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Das Millionengeschäft

Geschichte. Schon vor dem Überfall auf Polen im September 1939 schmiedete das mit Hitler eng verbundene Groß- und Finanzkapital Kriegspläne. In der bürgerlichen Presse ist darüber nichts zu lesen

Von Winfried Wolf *

Das aktuelle Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkrieges wird dadurch getrübt, daß die Geschichte dieses gewaltigen Vernichtungsfeldzugs erheblich »verkürzt« und zunehmend revanchistisch dargestellt wird - und daß diejenigen, die für den Krieg in Wirklichkeit Verantwortung tragen, im dunkeln bleiben.

Die Geschichtsklitterung über den Kriegsbeginn am 1. September 1939 wird mit der gängigen Feststellung eröffnet, an diesem Tag habe auch der Krieg gegen die westlichen Verbündeten Polens, gegen Frankreich und Großbritannien, begonnen. Tatsächlich ließen beide Länder Polen im Stich. Sie erklärten zwar Deutschland den Krieg, verhielten sich jedoch vollkommen ruhig. Die US-Regierung erklärte sogar ausdrücklich ihre Neutralität im Krieg Deutschlands gegen Polen. Das Kalkül der Nazis ging auf, es kam nicht zum von ihnen gefürchteten Zweifrontenkrieg. Die großbürgerlichen Kreise in London und Paris hofften seit Jahren und auch zu diesem Zeitpunkt noch, daß sie den deutschen Aggressionskrieg ganz nach Osten - und auf die Sowjetunion - lenken könnten. Dieses Vorgehen hatte Kontinuität: Es gab keine ernsthaften Reaktionen von Frankreich, England oder den USA auf den 1933 beginnenden deutschen Aufrüstungskurs, auf den Einmarsch der Wehrmacht im entmilitarisierten Rheinland im Jahr 1936, keine wirksamen Reaktionen auf den »Anschluß« Österreichs 1938. Im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) blieben Frankreich und England neutral und gestatteten damit den Sieg der spanischen Faschisten, die von Berlin und Rom massiv unterstützt wurden. Vor allem gaben der britische Premier Arthur N. Chamberlain und der französische Ministerpräsident Edouard Daladier im September 1938 auf der Münchner Konferenz Hitler grünes Licht für den Einmarsch in die Tschechoslowakei.

Der »komische Krieg«

All das passierte vor dem Zweiten Weltkrieg. Und das Stillhalten von Frankreich und England sollte auch nach dem 1. September 1939 noch weitere zehn Monate währen. Nicht zufällig gab es damals in Frankreich für diese Art Krieg den Begriff »­drôle de guerre - der komische Krieg«. Nicht genug damit: In den Monaten des sowjetisch-finnischen Krieges, der in der Zeit vom 25. November 1939 bis zum 12. März 1940 geführt wurde, beschäftigte sich der französische Generalstab mit der Organisation von Militäroperationen gegen die UdSSR - im Norden Finnlands (geplantes Landeunternehmen in Petsamo) und im Süden (Plan einer per Luft beförderten Expedition nach Baku). Erst als am 10. Mai 1940 die Wehrmacht ihren Feldzug im Westen begann, zerstob in Paris und London die Hoffnung, die Naziaggression allein auf Moskau lenken zu können. Wenig später kontrollierten die Armeen Hitlers und Mussolinis einen großen Teil Europas. Sie hatten durch die riesigen Gebietsgewinne, durch den Zugriff auf erhebliche wirtschaftliche und finanzielle Ressourcen und durch die militärischen Erfolge - womit sie sich tatsächlich eine Massenunterstützung in der deutschen Bevölkerung verschafft hatten - strategische Vorteile errungen, die kaum wieder wettzumachen waren. Hinzu kam, daß es in Frankreich nach der Niederlage der französischen Armee zur Bildung einer Kollaborationsregierung unter Marschall Philippe Pétain kam, die von einem großen Teil des französischen Bürgertums getragen wurde. Dadurch konnte das Hitler-Regime ab Sommer 1941 einen großen Teil seiner Truppen auf den Angriff im Osten konzentrieren. Nach dem Sieg der Alliierten über das Naziregime kam es in Paris zu einem berühmten Treffen zwischen General Charles de Gaulle, dem politischen und militärischen Kopf der gegen die Nazis kämpfenden französischen Armee, und den führenden Repräsentanten des französischen Bürgertums. De Gaulles Worte damals: »Da sind Sie ja wieder! Aber wo, meine Herren, waren Sie während des Krieges?«[1]

Verantwortung der Bourgeoisie

Weit wichtiger ist bei den aktuellen Beiträgen über den Beginn des Zweiten Weltkrieges, daß Roß und Reiter nicht genannt werden. Da gab es Hitler und »die Deutschen«. Der Spiegel (35/2009) brachte dazu am 24. August eine zwölfseitige Titelgeschichte, überschrieben mit »Der Krieg der Deutschen - 1939: Als ein Volk die Welt überfiel«. Kein Wort zum Naziregime. Kein Bild von Hitler oder einer Hakenkreuzfahne auf dem Titel. Statt dessen wurden dort zwei mehr oder weniger bieder wirkende deutsche Landser vor dem Hintergrund eines brennenden Gehöfts abgebildet. Es waren also »die Deutschen« - just so wie Bundeskanzlerin Angela Merkel am 1. September 2009 in Gdansk sich für »die Deutschen und den Krieg« entschuldigte. Der Spiegel weiß auch zu berichten, daß »die Deutschen über die Siege der Wehrmacht jubelten«. Im übrigen habe man im Fall Polen irgendwie ein paar Koordinaten falsch berechnet - obgleich, so wird suggeriert, die Grundannahmen durchaus richtig gewesen seien. Das liest sich im Deutschen Nachrichten-Magazin wie folgt: »Adolf Hitler hatte sich (beim Überfall auf Polen - W. W.) verkalkuliert. Und mit ihm viele Deutschen, wie Historiker Overy [2] schreibt; sie hielten einen Angriff auf Polen 'für sinnvoll, um die offenen Fragen zu klären'.«

Welche offene Fragen? Der sogenannte Korridor durch Polen nach Ostpreußen? War es also eine an sich berechtigte »offene Frage«, wenn die Nazis einen freien Durchmarsch durch Polen nach Ostpreußen forderten? Geht es nur darum, daß dabei vielleicht versucht wurde, dieser Forderung mit den falschen Mitteln Nachdruck zu verleihen? So gesehen gibt es ja heute erneut »offene Fragen«. Die deutsche Regierung gründete im Jahr 2008 trotz erbitterter polnischer Proteste die Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung«. Die kommende Bundesregierung soll - immerhin nach dem Willen der beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD - in diesem Sinne in Bälde ein »sichtbares Zeichen« setzen - in Form eines Denkmals zum Thema Vertreibungen. Es wird ein »sichtbares Zeichen« der Relativierung der deutschen Kriegsschuld sein. Der deutsche Vernichtungskrieg gegen Menschen im Krieg und durch einen Krieg wird mit den Vertreibungen nach dem Krieg und wegen eines Krieges auf eine Stufe gestellt werden.

Gänzlich unerwähnt bleibt in nahezu allen aktuellen Beiträgen die entscheidende Verantwortung des deutschen Großbürgertums für diesen Krieg, also die Verantwortung derjenigen Konzerneigner und Banker, die sich als deutsche Elite verstanden, die auch im Ersten Weltkrieg die wirtschaftliche und politische Macht innehatten und die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Westdeutschland bzw. seit 1990 in Gesamtdeutschland weiterhin an den Schalthebeln der ökonomischen und politischen Macht saßen und sitzen. Inzwischen gibt es zwar Dutzende seriöse Konzerngeschichten - etwa über Daimler, über VW, über die Familie Quandt und BMW, über Kaufhof/Quelle -, die diese Zusammenhänge ausleuchten. Doch beim großen Thema der Gesamtverantwortung für den Zweiten Weltkrieg bleibt dieser Aspekt weitgehend ausgeklammert. Es gibt weiterhin »das Volk«, das in diesen Berichten zunehmend mit den Nazis verschmolz. So findet sich in dem bereits zitierten Spiegel-Artikel die folgende Ungeheurlichkeit: »In einer nur mäßig manipulierten Neuwahl des Reichstags sprachen sich am 29. März 1936 fast 99 Prozent der Wähler für die NSDAP aus.« Daß bei diesen Wahlen nur die NSDAP gewählt werden konnte, bleibt schlicht ausgeklammert.

Der Spiegel setzt noch eins drauf. Nicht nur bleibt die Verantwortung der deutschen großbürgerlichen Kreise für die Installation des Naziregimes und für den Zweiten Weltkrieg unerwähnt. Darüber hinaus wird ein großbürgerlichen Widerstand suggeriert. O-Ton Spiegel: »Eine kleine Gruppe, zu der auch (der Heeres-Generalstabschef - W. W.) Beck und (der zweite Mann im deutschen Außenministerium, Ernst von - W. W.) Weizsäcker zählten, planten sogar einen Putsch für den Fall eines Kriegsausbruchs.«

Großbürgerliche Unterstützung

Dazu kam es bekanntlich nicht. Vielmehr trugen alle großbürgerlichen Kräfte das NS-Regime von Anfang an, ja, sie brachten Hitler an die Macht und unterstützten die Diktatur bis zu ihrem Ende. Das hatte wenig mit ideologischen Aspekten zu tun, aber viel mit den konkreten Kriegszielen der Nazis, die sich mit den strategischen Zielsetzungen der deutschen Konzernbosse und Banker deckten. Adolf Hitler wurde im Januar 1933 Reichskanzler, weil er den Unternehmern und Bankern im wesentlichen drei Versprechen machte: Erstens die Arbeiterbewegung zu zerschlagen; zweitens die jüdische Bevölkerung auszuschalten; drittens aufzurüsten und Eroberungskriege zu führen. Und all das verhieß 1. Profit, 2. Profit und 3. Profit.

Dieses Programm wurde seit Anfang der 1920er Jahre und bis 1933 auf internen Treffen der NS-Führung mit Wirtschaftsbossen - zunächst mit einzelnen, dann mit Gruppen, die für das Großbürgertum repräsentativ waren, vorgetragen und konkretisiert.

Am 9. November 1923 gab es einen Putschversuch der Nazis in München. Dieser Akt wird gewöhnlich als die Tat einiger Durchgeknallter dargestellt - da marschierten ein gewisser Adolf Hitler und ein General Ludendorff mit ein paar anderen Leuten durch München - und wanderten prompt in den Knast. Tatsächlich gab es bereits damals - inmitten einer schweren politischen Krise mit einer vor allem im Ruhrgebiet starken KPD - enge Beziehungen zwischen Hitler und maßgeblichen Vertretern der Bourgeoisie. Hugo Stinnes, der damals mächtigste deutsche Großindustrielle, stand im engen Kontakt mit den Putschisten. Diese Verbindungen sind überzeugend in einem Telegramm festgehalten, das der US-amerikanische Botschafter am 21. September 1923, rund sechs Wochen vor dem Putschversuch in München, an das Außenministerium in ­Washington sandte. Darin heißt es: »Stinnes kam zu mir. Er sagte mir: 'Die Ruhr und das Rheinland müssen kapitulieren' - das war damals Einstellung des Ruhrkampfes - 'wenn Deutschland leben soll, muß die Erzeugung gesteigert werden; jedoch die deutsche Arbeiterschaft werde dies nicht von selbst einsehen. Sie müsse länger und schwerer arbeiten. (...) Er glaube jedoch nicht, daß die deutsche Arbeiterschaft dies freiwillig hinnehmen würde. Sie müsse daher dazu gezwungen werden. Deshalb, sagte er, muß ein Diktator gefunden werden, ausgestattet mit Macht, alles zu tun, was nötig ist. So ein Mann muß die Sprache des Volkes reden und selbst bürgerlich sein. Und so ein Mann stehe bereit. Eine große, von Bayern ausgehende Bewegung (...) sei nah.' Ich fragte ihn: 'Wie nah?' Und er sagte mir: 'Vielleicht zwei bis drei Wochen entfernt. (...) Der Bewegung, sagte er, würden sich alle Rechtsparteien anschließen und eine ansehnliche Gruppe gemäßigter Männer in der Mitte. Und sie würden in erster Linie den Kampf gegen den Kommunismus bedeuten, da der kommunistische Flügel die Arbeiter zur Opposition treibe'. Ich fragte ihn, ob die Industriellen sich mit der Bewegung vereinen würden. Stinnes erwiderte, daß sie das tun würden.«[3]

Dokumentiert sind auch Treffen, die es im Vorfeld des Putsches zwischen dem Generaldirektor von Hugo Stinnes, Friedrich Minoux, mit Ludendorff und Hitler gab. Minoux sollte im übrigen nach dem gelungenen Putsch Mitglied im Diktaturdirektorium werden. Dokumentiert ist schließlich, daß ein anderer maßgeblicher Großindustrieller, Fritz Thyssen, Ludendorff persönlich 100000 Reichsmark für das Putschunternehmen überreichte.

Bei dieser langfristigen Planung in großbürgerlichen Kreisen muß bedacht werden, daß die NSDAP damals eine Partei war, die bis 1928 im gesamten Reichsgebiet nie über einen Stimmenanteil von drei Prozent hinauskam - also ungefähr die Hälfte der Stimmen erhielt, die die NPD bei der jüngsten Landtagswahl in Sachsen - trotz vorausgegangener Stimmenverluste - erreichte.

Die These, es sei die Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 gewesen, die im deutschen Großbürgertum eine Wende hin zu Hitler ausgelöst hätten, ist demnach grundfalsch. Auch nach dem mißlungenen Putsch von München brachen die Kontakte zwischen großbürgerlichen Kreisen und den Nazis nicht ab. Im Gegenteil: Es läßt sich gerade auch für die Boomzeiten 1925 bis 1928 darlegen, daß sich damals die Beziehungen zwischen der ­NSDAP und den deutschen Wirtschaftsbossen intensivierten. Tatsächlich, so der Faschismusforscher Reinhard Opitz, wurde »der gescheiterte Putschist Hitler ab Anfang 1926 in den vornehmsten Industriellenkreisen, beginnend mit dem Hamburger Nationalclub und dann der Reihe nach in Hotels und Privathäusern der Ruhrindustrie zu exklusiven Vorträgen empfangen, um den Herren sein Programm darzulegen«.[4]

Sogar der konkrete Akt, wie Adolf Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler wurde, also der Vorgang, der irreführenderweise als »Machtergreifung« bezeichnet wird, wurde im Detail in großbürgerlichen Kreisen ausgehandelt. Dazu gab es am 4. Januar 1933 ein Treffen der Nazigrößen Hitler, Heß, Himmler und Keppler [5] in der Privatwohnung des Bankiers Kurt Freiherr von Schröder in Köln. Das Ergebnis des Treffens war die »prinzipielle Einigung« auf eine von Reichspräsident Paul von Hindenburg zu berufende Hitler-Papen-Regierung. Der Bankier von Schröder, der bereits seit 1931 in der NSDAP als interner wirtschaftspolitischer Berater aktiv war, berichtete über dieses Treffen ausführlich vor dem Nürnberger Internationalen Gerichtshof.[6]

Umsetzung des NS-Programms

Das derart langfristig mit den tatsächlich in Deutschland Mächtigen abgestimmte Programm der ­NSDAP wurde dann ab dem 30. Januar 1933 Punkt für Punkt abgearbeitet. Die Faschisten begannen 1933 mit der Umwandlung der deutschen Industrie - weg vom aktuell unprofitablen zivilen Bereich, hin zur Rüstung mit staatlich garantierten Profiten. Interessant ist das Beispiel der Autoindustrie - zum einen hinsichtlich des Aspekts, wie schnell eine solche Umwandlung erfolgen konnte, zum anderen hinsichtlich der führenden Rolle der Deutschen Bank dabei. BMW und Daimler gingen binnen weniger Monate vom Autobau zum Panzer- und Flugzeugbau über. Der Umbau der zwei Konzerne wurde dabei von der Deutschen Bank durch deren Vorstandsmitglied Emil Georg von Stauss geleitet. Die Deutsche Bank war damals Großaktionärin bei den beiden Fahrzeugbauunternehmen. Die Konzernleitungen waren auch unzweideutig darüber informiert, daß hier nicht eine Art keynesianische Wirtschaftspolitik, sondern daß Kriegsvorbereitungspolitik betrieben wurde. Am 8. Juli 1938, knapp 14 Monate vor Kriegsbeginn, hielt Hermann Göring, für die faschistische Luftwaffe verantwortlich, eine Geheimrede vor den führenden Vertretern der Luftfahrtindustrie; der BMW-Generaldirektor Franz Josef Popp und der Daimler-Benz-Generaldirektor Wilhelm Kissel waren anwesend. Göring kündigte den kommenden Krieg mit den Worten an: »Wir befinden uns jetzt im vollen Anlauf zur Mobilisierungskapazität und werden bis auf weiteres auf Jahre hinaus von dieser Mob.-Kapazität nicht abgehen können.«[7] Zu diesem Zeitpunkt hatten die neuen deutschen Waffen bereits einen zweijährigen Großtest bestanden - in Spanien, wo deutsche Flugzeuge mit Daimler- und BMW-Motoren die republikanischen Streitkräfte und die Zivilbevölkerung bombardierten.

Hier kann nicht das gesamte Ausmaß des engen Zusammenhangs zwischen den Kriegszielen der Nazis und den Profiten der deutschen Konzerne und Banken dargestellt werden. Exemplarisch dokumentiert werden soll jedoch das Beispiel des deutschen Überfalls auf Polen als konkretes Projekt auch der deutschen Wirtschaft. Es gab in Europa während des Weltkrieges das geflügelte Wort: »Nach dem ersten deutschen Tank kam sofort die Dresdner Bank«. So war es dann in der Tat auch beim deutschen Angriff auf Polen. Als die Luftwaffe am 1. September 1939 von ihrem ersten Einsatz über Warschau zurückkehrte, ging bereits eine 48seitige Broschüre der Dresdner Bank mit dem Titel »Volk und Wirtschaft im ehemaligen Polen« in Druck. In dieser hieß es: »Die vorliegenden Materialien (...) sind dazu bestimmt, unseren am Wirtschaftsverkehr mit dem Osten interessierten Geschäftsfreunden zur persönlichen Unterrichtung über die wirtschaftliche Struktur (...) des neuen deutschen Wirtschaftsraums zu dienen. Wie in unseren früheren Broschüren ähnlicher Art ('Volk und Wirtschaft im Sudetenland', 'Volk und Wirtschaft im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren und in der Slowakei') haben wir auch diesmal der textlichen Darstellung ein Verzeichnis der wichtigsten Industrieunternehmungen (...) beigefügt.«[8] Das Verzeichnis war in der Folgezeit Grundlage für Tausende »Arisierungen« - für den Raub von industriellem und finanziellem Vermögen durch deutsche Firmen. Auch die Konzentrationslager auf polnischem Gebiet waren eng mit wirtschaftlichen Interessen verknüpft. So finanzierte die Dresdner Bank als Hausbank der SS den Bau und Unterhalt der Konzentrations- und Vernichtungslager. Die Flugzeugindustrie, also auch BMW und Daimler, war abhängig von der Fertigung von Synthetikbenzin, das unter anderem im Konzentrationslager Monowitz bei Auschwitz mit bis zu 300000 Arbeitssklaven gewonnen wurde.

Polen und Afghanistan

Ohne Zweifel ist heute vieles anders. Doch es gibt auch beängstigende Parallelen. Es gibt eine tiefe Krise im Bereich der zivilen Fertigung. Gleichzeitig melden alle deutschen Rüstungsbetriebe - Rheinmetall, Krauss-Maffei, Diehl, Thyssen, EADS - einen Anstieg der Profite. Oft zeigt sich dieser Doppelcharakter von zivil und militärisch in ein- und demselben Konzern. Der zivile Bereich von Airbus/EADS wird derzeit voll von der Krise der zivilen Luftfahrt erfaßt. Gleichzeitig beschlossen die auftraggebenden europäischen Regierungen, den ebenfalls bei EADS gefertigten Militärtransporter A400M noch stärker als bisher geplant zu subventionieren.

Während Linke und Ökologen die Konver­sion zu nachhaltiger Industrie fordern, wird also vielfach längst wieder der Wechsel zu mehr Rüstung betrieben. Afghanistan ist nicht nur ein politischer Test, was bereits wieder machbar ist. Das Land dient auch als Testgebiet für neue deutsche Waffen: für EADS-»Kampfdrohnen« und demnächst für den neuen »kettengetriebenen Panzermörser Wiesel 2«, gefertigt vom Rüstungskonzern Rheinmetall. In Afghanistan wird die Bundeswehr - die 1999 in Jugoslawien ihren ersten Großeinsatz in der Luft hatte - erstmals am Boden als Angriffsarmee eingesetzt. In einem Bericht in der Financial Times Deutschland vom 18. Juni 2009 zur Lage vor Ort wird Hans-Christoph Grohmann, der Anführer der Schnellen Eingreiftruppe, bei der Vorstellung eines Bundeswehroffiziers mit den Worten zitiert: »Das ist der erste (deutsche - W. W.) Oberleutnant, der nach 1945 eine Infanteriekompanie im Angriff geführt hat.«

Erfolgreich getestet wird auch der Zusammenhang zwischen sozialer Krise und Kriegsbereitschaft: 62 Prozent der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan stammen aus den neuen Bundesländern: In den Regionen, wo die Arbeitslosenquote doppelt so hoch wie in Westdeutschland ist, melden sich - gemessen an der gesamten Bevölkerung - fast dreimal mehr Soldaten zu Kampfeinsätzen als im übrigen Bundesgebiet. Das fortschrittliche katholische Blatt Publik Forum (15/2009) rechnete nüchtern vor: »Bei vier Monaten (Afghanistan-Einsatz - W. W.) macht das mehr als 13000 Euro zusätzlich (zum Grundsold - W. W.).«

Wichtig ist, was bisher nicht erreicht wurde: Eine Zustimmung in der Bevölkerung zur Militarisierungspolitik. Im Gegenteil: 2007 forderten 55 Prozent der deutschen Bevölkerung einen »möglichst schnellen Rückzug« aus Afghanistan. Im Juli 2009 waren es 69 Prozent.

Wie pragmatisch für die Kapitalisten die Frage zivile Fertigung oder militärische Produktion ist, verdeutlichte Hermann Göring in der bereits zitierten Rede vor den Führungsleuten der Auto- und Flugzeugindustrie. »Deshalb möchte ich nochmals die innige Bitte an Sie richten, meine Herren: Fühlen Sie sich als Industrie, die (...) mit der Luftwaffe bis ins Letzte verbunden ist. (...) Was bedeutet Ihr Werk gegenüber der Nation? Was bedeutet das alles, wenn Sie eines Tages statt Flugzeuge Nachttöpfe machen! Das ist ja einerlei.«

Anmerkungen
  1. Zitiert bei Jean Elleinstein, Geschichte des Stalinismus, Berlin 1977 (VSA), S. 137
  2. Gemeint ist der britische Historiker Richard Overy
  3. Dokumentiert bei Reinhard Opitz, Liberalismus - Faschismus - Integration, Band II: Faschismus, Marburg 1999, S. 231 f.
  4. Ebd., S. 232
  5. Die Rede ist vom Beauftragten für Wirtschaftsfragen Wilhelm Keppler
  6. Ein ausführlicher Bericht über den Zusammenhang zwischen dem 4.1.1933 und dem 30.1.1933 findet sich bei Reinhard Opitz, a.a.O., S. 264 ff.
  7. Wiedergegeben im OMGUS-Report der Militärregierung der Vereinigten Staaten für Deutschland »Ermittlungen gegen die Deutsche Bank«, Nördlingen 1985, S. 149
  8. OMGUS-Report ... »Ermittlungen gegen die Dresdner Bank«, Nördlingen 1986, S. 125
* Aus: junge Welt, 3. September 2009


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