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Zum 22. Juni 1941 - Aus der Geschichte lernen!

Vor 60 Jahren begann der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion

Aus Anlass des 60. Jahrestags des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion dokumentieren wir im Folgenden ein paar Betrachtungen.

Zu diesem 22. Juni

Von Kurt Pätzold

Heute sind auf den Tag genau sechzig Jahren vergangen, seit die deutsche Wehrmacht in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken einfiel. Manche im nazistischen Führungskreis - es waren wenige, die um das Vorhaben wußten - beschlich schon in den Wochen vorher ein ungutes Gefühl. Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Ernst von Weizsäcker gehörte zu ihnen. Ja, wenn jede eroberte sowjetische Stadt so viel wert wäre wie ein versenktes britisches Schlachtschiff, dann wäre für ihn die Rechnung aufgegangen. So aber befürchtete er, Großbritannien werde durch die Konzentration der deutschen militärischen Kräfte in Osteuropa Zeit gewinnen, seine Abwehrkräfte zu vermehren und der Krieg werde sich sehr verlängern. Daß die Eröffnung der Front vom »Nordkap bis zum Schwarzen Meer« die eigenen Kräfte weit überfordern und zur Wende dieses Krieges hinführen würde, schwante ihm nicht. Der Triumph im Osten schien auch den führenden deutschen Militärs in etwa einem knappen Vierteljahr erreichbar. Daran erinnern sich bis heute die wenigen Überlebenden des »Ostheeres«, des stärksten Aufgebots an Menschen und Kriegsmaterial, das die Kriegsgeschichte bis dahin kannte, wenn ihre im Winter 1941 auf 1942 erlittenen Erfrierungen jucken.

Mit diesem Feldzug begann sich ein Barbaren- und Mördertum auszutoben, das in der Geschichte neuzeitlicher Kriege ohne gleichen war und geblieben ist. Es gäbe dieser 60. Jahrestag des Überfalls den Deutschen, die Nachholbedarf in Sachen jüngerer Geschichte haben, Gelegenheit, die Tatsachen und Wahrheiten zur Kenntnis zu nehmen, die von der Rolle der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, der Formationen der Wehrmacht und der Polizei, der SS-Truppen, der zivilen Institutionen der Besatzungsverwaltung und nicht zuletzt auch von den Abgesandten deutscher Konzerne im eroberten Gebiet zeugen. Es wäre denkbar, daß die männlichen Deutschen, die inzwischen im Rentenalter sind, sich vergegenwärtigen, daß sie das Jahr 1945 als junge Burschen mit heiler Haut erlebten, weil der Sowjetarmee auf ihrem Vormarsch nach Berlin und zur Elbe ein Tempo auferlegt wurde, das sie vor der Einberufung zur Wehrmacht bewahrte. Den Zeitgenossen wie den Nachgeborenen gibt dieser Tag Denkstoff die Masse.

Doch die Anstrengungen des bürgerlichen Deutschland, gerade im Hinblick auf diesen Tag von allem Wesen der Sache weg und hin zu sekundären oder ganz abseitigen Fragen zu lenken, sind seit langem im Gange. Der Innenminister der Bundesregierung hat recht, wenn er kürzlich in der Gesellschaft Tendenzen zur Verblödung konstatierte. Wert besäße diese Alltagsbeobachtung jedoch erst, wenn die dafür Verantwortlichen beim Namen genannt würden. Zum Beispiel Redaktion und Autoren der Berliner Zeitung, die kürzlich die alte Mähre des Präventivkrieges sattelte und die Leser mit der Frage befaßte »Was Stalin wirklich wollte«. Natürlich die Weltherrschaft des Kommunismus. Daß der sowjetische Diktator 1941 blind daran glaubte, er könne sein Land weiter aus dem Kriege mit Deutschland heraushalten, daß er in diesem Irrglauben alle Warnungen ausschlug bis die Bomben auf belorussische Städte fielen, daß er zum Zwecke der Kriegsvermeidung den deutschen Faschisten seit dem August/September 1939 Zugeständnis auf Zugeständnis machte und dabei kein Prinzip sozialistischer Außenpolitik mehr gelten ließ - das ist in der Forschung längst nachgewiesen. Ebenso, daß im deutschen Generalstab des Heeres die Planungen des Überfalls durch Generale und Offiziere in dem Wissen geschah, daß von Osten keine Gefahr drohte. Aber: Was kümmert die Mehrheit deutscher Journalisten internationale geschichtswissenschaftliche Arbeit? Sie schert nicht einmal jene, die im jeder kommunistischer Sympathie unverdächtigen Militärgeschichtlichen Forschungsamt (früher Freiburg, nun Potsdam) geleistet wurde. Wieder einmal geht es um die Weißwäsche aller, die in den Kreisen des deutschen Militarismus und des Kapitals an diesem Krieg interessiert waren, ihn vorbereiteten, von ihm profitierten oder aus dem gedachten Sieg dauernden Nutzen zu ziehen gedachten. So wird eine zweite alte Mähre neu gesattelt und die Lüge von der Alleintäterschaft Hitlers verbreitet. Das liest sich so: Den Deutschen brachte die Niederlage »die schreckliche Gewißheit, allein wegen der Eitelkeit eines größenwahnsinnigen Diktators« in diesen Krieg geraten zu sein. Und nicht einmal der verfolgte Ziele, die außerhalb seiner Person lagen, denn es sei Hitler »vermutlich auch gar nicht so sehr um den Sieg, sondern mehr um einen episch inszenierten Weltuntergang« zu tun gewesen. Das kann angesichts der Dokumentenlage nur unverfroren genannt werden. Ein einziger Blick in die Geheimreden, die Hitler vor der Generalität hielt, und ein weiterer auf die Quellen, die von den fixierten Kriegszielen deutscher Konzerne zeugen, widerlegt das Geschwätz. Sie sprechen von realen Interessen unersättlicher imperialistischer Eroberer und deren Kenntnisnahme kann viel zum Verständnis der gegenwärtigen Welt der kapitalistischen »Moderne« beitragen. Und eben deshalb verliert keine Wette, wer darauf gesetzt hat, daß die Masse deutscher Zeitungen des heutigen Tages davon wieder schweigen und für die Verstärkung der Tendenz zur Verblödung sorgen werden.

Prof. Dr. Kurt Pätzold ist Historiker und lebt in Berlin

Aus: junge welt, 22. Juni 2001


In der Frankfurter Rundschau erschien am 22. Juni ein Artikel, in dem der anhaltenden Wirkung der nazistischen Propaganda vom angeblichen "Präventivkrieg" gegen Stalin nachgegangen wird. Der Beitrag stand unter der Überschrift "Wie Göring Verhungerte noch zu Helden machte - NS-Propaganda über den Präventivschlag wirkte nach"; der Autor ist Matthias Arning. Wir zitieren ein paar Passagen daraus:

... Ein Sieg im Namen der europäischen Zivilisation: Um den alten Kontinent vor einem "Ansturm der Barbaren" zu retten, so wollte es Hitler verstanden wissen, griff die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion an. ...

Die These vom Präventivkrieg wirkte, nicht zuletzt über die glorifizierenden Darstellungen der Schlacht um Stalingrad, auch im Nachkriegsdeutschland nach: Die Erinnerung an die Helden überlagerte die Niederlage - Rettern gleich hätten sich deutsche Soldaten der Roten Armee entgegengestellt. Deutschland habe sich, obwohl Stalin Pläne für einen Präventivschlag im Mai 1941 ausdrücklich missbilligte, allein der Alternative gegenüber gesehen - Unterwerfung oder Kampf.

Die These vom Präventivschlag, die sich "in der Nähe der Propagandaanweisungen" bewege, konstruiert nach Ansicht des Militärhistorikers Manfred Messerschmidt "eine aktuelle Bedrohung". Die Spitze des Militärs selbst sei allerdings gar nicht von einer akuten Bedrohung durch Stalins Truppen ausgegangen. Der Propaganda sei es darum gegangen, als Verteidigung auszugeben, was als Vernichtungskrieg geplant gewesen sei.

Die Wehrmacht, das machen Hannes Heer und Klaus Naumann deutlich, hatte es übernommen, "den Prolog des Vernichtungsprogramms" zu organisieren. Der Angriff auf die Sowjetunion markiert den Beginn von "Hitlers eigentlichem Krieg". Bis dahin ging bei den Angriffen auf Polen, Frankreich und skandinavische Länder noch das Konzept des Blitzkriegs auf. Die Wehrmacht, merkt Messerschmidt an, "ging mit der Gewissheit eigener Überlegenheit in den Krieg, ihre Pläne sahen einen Sieg nach wenigen Wochen vor".

Spätestens Stalingrad aber machte den Deutschen offensichtlich: Die Strategie funktionierte nicht mehr. Mit diesem Beharrungsvermögen der sowjetischen Truppen hatte niemand in Berlin gerechnet. Auch die Rüstungswirtschaft nicht. Seit dem Überfall stagnierte die Produktion. Das machte Hitler ausgesprochen unzufrieden. Er reagierte am 3. Dezember 1941 mit seinem "Führerbefehl über die Vereinfachung und Leistungssteigerung unserer Rüstungsproduktion". Eine Forcierung der Produktion jedoch, das zeichnete sich bereits ab, ließ sich nur schaffen, wenn sich das Regime über seine lange Zeit gehegten Bedenken gegen einen verstärkten Einsatz von "Fremdarbeitern", der der nationalsozialistischen Weltanschauung entgegen stehe, hinweg setzen würde. Noch vor der Schlacht um Stalingrad setzten die Nazis ein Programm der Zwangsarbeit in Gang, das sich vor allem auf zwangsrekrutierte Menschen aus Osteuropa stützte und ideologisch mit dem Motiv des Krieges korrespondierte - dem Rassenhass.

Wenn es um den Krieg geht, spielt mittlerweile der Mythos der Nibelungen keine Rolle mehr. Über Helden von Stalingrad spricht heute kaum mehr einer. Die Rede vom Krieg rückt inzwischen auch die Vernichtung der Juden und die Ausbeutung der Zwangsarbeiter in einen Zusammenhang. Den Machern der Wehrmachtsausstellung hielten manche noch entgegen, die Dokumentation der Verbrechen der Wehrmacht zeige nicht die ganze Wirklichkeit. Vielleicht, merkte dazu Jan Phillipp Reemtsma bei der Eröffnung der Ausstellung in Frankfurt am Main an, vielleicht stehe hinter dem Anwurf "auch die Angst, es könne einmal jemand die ganze Wirklichkeit zur Darstellung bringen".

Aus: Frankfurter Rundschau, 22.06.2001



Im Wortlaut:

Bundeskanzler Schröder

zum 60. Jahrestag des Angriffs Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941

Wir gedenken heute des Tages vor 60 Jahren, als deutsche Truppen in die damalige Sowjetunion einfielen. Wir erinnern uns an das unsagbare Leid, das im Zweiten Weltkrieg den Völkern der ehemaligen Sowjetunion zugefügt wurde. Wir verbeugen uns vor den Opfern dieses Krieges, den das verbrecherische Regime der National­sozialisten entfesselt hatte. Viele Millionen Männer, Frauen und Kinder sind diesem Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug zum Opfer gefallen. Millionen Soldaten auf beiden Seiten verloren ihr Leben.

Der Angriff vom 22. Juni 1941 war Ausdruck des rassenideologischen und macht­politischen Wahns. Deutschland selbst hat für Hitlers Griff nach der Weltherrschaft einen hohen Preis entrichten müssen. Nach zwölf Jahren des Mordens und der Gewaltherrschaft lag das Land in Ruinen. Millionen von Deutschen verloren ihre Heimat.

Der 22. Juni ist ein Tag der Erinnerung an Schrecken, Leid und Vernichtung. Ich weiß, dass auch in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion viele Menschen die Leiden der Kriegszeit nicht vergessen können.

Im Angesicht der Verbrechen, die im deutschen Namen und von deutscher Hand begangen wurden, treten wir allen Versuchen, menschenverachtende Ideologien, Gewalt und Rassenhass wieder aufleben zu lassen, mit allem Nachdruck und mit der ganzen Schärfe des Gesetzes entgegen.

Für uns gehören heute Frieden und Freiheit untrennbar zusammen. Dies ist eine der wichtigsten Lehren aus der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Ein Regime, das die Würde des Menschen verletzt und das Selbstbestimmungsrecht der Völker missachtet, stellt immer auch eine Bedrohung für den Frieden dar. Deutschland setzt sich daher mit ganzer Kraft für ein Europa der Demokratie, der Gerechtigkeit, der Zusammenarbeit und der guten Nachbarschaft ein.

Die Voraussetzungen für die Intensivierung der Beziehungen zwischen unseren Ländern und ihren Menschen sind heute günstiger denn je.

Deutschland wird den Staaten der ehemaligen Sowjetunion weiterhin bei ihren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformen zur Seite stehen. Wir streben einen gemeinsamen europäischen Raum der Werte, des Rechts, der Wirtschaft und der sozialen Sicherheit an, in dem lebendige Zivilgesellschaften die Teilhabe aller gewährleisten.

Ich bin zuversichtlich, dass die nachwachsenden Generationen in Deutschland und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion gemeinsam eine gute Zukunft gestalten werden. Zwischen unseren Staaten und Bürgern soll Freundschaft und dauerhafter Frieden herrschen. Das ist Aufgabe und Ziel unserer Politik zugleich.

Aus: Pressemitteilung der Bundesregierung Nr. 258/01 (21. Juni 2001).



In der taz kam ein Vertreter des vor 60 Jahren überfallenen und geschundenen Volks zu Wort. Wir zitieren aus dem Beitrag (Titel: "Mahnmal auch für Slawen") von Igor Maximytschew (er ist Deutschlandexperte im Europainstitut der russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau):

Wenn es ein Datum gibt, das im Gedächtnis aller Russen für immer eingemeißelt bleiben wird, so ist das der 22. Juni 1941. ...

Es täte gut, wenn man sich heute im Westen Mühe geben würde, sich zu vergegenwärtigen, was es für ein Volk bedeutet, einen Krieg durchgemacht zu haben, in dem das Land beinahe untergegangen wäre - in dem die Nazis vorhatten, das Land für deutsche Siedler von den dort lebenden Menschen einfach "frei" zu machen. Acht Millionen Sowjetsoldaten fielen, die Opfer in der Zivilbevölkerung beliefen sich auf mehr als 18 Millionen Menschen. Damit starben über 15 Prozent der gesamten Bevölkerung. Zudem wurde fast der ganze europäische, höher entwickelte Landesteil in eine trostlose Ruinenwüste verwandelt.

Es wäre unsinnig, die heutige Generation der Deutschen für etwas verantwortlich zu machen, was vor ihrer Geburt geschah. Doch um eine Wiederholung zu vermeiden, muss man sich ehrlich an das Geschehene erinnern. Das tut jedoch in Westeuropa und in Deutschland kaum jemand - es ist schon viel, wenn man sich der Tragödie des osteuropäischen Judentums besinnt. Das Drama der Slawen bleibt meist unerwähnt und somit fast unbekannt. ...

Dass man heute im Zentrum Berlins ein Holocaust-Mahnmal errichten will, ist richtig und gerecht, denn die Opfer des Nazismus dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Dies gilt allerdings für alle Opfer des Nazismus. Es wäre richtig und gerecht, in Berlin auch ein Mahnmal für ermordete Slawen zu errichten, deren Zahl die menschliche Vorstellungskraft nahezu übersteigt. Ein Platz für das Mahnmal wäre leicht zu finden - logischerweise sollte es im Tiergarten stehen, gegenüber dem sowjetischen Soldatenehrenmal für die Sieger, die in Berlin den von Hitlerdeutschland angefangenen Krieg beendeten. ...

Aus: taz, 22. Juni 2001

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