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Die Konfliktformationen im Nahen und Mittleren Osten und die Rolle der Europäischen Union am Beginn des 21. Jahrhunderts

Ein Beitrag zur zivilen Konfliktbearbeitung

Von Johan Galtung*

Meine Ausgangsthese ist, dass die Europäische Union heute zwei außerordentliche Möglichkeiten hat, sich für den Frieden einzusetzen. Ich bin nicht überzeugt, dass sie diese Möglichkeiten nützen wird, aber ich werde sehr konkret und konstruktiv andeuten, über welche Möglichkeiten die EU verfügt. Ich spreche über die beiden wichtigsten aktuellen Konflikte: jenen, der gewöhnlicherweise als israelisch-palästinensischer Konflikt bezeichnet wird und den anderen könnten wir als Konflikt zwischen den USA und dem Islam bezeichnen. Eine andere Bezeichnungsmöglichkeit wäre auch Terrorismus - Staatsterrorismus.

Also zuerst Israel - Palästina: Ich werde keine Gewaltszenen beschreiben - die sind bekannt - und ich werde keine Kritik ausüben, sondern ich werde hier ein Bild von einer möglichen Lösung zeichnen. Ich bin überzeugt, dass es niemals eine bilaterale Lösung zwischen Israel und Palästina geben wird. Dafür haben wir 54 Jahre Beweise gesammelt, ich brauche nicht mehr. Die Idee, dass sich die Konfliktparteien zu Verhandlungen an meinen Tisch setzen dürfen, finde ich einfach lächerlich. Das Territorium ist zu klein, es gibt zu viel Hass pro m2, es gibt zu viel auserwählte Völker pro km2, es gibt zu viel Geschichte pro Stein und es gibt keine Möglichkeit den Konflikt bilateral zu lösen. Dies impliziert, es könnte eine multilaterale Möglichkeit geben. Diese multilaterale Möglichkeit habe ich sehr häufig mit Palästinensern und mit Israelis auch in anderen Staaten diskutiert. Die multilaterale Lösung wäre eine Nahost-Gemeinschaft - a Middle East Community. Es gab einmal ein problematisches Land in Zentraleuropa namens Deutschland. Ich bin überzeugt, dass das "Problem Deutschland" nur bilateral - zwischen Frankreich und Deutschland - nicht zu lösen war. Die von den Franzosen angedeutete und gefundene Lösung war brillant - die Europäische Gemeinschaft ist ein wunderbares Stück Friedensarbeit. Die fünf Nachbarländer - Benelux, Frankreich und Italien - haben entschieden, das scheinbar fast hoffnungslose Deutschland in die Familie aufzunehmen. Man hat Deutschland ungefähr das Folgende gesagt: die nächsten 20 Jahre redest du nicht zu viel und du wirst auch die Rechnungen zahlen. Das hat funktioniert. Ich spreche nicht von der Europäischen Union, das ist eine andere Sache, das ist eine kommende Supermacht, die vielleicht schon eine ist. Aber ich spreche von der Europäischen Gemeinschaft als Modell. Es gibt zwei andere Modelle: die nordische Gemeinschaft und die südostasiatische Gemeinschaft. Diese Modelle funktionieren, sind nicht Vermittler, sondern sind Modelle für den Frieden (das ist nicht die selbe Sache). Ein Vermittler kommt gewöhnlicherweise mit einem Instrumentarium von zwei oder drei Instrumenten: Gelder für Korruption, Ideen - ein oder zwei vielleicht - und dann Bomben. Ich würde sagen, dass der beste Vermittler auf die Methoden 1 und 3 verzichtet. Aber das ist nicht, worüber ich rede. Ich rede über Modelle. Die arabischen Länder Syrien, Libanon und Palästina fungieren demnach als Benelux. In der Rolle von Italien ist Jordanien und in der Rolle von Frankreich findet sich Ägypten. Dass es viel Hass gibt, wissen wir, aber es gab auch 1945 eine Menge Hass. Es gab genügend Hass für Generationen, pro Einwohner und pro m2. Man hat eine multilaterale Lösung gefunden.

Wenn ich darüber im Nahen Osten Dialoge führe - und ich kann es sogar ohne Dialog - und ich z. B. Journalisten aus Israel, Ägypten, Jordanien und Palästina an einem Tisch versammle, stelle ich den lieben Journalisten die Aufgabe, wie der Nahe Osten aussehen soll, in dem sie gerne leben möchten. Ich habe das mehrmals getan und es kommt immer dasselbe Ergebnis: ein Traum von einer Nah-Ost-Gemeinschaft. Die kennen sich aus und die meisten wissen, dass es bilateral nicht mehr geht. Ich finde, dass die israelische Friedensbewegung leider viel zu bilateral orientiert ist. Sie macht - meines Erachtens - genau den selben Fehler wie Washington. Die Europäische Union ist ein wenig weniger bilateral. Das Osloer Modell war hoffnungslos bilateral und war vom ersten Moment zum Tode verurteilt, aber das ist eine andere Sache.

Was kann die Europäische Union tun? Nicht die Vermittlerrolle, sondern die Modellrolle spielen. Man bietet ganz einfach die offene Tür zu den Archiven an. Man sagt: so haben wir es geschafft. Es kommen dann drei Modelle in Frage: die nordische Gemeinschaft, die ASEAN-Gemeinschaft und die Europäische Gemeinschaft. Das, was zwischen 1945 und Jänner 1958 (Römer Verträge) in Gang gesetzt worden ist, ist von zentraler Bedeutung. Was heute in der Europäischen Union vor sich geht, ist unwichtig und könnte auch negativ sein. Ich glaube nicht, dass die Gefahr besteht, dass es im Nahen Osten eine Nah-Ost-Union geben wird. Wo sind die Amis? Die sind aus zwei Gründen nicht da: Erstens ist es unbekannt, dass die Vereinigten Staaten ein Teil dieser Gemeinschaft sind. Wie ich es verstanden habe - wenn ich mir die Karte ansehe - liegen die Vereinigten Staaten anderswo. Zweitens sind die Vereinigten Staaten als Modell ungeeignet. Die 13 Kolonien hatten als Modellparameter einen gemeinsamen Feind: Das war King George III.

Wir gehen zu Nummer zwei: das ist ein Riesenkonflikt. Was hier angedeutet ist, sind drei Diskurse und ich werde etwas über alle Diskurse und über die Diagnose sagen. Eine Unmenge von Dialogen in allen möglichen Ländern hat mir gezeigt und ich meine, dass wir zwei Fundamentalismen haben und etwas, das rationell ist. Und ich möchte gerne die Europäische Union auf dieser Linie sehen. Wir werden Fundamentalismus nicht mit Islam verwechseln, sondern als Wahhabismus verstehen. Ohne die Lehre von Abd al-Wahhab (1703 - 1782) können wir es nicht verstehen. Ich finde es scheußlich, grausam, faschistoid, es ist so fundamentalistisch: auserwähltes Volk, auserwähltes Land, Trauma, Gloria, Dualismus, Monotheismus und Armageddon. Wie leicht man andere töten kann. Das ist alles da.

Auf der anderen Seite haben wird den Puritanismus der Vereinigten Staaten. Ich finde es grausam, faschistoid, antihuman und fundamentalistisch: das Jahr 1620, das auserwählte Volk, das versprochene Land, Trauma, Gloria, Dualismus, Monotheismus und Armageddon. Wie leicht es ist, den Gegner zu töten. Selbstgerechtigkeit bis zum Unendlichen.

Ich möchte gerne etwas gegen die deutsche Friedensforschung sagen. Die deutsche Friedensforschung hat eine unglaubliche Asymmetrie produziert: immer über Feindbilder ohne über Selbstbilder zu reden. Das Selbstbild - das Freundbild - ist noch wichtiger. Und das Vokabel ist nicht Dehumanisierung, sondern Satanisierung.

Wenn es nur wäre, dass man sich humanisiert, wäre es kein Problem. Es fängt dann an, wenn man Repräsentant Allahs und Gottes ist. Genau dort sind wir. Das sind vielleicht 1 % vom Islam und 1 % vom Christentum. Der Wahhabismus ist die Staatsreligion Saudi Arabiens. Puritanismus ist etwas viel wichtigeres für die Vereinigten Staaten. Die Amerikaner nennen dies Civic Religion. Staatsreligion kommt von oben und Civic Religion kommt von unten. Diese Civic Religion ist besonders populär in einer Gemeinde des amerikanischen Protestantismus: Southern Baptism. Southern Baptism hat eine Verdichtung in Texas. Da gab es einmal einen Gouverneur, der sehr leicht mit Exekutionen umging. Er ist heute ein ungewählter Präsident - vom Obersten Gerichtshof mit fünf gegen vier Stimmen ernannt.

Ich sage und mache damit eine Vorhersage, dass es für die Vereinigten Staaten sehr nützlich sein wird, in ein oder zwei Jahren zu betonen, dass er niemals gewählt wurde. Ich glaube seine politische Lebenserwartung ist geringer als sein Können. Er ist eine Artikulation von einem Fundamentalismus. Was er macht, ist so eindeutig anti-human, anti-Erde und anti-Welt.

Wo steht die Europäische Union? Wir wissen, wo sie steht: verwirrt und ohne Stellungnahme. Es gibt einige Mitgliedsländer, die Amerika als Gott betrachten, Amerika als Stellvertreter des lieben Gottes. Davon ist Deutschland das Mitgliedsland Nummer 1. Man würde deswegen erwarten, dass, wenn es Probleme bei Gott zu Hause gibt, das Land "da unten" eine Erklärung der "uneingeschränkten Solidarität" abgibt. Uneingeschränkte Solidarität ist nur religiös zu verstehen. Das ist eine theologische Stellungnahme, nicht eine politische. Uneingeschränkte Solidarität zeigt man nur, wenn es ein theologisches Element gibt.

Das andere Land ist auch ein Land, das gesündigt hat: die Sünde heißt Nazismus und Faschismus. Die haben auch Amerika als Gott. Italien hat niemals in der Geschichte irgendwelche Sachen ernst genommen. Deswegen gibt es eigentlich kein Problem, weil sie immer bereit sind, eine kleine Wende zu machen. Das machen sie mit Talent und mit Fanfaren, deswegen haben sie unter anderem Militärmusik. Ich sage dies nur, weil es zwei Probleme in der Europäischen Union gibt: Deutschland und Spanien. England ist etwas ganz anderes. Das ist nicht theologisch. Ihre These ist nicht, dass sie vom lieben Gott auserwählt wurden, sondern von den Vereinigten Staaten. Die Vereinigten Staaten sind von Gott auserwählt und dann gibt es Auserwähltsein zweiten Ranges. Noch könnte die Europäische Union etwas tun: Abstandnahme. Dass man ganz einfach sagt, das geht nicht - auch wenn es nicht einstimmig ist. Die Gelegenheit besteht jetzt im Falle von Irak. Ich kann sagen, was dahinter steckt: Die Individualisierung einer Persönlichkeit als Satan. Aber ich glaube auch, dass die Vereinigten Staaten von Saudi Arabien rausgeworfen worden sind und deswegen den Irak als Substitut brauchen. Es ist selbstverständlich auch ein Bündnis zwischen Israel und den USA. Sharon wird einen Krieg gegen den Irak ausnützen.

Ich möchte nur eine Zusatzsache dazu sagen, nämlich die folgende: von Robert McNamara stammt die These, dass die USA nur mit Bündnisländern aktiv werden. Sie brauchen das zur Legitimierung. Ich bin ein Leser von "Military Review" der Armee der Vereinigten Staaten und ich finde, das ist eine sehr interessante Zeitschrift, die die Friedensbewegung lesen müsste, wenn sie gerne verstehen möchte, wie gedacht wird. Wenn man die Legitimität durch eine Ablehnung der Bündnispartner reduziert, wäre das der einzige Schritt, der Eindruck machen würde. Die Friedensbewegung kann Demonstrationen mit 10 Millionen Menschen im Central Park machen - nicht nur 1 Million wie 1982 - das wird überhaupt keinen Eindruck machen. Die Spitze der Vereinigten Staaten ist daran völlig uninteressiert. Sie ist nur an einer Sache interessiert: Regierungen. Die Verhandlungen sind immer geheim, weil es hier eine Mischung von Bomben und Korruptionsgeldern gibt.

Also stellt sich die Frage, was man dann macht. Dann bietet man den islamischen Ländern Respekt und Dialog an. Man fragt den Irak, was eigentlich das Problem sei. Der Irak hat fünf bis sechs ganz präzise Punkte, die so ungefähr die selben sind wie 1990. Man hat nichts damit getan. Diese sind wichtig und alle verhandelbar. Im Herbst 1990 haben sie vier Mal versucht, mit Washington zu verhandeln und vier Mal wurde ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen. Der Krieg war schon entschieden. Was macht man mit dem Iran? Dialog. Khatami hat die Einladung gemacht. Was macht man mit Afghanistan? Man fragt die Vereinigten Staaten, ob sie verrückt sind. Die einzigen Sachen, die für die USA interessant sind, sind Öl und Militärbasen, so die These der Al-Quaida und der Taliban über die USA. Deswegen haben sie zwei Gebäude enthauptet. Meine Interpretation ist, dass das, was sie getan haben, ist "to bring justice to America". Ich glaube, es war eine Exekution von zwei Gebäuden und man kann es nur theologisch verstehen. Ich habe nicht damit gesagt, dass das alles ist, was man darüber sagen kann, sondern ich meine, dass es ein Hauptteil ist. Der Erfolg des Krieges brachte eine riesige Militärbasis südlich von Kandahar und einen zwischen Turkmenistan, Afghanistan und Pakistan verhandelten und am 30. Mai 2002 in Islamabad unterschriebenen Vertrag über eine Ölleitung - ich war zufälligerweise da. Man hat das Wahnsinnigste getan, was man tun kann: nämlich die These des Gegners zu bestätigen.

Also sagen wir ganz einfach: Basen raus, was es an Öl gibt, ist für das afghanische Volk. Und man bietet Afghanistan das Folgende an - ich bin zwei Mal Vermittler dort gewesen: eine Kombination aus einer Friedenstruppe des Sicherheitsrats und der Organization of Islamic Conference (OIC).

Ich muss sagen, das Bewusstsein über folgende elementare Sache ist leider sehr gering: Die bewährten Mächte des Sicherheitsrates sind vier christliche Länder und ein konfuzianisches. Es gibt 56 islamische Länder auf der Erde. Und in den Vereinten Nationen gibt es für die islamischen Länder keine Stimmen als ständige Mitglieder im Sicherheitsrat. Wie wäre es, wenn es im Sicherheitsrat vier islamische Länder und ein konfuzianisches gäbe? Würden wir noch Mitglieder sein? Ich glaube nicht. Diesen Wahnsinn muss man ganz einfach verstehen und beseitigen.

Eine Vermittlerrolle zwischen OIC und Sicherheitsrat wäre schon eine sehr wichtige Sache für die Europäische Union. Es gibt sehr viel mehr Sachen zu tun. Ich sage, dass diese Gelegenheit nur selten kommt. Es gibt viele Gründe, warum es leider unwahrscheinlich ist, dass es dazu kommen wird. Es wird kein Konsens erreicht und man wird nicht mit einer Stimme sprechen. Die Engländer, die Spanier und die Deutschen werden dagegen sein. Die Spanier und die Deutschen aus dem selben Grund und die Engländer aus einem anderen Grund. Wenn es also keine gemeinsame EU-Politik gibt, könnte es doch eine Politik der anderen zwölf sein. Man hat ein Problem und kann dieses Problem benutzen, um nichts zu tun. Das ist eine alte Methode.

* Dieser Beitrag stammt aus 'Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (Hrsg), Projektleitung Thomas Roithner: Europa Macht Frieden. Die Rolle Österreichs, Dialog 42 - Beiträge zur Friedensforschung, Agenda Verlag, Münster 2003


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