Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Kleine Maßnahmen helfen nicht"

Mojib Latif über Klimawandel, träge Politiker, falsche Vorhersagen Atomenergie und seinen Glauben an die Menschheit *

Deutschlands bekanntester Klimaforscher Prof. Dr. Mojib Latif wurde 1954 als Sohn eines Pakistan-stämmigen Imam in Hamburg geboren. Nach dem Studium promovierte (1987) und habilitatierte (1989) er innerhalb von zwei Jahren in Ozeanographie. Heute arbeitet der verheiratete Familienvater am Leibniz-Institut für Meereswissenschaften in Kiel. Mit ihm sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Alexander Kuffner.

ND: Herr Latif, vor zwei Jahren haben Sie vorausberechnet, die Klimaerwärmung werde in den nächsten zehn Jahren eine Pause einlegen. 2010 hatten wir das heißeste erste Halbjahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, wie geht das zusammen?

Latif: Da muss man erst einmal abwarten. Meine Kollegen und ich haben diese Vorhersage für den Temperatur-Mittelwert der Jahre von 2006 bis 2015 gewagt. Also wird sich erst 2015 zeigen, ob der Mittelwert der vergangenen zehn Jahre wärmer war als der von 1996 bis 2005 oder nicht. Ganz davon abgesehen bedeutet unsere Vorhersage ja auch nicht, dass der Klimawandel nicht mehr existiert. Eine natürliche Schwankung maskiert ihn lediglich ein wenig, wir befinden uns aber immer noch auf hohem Niveau. Man darf nicht glauben, dass es von Jahr zu Jahr immer wärmer wird. Den Wandel kann man nur an langen Zeitperioden klar ablesen. Kurzfristige Schwankungen nach unten oder nach oben sind ganz normal.

Nicht alle Prognosen treffen ein. So sagten Sie zum Beispiel 1997 für das folgende Jahrzehnt kalte Winter voraus, die ausblieben. Beeinträchtigt so etwas Ihre Glaubwürdigkeit als Klimaforscher?

Wissen Sie, auf der einen Seite haben wir die globale Erwärmung. Die vorherzusagen ist relativ simpel, fast trivial. Wenn mehr Treibhausgase in die Atmosphäre gelangen, wird es eben wärmer. Das ist genauso einfach wie die Vorhersage, dass es bei uns im Winter kälter ist als im Sommer, weil die Sonne dann in einem anderen Winkel scheint. Was für uns Forscher richtig interessant und wissenschaftlich viel anspruchsvoller ist: natürliche Klimaschwankungen im Detail vorherzusagen. Wie wird das Klima des nächsten Jahres, ja des nächsten Jahrzehnts genau aussehen? An solche Vorhersagen wagen wir uns seit kurzem so langsam heran. Sicher – da kann der Schuss dann auch mal nach hinten losgehen. Aber wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass solche Aussagen überhaupt keine Relevanz für die langfristige Klimaentwicklung haben. Und das zu vermitteln ist wirklich schwierig. Dann kommen die Leute schnell mit der Meinung »Wenn ihr noch nicht einmal das nächste Jahr richtig vorhersagen könnt, was wollt ihr uns dann über den Klimawandel in 100 Jahren erzählen?« Dabei sind das zwei fundamental andere Arten von Vorhersagen.

Momentan lautet das Ziel, nicht über zwei Grad Erwärmung bis zum Jahr 2100 hinauszukommen. Selbst wenn dies gelingen sollte, womit müssen wir rechnen?

Das wird weltweit – abhängig von den verschiedenen Regionen – natürlich sehr unterschiedlich sein. Nehmen wir daher einfach Deutschland als Beispiel. Im Prinzip können Sie alle Tendenzen, die jetzt schon zu sehen sind, für die Zukunft fortschreiben. Wir werden mehr Trockenheit und Hitze im Sommer zu verzeichnen haben. Wenn es aber regnet, dann oft wie aus Kübeln mit starken Gewittern und Tornados. Die Winter hingegen werden immer milder, immer weniger Schnee und Eis.

Und wenn wir es nicht schaffen und es statt dessen global vier Grad wärmer wird?

Eine solche Erwärmung wäre katastrophal und würde sehr viele Folgen nach sich ziehen, die man sich heute kaum vorstellen kann. Beispielsweise hätte man in Regionen, die weit weg vom Meer liegen, wie etwa große Teile Russlands, maximale Sommertemperaturen von 50 °C zu erwarten. Auch in Süd- und Ostdeutschland könnten wir dann in Extremfällen an diese Marke herankommen. Die Arktis wäre im Sommer komplett eisfrei. Im polaren Winter würde sich das Packeis natürlich neu bilden. Grönlands Eispanzer würde rasant schmelzen, durch den Anstieg des Meeresspiegels wären einige Inselstaaten dem Untergang geweiht.

Dann gibt es da noch andere Auswirkungen, über die wir gerade erst anfangen nachzudenken. Zum Beispiel wie die Meere davon betroffen sein würden. Das CO2, welches wir ausstoßen, wird ja auch von den Ozeanen aufgenommen und führt zu einer Versauerung der Weltmeere. Das kann unabsehbare Folgen für das Leben im Meer bedeuten – und damit auch für die Nahrungsmittelverfügbarkeit.

Der Ausstoß von Treibhausgasen müsste innerhalb von 90 Jahren um 90 Prozent reduziert werden, um die Erwärmung auf zwei Grad zu begrenzen. Wie kann das gelingen?

Es geht nur durch einen Strukturwandel, kleine Maßnahmen helfen nicht mehr. Wir müssen weg von den fossilen Energien und hin zu erneuerbaren Energien. Dieser Wandel muss klipp und klar bis zum Ende des Jahrhunderts geschafft sein – und zwar weltweit. Aber im Prinzip haben wir auch noch genügend Zeit dafür. Erinnern wir uns doch nur an die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten, den Beginn der Fliegerei. Das liegt ähnlich lange zurück und was für einen technischen Fortschritt haben wir seitdem geschafft! Und mit der Entwicklung der erneuerbaren Energien sind wir heute schon viel weiter als die Flugzeugbauer damals.

Die meisten Regierungen tun sich schwer mit diesem Thema ...

Die Energiekonzerne stehen der Entwicklung einfach im Weg. Es wird nach wie vor auf Kohle und Atomkraft gesetzt und ein enormer Druck auf die Politik ausgeübt. Gewinnmaximierung steht an vorderster Stelle. Das weiß jeder, aber keiner wagt es so richtig auszusprechen. Das Problem ist, dass die Konzerne extrem gute politische Verbindungen haben. Schauen Sie sich die Lobbyisten der Energiewirtschaft oder der Automobilindustrie an: Es sind oft ehemalige Spitzenpolitiker mit direktem Draht zum Kanzleramt. Es geht also auch um Machterhalt und um Geld. Da muss ein Umdenken stattfinden, die Politik muss wieder das Heft des Handelns in die Hand nehmen und das global.

Wie stehen Sie als Klimaforscher zur Atomenergie? Wäre dies nicht Teil einer kurzfristigen Lösung?

Nein, das sehe ich nicht. Man muss das Klimaproblem global und langfristig betrachten: Die Atomkraft trägt nur mit einem Bruchteil zur weltweiten Energiegewinnung bei. Selbst wenn man die Zahl der Atomkraftwerke verdoppeln würde, hätte dies keine signifikanten Auswirkungen auf den globalen CO2-Ausstoß. Im Gegenteil, die Probleme würden überwiegen, denn die Problematik des Atommülls ist schließlich noch nicht gelöst, eine Lösung auch nicht in Sicht. Das Hauptargument gegen die Atomkraft ist für mich aber, dass wir den Strukturwandel verzögern. Wir müssen in erster Linie auf die regenerativen Energien setzen, damit wir unsere langfristigen Reduktionsziele erreichen. Die Technologie von gestern hat uns in eine Sackgasse geführt. Mit ihr lösen wir nicht die gewaltigen Probleme, vor denen wir stehen.

Wie sensibilisiert man den einzelnen Menschen für das Thema Klimaerwärmung?

Es ist ja leider so, dass der Mensch selten etwas Gutes umsonst tut, sondern auch immer einen Gewinn erzielen möchte. Daher muss man die Leute davon überzeugen, dass Klimaschutz nicht Verzicht, sondern einen Gewinn an Lebensqualität bedeutet. Machen wir es einmal konkret und nehmen als ein Beispiel von vielen das Auto. Selbst wenn man kein Elektroauto kauft, sondern beim Verbrennungsmotor bleibt, kann man einiges tun. Allein durch vorsichtigeres Gasgeben spart man im Schnitt einen Liter auf 100 Kilometer. Bei einer durchschnittlichen Jahresfahrleistung von 20 000 Kilometern spart das im Jahr 200 Liter, also momentan knapp 300 Euro. Man erleidet keinen Nachteil, belastet die Umwelt weniger, hat eine Menge Geld gespart.

Oder man achtet einfach darauf, dass nur in den Räumen Licht brennt, die man auch nutzt, oder dass Stand-by-Geräte ausgeschaltet sind. Man darf sich auch fragen, ob es in jedem Jahr eine Fernreise mit dem Flugzeug sein muss, oder ob es nicht auch mal an Deutschlands Küsten oder in die Nachbarländer gehen kann. Viele kleine Dinge, die alle zusammengenommen schon etwas helfen und darüber hinaus dem Einzelnen Geld sparen. So muss man an die Leute herangehen. Natürlich soll man ihnen auch einfach ein gutes Gefühl vermitteln, denn Umweltschutz ist etwas Gutes und kommt vor allem direkt nachfolgenden Generationen zugute, also den eigenen Kindern und Enkeln.

Glauben Sie wirklich, dass der Klimawandel aufzuhalten ist?

Ja und Nein. Das Klima ist träge und wir werden es nicht schaffen, die globalen Emissionen von heute auf morgen zu reduzieren. Aber ich hoffe einfach, dass die ganz extremen Änderungen noch zu vermeiden sind. Hin und wieder sind doch schier unmögliche Dinge möglich, ich denke da beispielsweise an den Fall des eisernen Vorhangs. Vom drohenden Dritten Weltkrieg bis zur Wiedervereinigung Deutschlands sind keine 30 Jahre vergangen. Wenn die Zeit reif ist, passieren einfach Dinge, an die man vorher nie geglaubt hätte. Immer mehr Menschen und neue Politikergenerationen werden in Zukunft erkennen, dass es so nicht weitergehen kann.

* Aus: Neues Deutschland, 7. September 2010


Zurück zur "Klima"-Seite

Zurück zur Homepage