausgelegt«, sagte eine Meldung vom 12. Juni 1941, »daß Rußland den Durchmarsch deutscher Truppen (in Richtung Irak – K.P.) durch sein Gebiet gestattet habe«. Diese Gerüchte erwiesen sich, wie wenige Tage später gemeldet wurde, als hartnäckig und herrschten gegenüber anderen vor, die vom Scheitern der deutsch-sowjetischen Verhandlungen wußten und davon, »daß gegen Ende dieses Monats eine deutsche Offensive gegen Rußland beginnen würde«.

Die Mär vom Präventivschlag

Nun also war die von der Mehrheit der Deutschen unerwartete und unerwünschte erneute Wendung im Verhältnis zu dem euro-asiatischen Großreich im Osten eingetreten. (…) Um den Bruch zu erklären, erzählte der »Führer« den »Volksgenossen« am Morgen des 22. Juni 1941 selbst die Geschichte seiner Leiden, entstanden aus seinem Vorwissen von der angeblichen sowjetischen Angriffsabsicht. Von denen habe er sich nun befreit, erkennend, daß dem Krieg gegen den »hinterhältigen« Bolschewismus nicht auszuweichen sei. Er habe sich entschlossen, dem sprungbereiten Angreifer zuvorzukommen.

Wie viele Deutsche diese Mär glaubten, ist nicht aufzuklären. Doch kann kaum bezweifelt werden, daß die antibolschewistischen Bilder, die seit 1918 in Deutschland von verschiedensten politischen Kräften verbreitet worden waren, sich mit den Mitteln der Propaganda rasch reanimieren ließen. Zudem stellten Hitler und seine ­Demagogen die permanente Bedrohung, welche die Sowjetunion angeblich dargestellt habe, als das Hindernis dar, das die Entfaltung aller eigenen militärischen Kräfte gegen Großbritannien verhindert hätte. Damit wurde den Propagandagläubigen die ausgebliebene Invasion auf den britischen Inseln erklärt, und der Feldzug im Osten konnte ihnen als bloßes »Zwischenstadium des großen Kampfes gegen England« erscheinen, als dessen unvermeidliche Vorstufe. Nur eine Gruppe wußte sicher, daß Hitlers Version über die Ursachen dieses Krieges rundheraus zusammengelogen war – die deutschen Spitzenmilitärs. Denen hatte der »Führer und Oberste Befehlshaber« seine Absicht zum unprovozierten Angriff schon Ende 1940 unumwunden kundgetan. Sie wußten zudem aus Berichten der militärischen Aufklärung, daß auf sowjetischer Seite keinerlei Angriffspläne existierten.

Jedoch dürfte in diesem Moment die Mehrheit der Deutschen wenig Interesse für die Rechtfertigung des deutschen Angriffs aufgebracht haben. Sie hatten sich wie jüngst beim Krieg gegen Jugoslawien und Griechenland wiederum mit der Tatsache der Ausweitung des Krieges abzufinden, und das war ihnen wegen der denkbaren Folgen Anlaß zu Sorgen und sich daran knüpfende Erörterungen und Mutmaßungen genug. (…) Indessen verband sich mit Ängsten und Befürchtungen weithin die Hoffnung, auch dieser Feldzug werde kurz sein. Die Wehrmacht hatte sich in allen voraufgegangenen als unüberwindlich erwiesen. Fraglich war den meisten Deutschen nicht der Ausgang des Unternehmens, sondern einzig dessen Dauer. Nicht wesentlich mehr als drei Monate, glaubten führende Militärs und ebenso die Stammtischstrategen, dann werde auch dieser Gegner bezwungen sein.

Nach den ersten Erfolgsmeldungen des Oberkommandos wurden die frohgemuten Prognosen noch einmal verkürzt und Wetten über die Dauer des Feldzugs abgeschlossen. Selbst wenn die faschistischen Enthusiasten einen Blick auf geographische Karten der UdSSR warfen, nach denen übrigens die Nachfrage so groß war, daß die einschlägigen Drucke in den Buchhandlungen alsbald restlos verkauft waren, kamen sie nicht ins Nachdenken. (...)

Siegesgewiß, trotz allem

Doch wie sich der Masse der Deutschen der Schwierigkeitsgrad dieses Krieges im Osten auch darstellte, es galt ihnen in jenen ersten Tagen und Wochen des Krieges eines als völlig sicher: der Sieg der eigenen Truppen. Als dessen Garanten betrachteten sie erstens die Genialität des »Führers«, zweitens die einmalige Stärke der Wehrmacht, von der Hitler eben noch verkündet hatte, ihr sei »nichts unmöglich« und die zudem das Überraschungsmoment hatte ausnutzen können und bei ihrem Vordingen zudem keine schwierigen natürlichen Hindernisse überwinden mußte, drittens die Geschlossenheit und Erfahrenheit der deutschen Kriegsgemeinschaft und – ihr gegenüber – die innenpolitische Schwäche und Zerrissenheit Rußlands, wo Zerfallserscheinungen (Baltikum, Weißrußland, Ukraine) der Wehrmacht die Aufgabe erleichtern würden sowie, viertens, den Zustand der Roten Armee als Folge der Liquidierung der »roten Generale« und der minderen Qualität ihrer Soldaten, ihrer Waffen und Ausrüstungen.

In diese starken Überzeugungen und vermeintlich wohlerwogenen Kalküle mischten sich nichtsdestoweniger auch besorgte Fragen. Mit dem Gedanken an die Opfer verband sich, verstärkt durch die Vorstellung von den »asiatischen Methoden« des Gegners, die Frage nach dem Schicksal von Soldaten, die womöglich in die Hände der Sowjetarmee gerieten. Dann drängte die Überlegung heran, welchen Gewinn Großbritannien aus dem Krieg fern seiner Grenzen würde zu ziehen wissen. Und dann wuchs die Ungewißheit über die Haltung der USA. (…) Zweifelnde Überlegungen knüpften sich ebensobald an die Frage, wie es möglich sein werde, die endlos weiten Räume im Osten zu beherrschen. Dämpfend wirkte auf die Kriegsstimmung auch die im Sommer 1941 verschlechterte Versorgung mit Lebensmitteln, insbesondere der Mangel an Kartoffeln und Gemüse. (…)

Die täglichen Wehrmachtsberichte, die Sondermeldungen aus dem Oberkommando über eroberte Städte, die Zahlenangaben über die Gefangenen und die materielle Beute, dazu die Bildfolgen in den Wochenschauen nährten in der deutschen Bevölkerung den Siegesglauben. Wieder strömten viele Deutsche nicht in erster Linie wegen des gebotenen Spielfilms in die Kinos, sondern um diese Streifen zu sehen, die in Längen Aufnahmen vom Vordringen der Wehrmacht an der gesamten Front vom Norden Finnlands bis an das Schwarze Meer zeigten. In äußerster Konzentration von Bild und Wort wurde das gesamte Repertoire der aktuellen Propaganda geboten. Gestützt werden sollte das Bild vom Abwehrkampf Europas gegen den Bolschewismus (...). Zugleich sollte das Bildmaterial von der Ostfront mit den Aufnahmen von den Gefangenenmassen und der Unmenge zerstörten gegnerischen Kriegsgeräts die Mär vom bevorstehenden Angriff auf Deutschland und Europa stützen, dem der »Führer« zuvorgekommen sei. »Unaufhaltsam« und »planmäßig« waren die meist benutzten Vokabeln für das Vordringen der eigenen Truppen. (...)

»Kultur gegen Barbarei«

Zu den Charakteristika jeder dieser Wochenschauen gehörte die antibolschewistische Aufpulverung. Sie ergoß sich über die Deutschen in einer Weise, als hätten die Autoren und Kameraleute, die Kriegsberichterstatter ebenso wie die Kommentatoren in den Heimatredaktionen nun endlich und erleichtert alle Schleusen ihres bis dahin zurückgehaltenen Kommunistenhasses öffnen können. Bereits in der ersten Filmwochenschau, die nach dem Überfall in die Kinos kam, hieß es, der Wehrmacht stünden nicht Soldaten, sondern ein »wilder verkommener Haufe« gegenüber. Zum Standardvokabular, mit denen Bilder gefangengenommener Rotarmisten kommentiert wurden, gehörte: »verworfenes Verbrechergesindel«, »rote Mordbestien, hauptsächlich Juden«, »Horden«, »ungezählte Juden«, »Untermenschen«, »Raubgier«, »Mordlust«.

Daß mit diesen Bildern die beabsichtigte Wirkung erzielt wurde, hielten die Beobachter der Stimmungen in der deutschen Bevölkerung fest. Es hätten sich gelegentlich gar Zweifel hörbar gemacht, daß diese »Wilden«, »Untermenschen« und »Zuchthäusler« usw. »Angehörige der regulären sowjetrussischen Armee seien«. Nun, lautete ein Kommentar in einer der ersten Wochenschauen, lerne der deutsche Soldat das sowjetische Paradies kennen. Das sei die »Hölle«. Die Bolschewisten hätten das Volk körperlich und seelisch zugrunde gerichtet. Jetzt würden sie auf dem Rückzug nur Trümmer hinterlassen, ohne auf ihre eigene Bevölkerung die geringste Rücksicht zu nehmen. Demnach waren es nicht die Eroberer, die mit ihrer weit überlegenen Militärmaschinerie das Land verwüsteten, sondern dessen angeblich von Zerstörungswut beherrschte Verteidiger. Zu Aufnahmen verängstigter Kinder hieß es, sie kennten weder Vater noch Mutter. Die Bevölkerung begrüße die Befreiung vom bolschewistischen Joch, wie der Abriß von Lenin-Denkmälern bezeuge und ebenso die für die »Befreier« errichteten Ehrenpforten. In Litauen helfe die Bevölkerung der Wehrmacht. Das Fazit besagte: des »Führers« Weisheit und nun der deutsche Soldat bewahre die Heimat und ganz Europa vor einem furchtbaren Schicksal. Es kämpfe die Kultur gegen die Barbarei.

Eroberung durch Vernichtung

Wer genauer hinhörte oder las, fand in allen diesen Berichten, wenn vom Widerstand der Roten Armee gesprochen oder geschrieben wurde, wiederholt zwei Worte: »zäh« und »verbissen«. Diese Haltung wurde auf den Druck politischer Kommissare zurückgeführt, und die Hervorhebung der Gegenwehr mochte darauf berechnet sein, Leistung und Verdienst der deutschen Soldaten herauszustellen. (…) Je länger der Krieg dauerte, um so mehr sprach sich herum, wenn auch die Vorstellungen weit hinter der Wirklichkeit zurückblieben, daß im Osten sich ein anderer Krieg entwickelte, ein anderer Feldzug sich zutrug als alle bisherigen. Das geschah nicht erst, als die Kunde vom Gegenangriff der sowjetischen Armee vor Moskau in den Vorweihnachtswochen 1941 in das Reich sickerte. Jedoch vergingen noch Jahre, bis Berichte Überlebender und Fotos und Bilder, die nicht zu Propagandazwecken hergestellt worden waren, dokumentierten, was das gewesen war: der Krieg an der Ostfront. Die in der Bundesrepublik dominierende Richtung der Geschichtsschreibung und nahezu ausnahmslos die Publizistik benutzt heute für ihn die Bezeichnung Vernichtungskrieg. Die Zahl der umgekommenen Soldaten und Zivilisten und die Verwüstungen von menschlichen Siedlungen und Landschaften, das zerstörte Werk der Arbeit von Generationen rechtfertigen diese Kennzeichnung vollkommen. Und würde der Begriff nur dazu dienen, diese Seite des Krieges zu charakterisieren, ließe sich gegen ihn nichts einwenden. Doch mit ihm wurde hierzulande jede andere Wesensbestimmung des Krieges verdrängt. Dabei sagt er über die Antriebe und Kräfte, die in ihn führten, und über die Ziele, die in ihm von den deutschen Machthabern verfolgt wurden, nichts aus.

Nicht so selten erhält diese Bezeichnung Ergänzungen. Sie lautet dann »Hitlers Vernichtungskrieg« oder »rassenideologischer« oder »rassenbiologischer Vernichtungskrieg«. Im ersten Fall wird eine Person, »der Führer«, als Triebkraft und Interessent dieses Krieges ausgegeben und als derjenige, der bestimmte, wie er geführt und gewonnen werden solle. Dieses Bild, das die sonst aufgegebene Vorstellung von den Männern, die Geschichte machen, wiederbelebt, war schon während des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher zerstört worden. Spätere Geschichtsforschungen schienen es endgültig erledigt zu haben. Und die Hervorhebung des Rassenwahns betrachtet eine Ideologie als Triebkraft des Geschehens, erklärt sie zur Quelle und zum Charakteristikum des Verbrechens an Millionen, an Juden und Angehörigen slawischer und asiatischer Völker, an Sinti und Roma und vielen anderen. Daß diese Untaten nicht verübt werden konnten, ohne daß in der Gedanken- und Gefühlswelt der Täter und Mittäter der Begriff Menschheit gelöscht und durch die Sonderung der Herren- von den Untermenschen ersetzt wurde, ist unstrittig. Die Frage ist aber, ob dieser am 22. Juni 1941 von der deutschen Führung unprovoziert begonnene Krieg geführt wurde, um ein großes Vernichtungswerk zu vollbringen und sonst nichts zu erreichen. Die Frage ist, ob da eine Art rassistischer Amoklauf angetreten wurde, sich einzig blinde Tötungs- und Zerstörungswut austobten oder ob nicht jedenfalls die Befehlshaber in diesem Vorgehen die Mittel erblickten, zu ihren konkreten Zielen zu gelangen. Zur Beantwortung dieser Frage sind die Historiker nicht auf Vermutungen angewiesen. Im sicheren Vorgefühl des Sieges sprachen die Hitler und Goeb­bels nicht nur von der Abwehr der bolschewistischen Barbarei und der Rettung Europas und seiner Kultur, auf die sie angeblich aus waren, sondern unumwunden von den fruchtbaren und an Bodenschätzen reichen Weiten des Ostens, von Weizen und von Öl. Schon der Beginn der Besatzungspolitik, als Auftakt für eine Kolonialherrschaft gedacht, erledigt die Vorstellung, daß es den Eindringlingen einzig um das Vernichten zu tun gewesen wäre.

Imperialistische Agenda

Mithin: Der Begriff »Vernichtungskrieg« enthüllt etwas: die historisch beispiellose Grausamkeit, mit der die Deutschen den Krieg auf dem Territorium der Sowjetunion führten, was, nicht zu vergessen, eine Vorgeschichte schon im Feldzug in Polen hatte. Aber zugleich, und erst dies weckte die ihm zugewandte Vorliebe, erfüllt er die Funktion, etwas zu verhüllen: das imperialistische Wesen dieses Krieges, der eine Fortsetzung und faschistische Steigerung des Krieges war, den die deutschen Aspiranten auf die Welt (vor)herrschaft von 1914 bis 1918 geführt und verloren hatten. Davon hatte in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik schon der Hamburger Historiker Fritz Fischer geschrieben und in weiten Teilen der Zunft einen Protest ausgelöst. Dann änderte sich mit deren Zusammensetzung auch ihr Verhältnis zu den Tatsachen und Wahrheiten. Jetzt befindet sich die deutsche Historiographie gleichsam auf dem geistigen Rückmarsch. Der Begriff Imperialismus ist aus ihrer Wissenschaftssprache weitgehend verschwunden. Und in der Publizistik regiert die Sprachregelung vom Krieg Hitlers, der einige Helfer besaß, insbesondere Feldherrn.

Die Politik des Vernichtens ordnete sich aber Zwecken und Zielen zu, sie war im Ganzen nicht situationsbedingt, sondern geplant und besaß ein momentanes und ein langfristiges Generalziel. Im eroberten und zur deutschen Kolonie vorbestimmten Land sollte augenblicklich Friedhofsruhe herrschen und nicht einmal ein Gedanke an Widerstand gegen die Eindringlinge aufkommen. Denn wie wenig die deutschen Kriegsplaner von diesem Gegner immer verstanden haben mochten, daß es sich um einen anderen Gegner und ein anderes Land handeln werde als die bisher bekriegten und besiegten, war ihnen bewußt. Das drückte sich schon in den vor Feldzugsbeginn erteilten Befehlen aus und nicht erst, als die Eindringlinge es mit den Partisanen zu tun bekamen. Die Menschengruppen und Personen, die liquidiert werden sollten, wurden in Befehlen benannt als Kommunisten, Bolschewisten, Funktionäre der KPdSU und des Sowjetstaates, politische Kommissare der Roten Armee, ganz allgemein Angehörige der Intelligenz und wieder und wieder als die Juden. Gedacht war und praktiziert wurde ein politischer und geistiger Enthauptungsschlag, der die Landesbewohner führerlos, zu einem blinden Haufen, zur menschlichen Verfügungsmasse für die Eroberer machen sollte.

Jedoch nicht zur Gänze, und daraus ergab sich das zweite Generalziel der Vernichtungsstrategie. Diese Masse war nach den Interessen der Eroberer zu groß, zu zahlreich, sie sollte unabhängig von ihrem tatsächlichen oder vermuteten Verhalten gegenüber den Eroberern dezimiert werden. Das betraf in erster Linie die Juden und alle, die als Störenfriede oder unnötige Esser oder als Menschen galten, die nach dem Maß der Rassisten unbrauchbar waren und zudem unnötigen Aufwand erforderten, »Ballastexistenzen« wie chronisch Kranke, körperlich oder geistig Behinderte. Alle diese Gruppen existierten auf der Skala der zu Vernichtenden obenan. Darüber hinaus, nach dem »Endsieg«, war Millionen Bewohnern des europäischen Teils der Sowjetunion Gleiches bestimmt. Sie sollten in unwirtliche Gebiete vertrieben werden und mochten dort zugrunde gehen.

Noch einmal: Keine Frage also, daß nach der Praxis der faschistischen Kolonisatoren wie nach allem, was sie sich noch vorgesetzt hatten, dieser Eroberungszug die Bezeichnung Vernichtungskrieg verdient. Sie stammt übrigens nicht erst aus Krieg und Nachkriegszeit. Palmiro Togliatti, der 1935 in Moskau auf dem VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale vom kommenden Krieg sprach, nannte ihn einen »Vernichtungskrieg«. Doch taugt diese Kennzeichnung nicht, um das Wesen dieses Krieges zu erfassen und seine geschichtliche Einordnung vorzunehmen, denn er ist nicht um der Vernichtung von Menschen und Sachen willen begonnen und geführt worden, sondern um Land zu gewinnen, sich den Zugriff auf verschiedenste Naturreichtümer zu verschaffen, Menschen, sofern sie mittelfristig als brauchbar angesehen wurden, in eigene Gewalt zu bringen und zu versklaven. Was anders sind diese Ziele als imperialistisch? Was unterscheidet sie im Antrieb wie im Ziel von den Programmen, um deren Verwirklichung willen das deutsche Kaiserheer ein Vierteljahrhundert vorher in andere Länder einfiel? Schon sein Vorgehen war durch Kriegsverbrechen gekennzeichnet. Auch dieser erste »Griff nach der Weltmacht« ging schon mit einer Entsetzen hervorrufenden Vernichtung einher. Die Trümmermassen der Ortschaften und die entstellten Landschaften Frankreichs aus den Jahren 1915 und 1916 unterscheiden sich von den russischen der Jahre 1941 und 1942 nicht. Den Unterschied macht das Ausmaß des Mordens und der Zerstörungen, die ein Vielfaches betrugen. Die Formel vom »Vernichtungskrieg« reduziert das Kriegsbild auf einen Aspekt. Den zu betonen ist nicht allein beim Blick in die Geschichte notwendig. Doch – und noch einmal – in seiner häufigsten Verwendung ist der Begriff »Vernichtungskrieg« ein bewußt oder mechanisch benutztes Ersatzwort, das die Funktion einer Nebelwand erfüllt, hinter der eine Gesellschaft und die in ihr wurzelnden Antriebe zu Krieg und Eroberung verschwinden sollen.

Michael Brettin, Peter Kroh, Frank Schumann (Hg.), Der Fall Barbarossa. Der Krieg gegen die Sowjetunion in unbekannten Bildern. Mit einem Nachwort von Kurt Pätzold, Das Neue Berlin, Berlin 2011, 224 S., 24,95 Euro, ISBN 978-3-360-02128-1 (erscheint am 27. Mai).

* Aus: junge Welt, 25. Mai 2011


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