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"Glückselig sind, die Mut zur Gewaltlosigkeit zeigen"

Evangelischer Kirchentag: Auszüge aus der Predigt der "Königin der Herzen", Margot Käßmann, sowie weitere Beiträge


Mit einem Appell zu mehr Bürgerbeteiligung ging am Sonntag (5. Juni) der 33. Deutsche Evangelische Kirchentag in Dresden zu Ende. Kirchentagspräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) forderte eine stärkere Beteiligung der Menschen an wichtigen Entscheidungen. »Wir wollen keine Von-Oben-Politik, sondern sind die Dafür-Republik«, sagte die Bundestagsvizepräsidentin und verlangte offene Diskussionen etwa über Großprojekte, die künftige Energieversorgung und das Gesundheitssystem. Bereits am Samstag (4. Juni) sprach sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor 5000 Besuchern für eine neue eigenständige UNO-Umweltorganisation aus.

Andere Akzente setzte die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann (laut Augsburger Allgemeiner die "Königin der Herzen", Kölner Stadtanzeiger: "Starpredigerin"), als sie nicht nur ihren ablehnenden Standpunkt zum Afghanistankrieg ("Nichts ist gut in Afghanistan") bekräftigte, sondern auch kritische Wort zum NATO-Krieg gegen Libyen fand.

Im Folgenden dokumentieren wir:

Aus der Predigt von Prof. Dr. Margot Käßmann:

Margot Käßmann sprach zum Thema "Was ist Glück? Und wie werde ich glücklich?" und bezog sich dabei auf den Text der Bergpredigt. Wir dokumentieren die Abschnitte 2, 4 und 8, verzichten dabei aber auf die Fußnoten.

2. Glückselig sind die bis ins Innerste Armen, denn ihnen gehört die gerechte Welt Gottes. (5,3)

Dieser Vers wird oft reduziert auf in irgendeiner Weise „geistig Minderbemittelte“, so Christine Gerber. Die Kirchentagsübersetzung räumt mit dieser Einschränkung auf. Es geht um materiell Arme, Menschen, die Arm sind, weil sie verzweifeln am Leben, alle also, die in irgendeiner Weise arm sind. Armut ist seit biblischen Zeiten eine Geißel der Menschheit. Nie aber waren so viele Menschen arm wie heute!

Die Statistik der Welthungerhilfe (2010) sagt:
  • Weltweit hungern etwa 925 Millionen Menschen (FAO, September 2010)
  • In 29 Ländern ist die Hungersituation für die Menschen sehr ernst oder gravierend – also in beinahe jedem 6. Land der Welt (Welthunger-Index (WHI) 2010)
  • Zwei Drittel der weltweit an Hunger leidenden Menschen leben in nur sieben Ländern: Bangladesh, China, DR Kongo, Äthiopien, Indien, Indonesien und Pakistan. (FAO, September2010)
  • In Entwicklungsländern sind 195 Mio. Kinder unter fünf Jahren sind zu klein für ihr Alter und damit unterentwickelt (WHI 2010)
  • Über 90 Prozent der unterentwickelten Kinder leben in Afrika (WHI 2010)
  • 129 Mio. Kinder in Entwicklungsländern sind untergewichtig (WHI 2010)
  • 42 Prozent der untergewichtigen Kinder weltweit leben in Indien (WHI 2010)
  • Jährlich sterben etwa 2,2 Mio. Kinder weltweit an den Folgen von Mangel- und Unterernährung – das sind 6.027 Kinder täglich (WHI 2010)
Diese Zahlen tun weh, erschüttern, verstören. Weil hinter jeder Zahl ein Schicksal steckt, ein Leben, Hoffnung, Elend, Zerstörung. Was eigentlich, wenn täglich 6027 Westeuropäer an Hunger sterben würden? Wie alarmiert wären wir, wenn wir es schon sind bei 10 Toten durch das EHEC Virus? Kann es sein, dass Sterben an Armut in den Ländern des Südens schlicht uninteressanter ist als Sterben in reichen westlichen Industrienationen? Wo ist denn da die „gerechte Welt Gottes?“

Die Unternehmerin Tina Voss schreibt zu diesem Vers: „Armut hat viele Gesichter in der Welt. Es fällt mir schwer zu entscheiden ob die Armut in Hannover schlimmer ist als die Armut in den Entwicklungsländern der Welt …“ Ja, Tina Voß hat Recht, das lässt sich nicht vergleichen. Ein Kind, das auf einer Müllhalde auf den Philippinen geboren wird, ist anders arm als ein Kind in einer Familie, die auf Hartz IV angewiesen ist. Aber arm sind sie beide! Weil sie sich nicht beteiligen können an der Gesellschaft, keine Bildungschancen haben, gesundheitlich benachteiligt sind. Ihre Entfaltungsmöglichkeiten sind eingeschränkt.

Aber Kinderarmut ist nicht interessant, politisch hat sie kein Gewicht, ökonomisch ist sie irrelevant. Dafür kann ich einen Beleg aus persönlicher Erfahrung liefern. Am 1.1.10 habe ich in der Frauenkirche in Dresden eine Predigt gehalten, die vom Fernsehen übertragen wurde. Gegenüber dem banalen Spruch „Alles wird gut!“ habe ich an drei Punkten erklärt: „Nichts ist gut!“ Das betraf die Klimakatastrophe, den Bundeswehreinsatz in Afghanistan und Kinderarmut in Deutschland. Während der Satz „Nichts ist gut in Afghanistan“ mir um die Ohren geschleudert wurde, zu politischen Anfragen führte und zu großer Aufmerksamkeit sowie heftigen Auseinandersetzungen, hat offensichtlich niemanden der darauf folgende Absatz interessiert: „Nein, es ist nicht alles gut, wenn so viele Kinder arm sind im eigenen Land. Diese Kinderarmut versteckt sich oft ganz still im Hintergrund. Da erzählt mir eine Mutter, dass die Klasse ihres 15-jährigen Sohnes einen Auslandaufenthalt geplant habe. Sie konnte das erforderliche Geld nicht aufbringen. Die Klasse wollte ihn unbedingt dabeihaben und gemeinsam haben sie das notwendige Geld aufgetrieben. Aber der Sohn wollte nicht mitfahren, weil er sich zu sehr geschämt hat, dass andere für ihn bezahlen. Selbst als der Lehrer anrief, ließ sich ihr Sohn nicht umstimmen. Er blieb als Einziger zuhause.“

Es ist doch merkwürdig. Diese Passage hat niemand zitiert, obwohl die Predigt für soviel Aufmerksamkeit und Kritik sorgte. Sie erschien offenbar niemandem als Provokation, da das Thema Kinderarmut ganz offensichtlich keine Relevanz und keine Lobby hat. Da handelt es sich meines Erachtens um eine tiefe Fehleinschätzung. Natürlich ist der Afghanistaneinsatz eine eminent kritische Frage. Aber Kinderarmut ist ebenso relevant und zwar in sozialer, politischer und ökonomischer Dimension!

Oder ist da doch schlicht und einfach die Arroganz gegenüber der Armut? Die Armen sind selbst schuld? Gern wird über sie gelacht, wenn sie sich als Prekariat im Fernsehen selbst lächerlich machen. Oder es wird sich empört, weil sie angeblich Schmarotzer sind. Willkommen sind sie nicht in unserer Gesellschaft, wenn sie aus Afrika kommen und Zuflucht suchen, Zukunft, Heimat. Manches Mal sind sie Objekte unserer Hilfe, aber selten Subjekte der Begegnung. Das ist auch theologisch so, die Armen oder auch geistlich Armen werden selten als Subjekte angesehen mit einer Überheblichkeit an nach dem Motto: Gottes Wille und die Aussagen der Bergpredigt kann nur verstehen, wer studiert hat und reflektieren kann. Es geht nicht um Wissen und um Reflektiertheit, sondern es geht darum, das vom Evangelium zu leben, was man verstanden hat, hat Frère Roger einmal so schön gesagt. Oder ich denke an das Evangelium der Bauern von Solentiname, in dem Ernesto Cardenal wiedergibt, wie Bauern in Nicaragua die biblischen Geschichten verstehen und ganz neue Einsichten zeigt, die eine enorme Horizonterweiterung darstellen und auf die wohl kaum ein Exeget am Schreibtisch gekommen wäre. Akademische Theologen sind versucht, die Nase über so einfache Erklärungen und Auslegungen der Bibel zu rümpfen und bezichtigen sie der „präreflektiven Unmittelbarkeit“. Dabei vergessen sie: Gerade den „bis ins Innerste Armen“ gehört die gerechte Welt Gottes. Eine schöne Übersetzung. Ja, das wird vollendet erst in Zukunft so sein. Aber sie ist eine Herausforderung für all das Unrecht unserer Welt hier und jetzt. Wir können die gerechte Welt Gottes nicht denken, ohne uns über das Unrecht in unserer Welt zu empören. Die gerechte Welt Gottes zeichnet Jesus schon vor – und sie wird wie seit 2000 Jahren auch in Zukunft eine Herausforderung sein, Unrecht anzuprangern.


4. Glückselig sind, die Mut zur Gewaltlosigkeit zeigen, denn sie werden das Land erben (5,5)

Im vergangenen Jahr nahm ich an einer Friedenskonferenz von Frauen in den USA teil. Zu Beginn wurde ein Film gezeigt: „Pray the devil back to hell“ – Bete den Teufel in die Hölle zurück. Der Film hat mich schockiert und begeistert zugleich. Er erzählt vom Bürgerkrieg in Liberia. Die Brutalität der marodierenden Banden, bewaffnet mit Gewehren und Macheten, wird auf bedrückende Weise deutlich. Sie lachen laut, diese Jungen, während sie einen Mann hinknien lassen und ihm den Kopf abhauen. Eine Frau schildert weinend, wie sie mit einem Messer am Hals zusehen musste, wie auf der einen Seite ihr Mann erstochen, auf der anderen ihre 12jährige Tochter brutal vergewaltigt wurde. Sie hat monatelang kein Wort sprechen können nach diesem Erleben, diesem Überleben.

Ich fand in der Tat, der Teufel war sichtbar in diesen Bildern. Angst und Schrecken und die Lust am Bösen auf der anderen Seite, ein offensichtliche Freude an Gewalt, Erniedrigung und Zerstörung. Da ist das, was die Bibel als das Böse oder den Teufel bezeichnet sehr anschaulich.

Aber da waren auch mutige Frauen, Christinnen, Musliminnen, die der Gewalt ein Ende bereiten wollten. Am meisten beeindruckt mich Vaiba K. Flomo aus Liberia. In einer kleinen lutherischen Kirche haben sie in der Hauptstadt Liberias die Bewegung in Gang gesetzt, die schließlich zum Frieden führte. Großartig ist, zu sehen, wie christliche und muslimische Frauen einfach die religiösen Grenzen auch gegen die Skepsis ihrer geistlichen Leitenden überwinden und sich miteinander auf diese Weg einlassen. Und es ist beeindruckend, wie mutig und kreativ die Frauen den Friedensprozess schließlich in Gang gesetzt haben. Als die Friedensverhandlungen in Accra (Ghana) nach sechs Wochen stagnierten, blockierten sie die Tür bis endlich etwas in Gang kam. Es ist eine lange, tragische Geschichte, die gut endet. 2005 wurde mit Ellen Johnson-Sirleaf eine Frau ins Präsidentenamt gewählt.

„Gewalt überwinden“ war deshalb in den vergangenen zehn Jahren Thema einer Dekade des Ökumenischen Rates der Kirchen, die auf der Vollversammlung 1998 in Harare nach vielen Schwierigkeiten beschlossen wurde. Während der Zentralausschusstagung 2001 in Berlin wurde diese Dekade offiziell eröffnet. Das war für mich ein sehr bewegender Moment. Wir zündeten Kerzen in der Nähe des Brandenburger Tors an, wo eine Mauer nicht nur mein Land, sondern auch Europa 28 Jahre lang geteilt hatte. Einer der Gründe für den Zusammenbruch der Mauer lag darin, dass Christen und Christinnen in der Deutschen Demokratischen Republik immer wieder Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung gefordert hatten. Von den Kirchen in Leipzig, Dresden und Ostberlin brachten sie den Aufruf „Keine Gewalt“ auf die Straßen dieser Städte und trugen entscheidend dazu bei, dass eine gewaltlose Revolution möglich wurde.

Vorletzte Woche wurde die Dekade in Jamaika beendet. Aber die vergangenen zehn Jahre haben die Welt nicht in einem friedlichen Ort verwandelt. Weit davon entfernt. Seit dem 11. September 2001 haben der Terrorismus und der so genannte „Krieg gegen den Terrorismus“ unvorstellbares Leid gebracht. Terroristen wie Bin Laden sahen und sehen sich als Vollstrecker des göttlichen Willens im Namen des Islam. Länder, die sich selbst zur Demokratie erklären, haben sich in die Irre führen lassen, benutzen Begriffe wie „Kreuzzug“ und „Achse des Bösen“, um militärische Aktionen und die scheinbar legitime Forderung „Töten oder gefangen nehmen“ zu legitimieren! Der Waffenhandel weitet sich schnell und immer weiter aus. Nach Angaben des SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) ist der deutsche Anteil am internationalen Waffenhandel zwischen 2005 und 2010 auf 11 Prozent gestiegen und wird nur noch von Russland mit 23 Prozent und den USA mit 30 Prozent überrundet. Das bedeutet: Unsere Volkswirtschaften profitieren von der Gewalt und dem Krieg, den wir beklagen. Die Kirchen können angesichts dieser furchtbaren Situation nicht schweigen!

Es ist heute offensichtlich, dass die Religion eine entscheidende Rolle bei Friedensanstrengungen und der Überwindung von Gewalt spielt. Der römisch-katholische Theologe Hans Küng sagt: Es gibt keinen Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen. Es ist an der Zeit, dass die Religion sich weigert, missbraucht zu werden, indem Öl auf das Feuer des Krieges und des Hasses gegossen wird. Es ist an der Zeit, konsequent zu verneinen, dass es irgendeine theologische Legitimation für Gewalt gibt. Es gibt keinen gerechten Krieg – das ist es, was wir aus der Geschichte gelernt haben. Es gibt nur einen gerechten Frieden. Und dieser erfordert Kreativität, Zeit, Engagement und Geld. In einer überzeugenden Studie hat Markus Weingardt vierzig internationale Konflikte untersucht und dokumentiert, welch großen Einfluss religiös motivierte Menschen auf Friedensanstrengungen ausüben können. Sie sind in der Lage, Brücken zwischen den Konfliktparteien zu bauen, weil ihnen Vertrauen geschenkt wird. Sie verfügen über Friedenssymbole wie das gemeinsame Gebet. Sie wagen es, mit dem „Feind“ zu sprechen.

Wir alle wissen, dass diejenigen, die an Gewaltlosigkeit glauben, oft als naiv angesehen werden und dass ihnen unterstellt wird, die Realität von Macht und Politik nicht zu verstehen. Das sollten wir akzeptieren! Jesus selbst war naiv, wenn wir sein Leben mit den Maßstäben des Erfolgs messen. In den Augen der Welt scheiterte er, wurde verurteilt, litt und starb. Aber dieser sterbende Mann am Kreuz hat von dem Moment an alles Machtstreben und all jene herausgefordert, die ans Siegen glauben. Die Macht der Liebe ist größer als die Macht der Waffen und der Gewalt. Genau das glauben wir. Welch eine Botschaft! Wir glauben an Gott, der nicht allmächtig ist, sondern als Kind geboren wurde, unter der Folter starb und – ohne Gewalt und ohne Macht – eine Herausforderung für Gewalt und Macht darstellt. Für Christinnen und Christen ist das der Orientierungspunkt. Sie sind ebenso wie die Kirche immer in die Irre gegangen, wenn dies vergessen wurde und wenn Gewalt und zerstörerische Macht legitimiert wurden.

Ein schönes aktuelles Beispiel für kreativen Widerstand gegen Gewalt ist die so genannte Radiohexe, die ich vor kurzem kennen gelernt habe. Jeden Samstag sendet sie in Nicaragua ein Programm, in dem Gewalt von Männern gegen ihre Frauen berichtet wird. Mutig ist sie! Manche sagen, sie geht zu weit. Aber sie sagt: solange Polizei und Gerichte diese Gewalt nicht ahnden, werde ich senden. Die christliche Initiative Oscar Romera aus Münster unterstützt sie. Und Männer in Nicaragua, die ihre Frauen schlagen, misshandeln, vergewaltigen, fürchten sie. Auch eine Form kreativer Gewaltlosigkeit, finde ich.


8. Glückselig sind, die Frieden schaffen, denn sie werden Gottes Töchter und Söhne heißen. (5,9)

„Wie wird Friede?“ fragte Dietrich Bonhoeffer in seiner berühmten Andacht 1934 in Fanoe: „Nur das eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, dass die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muss.“ Er hoffte, die Kirche würde ihren Söhnen die Waffen aus der Hand nehmen … Die Begeisterung der damaligen Zeit ist in unseren Breitengraden Gott sei Dank heute nicht mehr so gegeben. Die Erschütterungen des Zweiten Weltkriegs führten 1948 zu dem klaren ökumenischen Bekenntnis von Amsterdam: „Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein.“ Doch damit herrscht keineswegs Frieden.

Ich bin überzeugt, Religionen müssen sich gegen Pflichtdienste an der Waffe aussprechen. Sie sind mit dem Gewissen eines Menschen nicht vereinbar. Gewissensfreiheit ist ein Grundrecht in unserem Land. Und ein Grundrecht kann nicht erst auf Antrag gewährt werden, das ist bei der Religions- und Meinungsfreiheit ja auch nicht so. Jede muss mit ihrem und jeder muss mit seinem Gewissen vereinbaren, ob sie oder er sich an einem Waffeneinsatz und der Tötung anderer Menschen beteiligen kann. Das gilt auch in einer Freiwilligen-Bundeswehr. Vor wenigen Wochen wurde das Ende der Zentralstelle zur Beratung von Kriegsdienstverweigerern in Berlin gefeiert. Längst gab es keine Wehrgerechtigkeit mehr, wenn von 370 000 jungen Männern eines Jahrgangs nur 70 000 zum Grundwehrdienst und 90 000 zum Zivildienst herangezogen werden. Unsere Gesellschaft gibt ein deutliches Signal ihres Friedenswillens, wenn sie ihren Bürgern keine Pflicht zum Waffendienst mehr auferlegt, das steht uns in Deutschland gut an, finde ich. Aber es bleiben ja offene Fragen. Eine davon hat die Internationale ökumenische Friedenskonvokation in Jamaika letzten Monat so formuliert: „Wir ringen weiter um die Frage, wie unschuldige Menschen vor Ungerechtigkeit, Krieg und Gewalt geschützt werden können. In diesem Zusammenhang stellen wir uns tiefgreifende Fragen zum Konzept der „Schutzverantwortung“ und zu dessen möglichem Missbrauch.“ Wir sind nicht am Ende mit diesen Fragen. Und die Bergpredigt fordert uns neu heraus!

Was sind kreative Wege? Wenn wir die Lage in Libyen anschauen, habe ich zunächst gedacht, eine Flugverbotszone könnte ein kreatives, gewaltfreies Mittel sein, zum Frieden beizutragen, Zivilbevölkerung zu schützen. Um reine Luftraumüberwachung ging es, das schien mir einleuchtend. Die UN-Resolution aber hat dann erklärt, „alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung“ außer „Besatzungstruppen“ seien zu ergreifen. Und sofort begann das Bombardement am Boden, der gezielte Versuch auch, Gaddafi, mit dem man eben noch munter Geschäfte gemacht hatte, zu töten. Friede wird so nicht, das sehen wir …

Die Seligpreisungen ermutigen, kreative Wege zum Frieden zu finden. Damit es nicht nötig ist, sich lapidar für die Tötung von 14 Frauen und Kindern zu entschuldigen wie es die Nato in dieser Woche tat. Denn wie bizarr ist das denn, zu sagen: Entschuldigen sie bitte, „unglücklicherweise stellte sich das von den Aufständischen absichtlich besetze Anwesen später als das Haus unschuldiger Zivilisten heraus.“ Entschuldigung, aber das ist inakzeptabel!

Quelle: Dokumente des Evangelischen Kirchentags; www.kirchentag2011.de


Dein Reich komme

Liebe Kirchentagsgemeinde, liebe Schwestern und Brüder,

ein wunderbarer Kirchentag liegt hinter uns. Wir haben Großes und Bewegendes gesehen. Fünf Tage Hören und Reden, Fragen stellen und Antworten haben, Antworten verwerfen und neue Fragen stellen. Wir müssen reden, haben wir zu Beginn gesagt – und: Wir haben geredet. Miteinander und mit Gott. Gott sei Dank!

Wir wollen Dank sagen, zuerst und vor allem, Danke an Euch, den Menschen aus Dresden und Sachsen und der ganzen Region. Den fröhlichen Gemeinden, dem freundlichen Straßenbahnfahrer, der die Nerven behielt, den entspannten Polizistinnen und Polizisten in den lauen Nächten. „Dresden kann Kirchentag“ war die Überschrift einer Lokalzeitung. Das stimmt!

Und dann so viel Freundlichkeit bei allen, denen wir Christinnen und Christen etwas suspekt sind; immer wieder hieß es, wir kämen in eine angeblich nahezu glaubensfreie Zone. Danke den Zweiflern für die offenen Arme und lasst euch sagen: Wir zweifeln auch, mitunter.

Und dann Danke Euch, den vielen, vielen Helferinnen und Helfern. Ihr habt eine sensationelle Kondition, fröhlich, friedlich, freundlich über Tage – und Nächte und selbst bei allergrößter Hitze im Zelt. Danke den Ehrenamtlichen, die für Essen gesorgt, Stände betreut, Gespräche geführt haben. Danke für die Musik allerorten. Das alles ist großartig. Liebe Kirchentagsbesucherinnen und -besucher, in Ihrer Nähe sehen Sie bestimmt eine Helferin / einen Helfer. Zeigen Sie Ihnen doch einfach einmal das Herz, unser Handherz [vormachen]. Als Dankeschön.

Und nicht zuletzt Sie alle, die Sie zum Kirchentag gekommen sind, über 120.000. Es wurde der erste echte wiedervereinigte Ost-West-Kirchentag: Wunderbar! Und Ihnen allen großer Dank für`s geduldige Warten auf Einlass und für die Konzentration beim Zuhören, für ihren Applaus und ihre engagierten Beiträge, für Ihre Herzlichkeit und Begeisterung und – für Ihre Gebete. Danke.

Der Kirchentag ist immer beides: ein Fenster zum Himmel und eine Tür zur Welt; und beides gehört zusammen. Wir Christenmenschen lassen uns nicht einreden, wir müssten entweder noch politischer oder aber noch frommer werden. Wir sind beides, und haben vor, es zu bleiben.

So sind wir unterwegs: Die Welt nicht ohne Gott, Gott nicht ohne Welt, beides zusammen wohnt mitten in unseren Herzen. Denn da, wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. Und wir sind frei, wenn Gott unser Schatz ist, frei für eine bessere, lebenswertere Welt.

Wir müssen reden, aber wir haben nicht nur geredet, sondern auch geklärt:
  • Ja, wir wollen keine Von-Oben-Politik, sondern wir sind die Dafür-Republik. Nicht Wutbürger, Gutmenschen, sondern gute Bürgerinnen und Bürger in Gottes Welt sind wir. Deswegen: fragt uns, diskutiert fair, hört auf kluge Einwände, bevor ihr große Entscheidungen trefft, zu Bahnhöfen, Stromtassen, Flughäfen.
  • Ja, Frieden soll sein. Und Verantwortung. Und es ist schwer, richtig zu entscheiden, wenn es keinen Ausweg zu geben scheint. Aber es ist nicht schwer, ganz und gar auf der Seite derer zu stehen, die unter Krieg leiden, Flüchtlinge aufzunehmen, nicht abzuweisen. Aber es ist nicht schwer zivil aufzubauen, immer zuerst und vor allem. Und – wir beten für alle: für die in den Kriegsgebieten, für die Opfer, für die zivilen Helferinnen und Helfer, für die Soldatinnen und Soldaten.
  • Ja, die Energiewende kommt. Wir fangen gerade an. Jetzt, in diesem Moment produziert Deutschland mehr Strom aus Sonne als aus Atom… Jetzt kommt es darauf an, wirklich umzusteigen, auf 100% erneuerbar.
Wir wollten reden, das haben wir gemacht. Aber wir haben auch geschwiegen. Sind still geworden, als die vielen schwimmenden Kerzen kamen auf der Elbe, jedes Licht ein guter Gedanke für die, denen unser Herz gehört – und für die anderen auch. Wir sind gemeinsam still geworden vor Gottes Wort, das unser Herz weit und unseren Verstand klar macht. Gesucht wird: eine andere Maßeinheit für Wachstum, eine andere Definition von Erfolg, eine neue Form des Zusammenlebens. Maßhalten macht reich, Geschwindigkeitsreduzierung schenkt Zeit. Wir wollen so leben, dass auch unsere Kinder noch Luft zum Atmen, Bäume zum Klettern und Wiesen zum Toben haben, dass sie Klippdachse treffen und große Fische im Meer.

Jetzt geht der 33. Deutsche Evangelische Kirchentag zu Ende. Und er trägt seine Botschaft ins ganze Land:
  • Seid barmherzig, mit der Schöpfung, denn sie erträgt nicht alles,
  • Seid barmherzig mit den Fremden und Asylsuchenden, denn sie brauchen eine Heimat so wie du und ich,
  • Seid barmherzig mit den Andersglaubenden, denn sie suchen Gott so wie wir,
  • und: seid barmherzig mit Euch selbst, gebt Gott Raum in eurem Herzen, denn er ist barmherzig, und wir können es auch sein.
Quelle: Dokumente des Evangelischen Kirchentags; www.kirchentag2011.de


Die grüne Welle der Nischenbauer

Kirchentag in Dresden zwischen Volksfest und Zukunftswerkstatt

Von Hendrik Lasch, Dresden *


Knapp 120 000 Protestanten feiern derzeit in Dresden ihren 33. Kirchentag. Die Mega-Veranstaltung ist Melange aus Volksfest und Volkshochschule, dient den Protestanten aber auch der Selbstvergewisserung in schwierigen Zeiten.

Geo-Engineering ist wahrlich kein Straßenfeger-Thema. Zwar sind Überlegungen von Ingenieuren, wie man die aufgeheizte Lufthülle der Erde durch technische Tricks kühlen könnte, im Wortsinn ein heißes Thema. Doch wenn Klimaforscher zu erklären suchen, wie Tausende Tonnen Schwefel in der Atmosphäre verteilt oder das Eismeer mit Eisen gedüngt werden könnte, um Algen zum Wachsen anzuregen, ist Konzentration gefragt. Die Menschen, die an diesem Nachmittag im Kongresszentrum am Dresdner Elbufer sitzen, lassen sich davon nicht abhalten. Hunderte drängen sich im Saal, lauschen ernst den Ideen der Wissenschaftler, spenden Einwänden eines Ethikers höflichen Beifall und reichen Zettel mit Fragen an zwei »Anwälte des Publikums«. Zwei Stunden folgen sie interessiert der Debatte, dann schlendern sie in die Nachmittagssonne. Dort beginnen sie umgehend in dicken Büchlein zu blättern: dem Programmheft des 33. Evangelischen Kirchentags, der bis morgen stattfindet.

Die Wälzer im Gesangbuchformat mit ihren 640 Seiten sind unabdingbare Orientierungshilfe an den fünf Tagen in Dresden. Teilweise ähneln sie einem Volkshochschulprogramm: Im Angebot sind Veranstaltungen, in denen hochkarätige Experten über die Zukunft der Arbeit streiten oder den Atomausstieg, in denen es um Medizin der Zukunft geht oder die Frage, wie man mit Rechtsextremismus umgeht: »Darf man Nazis konfirmieren?«, heißt ein Planspiel. Teils ist das Büchlein aber auch Wegweiser für ein überbordendes Volksfest, das auf Dutzenden Bühnen zwischen Messe, Frauenkirche und Elbufer stattfindet. Bekannte Bands wie die »Wise Guys« treten ebenso auf wie Posaunen- und Kirchenchöre oder Kapellen, die mit Gitarre und in Jesuslatschen voller Inbrunst, wenn auch leicht schräg, ihren Herrn preisen.

Dresden hat ein solches Spektakel bisher nicht erlebt. Fast 120 000 Protestanten sind am Tag vor Himmelfahrt in die Stadt gekommen, eine quirlige Menge, die seither fröhlich von Veranstaltung zu Veranstaltung pilgert, singt, betet und diskutiert. Die grünen Schals mit dem der Bergpredigt entstammenden Kirchentags-Motto » … da soll auch dein Herz sein« sind allgegenwärtig – eine grüne Welle, die durch die verkehrsberuhigte Innenstadt rollt. Als in Dresden 1983 letztmals ein Kirchentag stattfand, hätten Christen noch nicht mit so viel Selbstbewusstsein die Stadt erobern können, erinnert Ellen Ueberschär, Generalsekretärin des Kirchentags: Öffentliche Gottesdienste in der DDR seien »eine politische Aktion« gewesen. Zum Abschlussgottesdienst im Großen Garten kamen damals dennoch – oder gerade deshalb – rund 100 000 Menschen.

Inzwischen sind Kirchentage eine Selbstverständlichkeit; eine Resonanz wie jetzt in Dresden ist es allerdings nicht. Die Zahl der Teilnehmer ist höher als bei allen Kirchentagen seit 1995. Über Gründe lässt sich spekulieren. Die attraktive Gastgeberstadt mag eine Rolle spielen. Katrin Göhring-Eckardt, die Präsidentin dieses Kirchentags, verweist daneben auf eine große Resonanz in Ostdeutschland; ein Drittel der Teilnehmer kommt von hier. Das überrascht, weil Kirchen im Osten eigentlich einen schweren Stand haben; auch in Dresden sind gerade einmal ein Viertel der Einwohner konfessionell gebunden. Von den Protestanten in der Region nutzen allerdings viele die Gelegenheit. Offenbar sei, sagt Göring-Eckardt, der Kirchentag »in Ostdeutschland angekommen«. Die grüne Bundestagsvizepräsidentin spricht gar vom »ersten gesamtdeutschen Kirchentag«.

Göring-Eckardt geht noch weiter und diagnostiziert eine »neue Vitalität der Kirchentagsbewegung«. Womöglich passt die Veranstaltung, die ein Forum für die Debatte aller gesellschaftlich relevanten Fragen bietet und nicht von der Institution Kirche, sondern von Laien organisiert wird, gut in Zeiten, in denen nicht nur »Wutbürger« mehr Einfluss auf und Beteiligung an politischen Entscheidungen fordern. Der Kirchentag selbst bemühe sich ebenfalls um mehr »praktische Bürgerbeteiligung«, betont die Präsidentin. Unter anderem konnten Petitionen erstmals vorab per Internet eingebracht werden, was dazu führte, dass ihre Zahl auf 15 stieg. Bei früheren Kirchentagen wurden meist nur drei bis fünf Petitionen verabschiedet.

Damit sich der Kirchentag als Ganzes hinter eines der Anliegen stellt, müssen trotzdem noch Unterschriften gesammelt werden – etwa auf dem »Markt der Möglichkeiten«, wo in großen Zelten zahlreiche Stände von Initiativen und Vereinen aufgebaut sind. Umweltgruppen und Eine-Welt-Initiativen informieren über ihre Arbeit, lokale Kirchenradios oder die evangelischen Militärseelsorge, Attac, der DGB und die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Einen Stand hat auch die »Aktion Sühnezeichen Friedensdienste« eingerichtet. Sie drängt per Petition auf einen Abschiebestopp für Roma in den Kosovo. Rund 10 000 bisher in der Bundesrepublik geduldete Roma seien von der Rückführung in ein Land bedroht, in dem sie keine Arbeit finden und das sie kaum noch als Heimat erleben dürften; ihre Kinder kämen zudem in eine Region, deren Sprache sie nie gelernt haben, sagt Sprecherin Heike Kleffner. Mit Wolfgang Thierse, Petra Pau sowie Katrin Göring-Eckardt unterstützen drei Vizepräsidenten des Bundestags die Resolution. Bis morgen müssen mindestens 2997 weitere Kirchentagsgäste unterschrieben haben, damit sie offiziell angenommen wird und dem Bundestag vorgelegt werden kann. Die Chancen, die nötigen Unterschriften zusammen zu bekommen, stehen gut; viele der Kirchentagsbesucher sind, wie die Gespräche in den Foren zeigen, auffällig engagiert und wohl auch erfüllt von der Zuversicht, die Welt ein wenig zum Besseren ändern zu können.

Ob die von der Präsidentin beobachtete neue Vitalität der Kirchentage freilich auf die Kirche insgesamt abfärbt, ist offen und wird in Dresden eifrig diskutiert. Angesichts anhaltend hoher Austrittszahlen mahnt Günther Beckstein, Vizepräses in der Synode der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD), die Kirche dürfe »nicht so erstarren, dass Hierarchien über der Dienstleistung für Gläubige stehen«. Sie konzentriere sich noch zu stark auf technische Fragen wie die, »wie viele halbe Stellen wir dahin geben und wie viele Viertelstellen dorthin«, sagt der bayerische Ex-Regierungschef und merkt an, die Vorliebe für zähe Diskussionen sei in der Synode noch stärker als im Landtag.

Für die evangelische Kirche ist die mangelnde Attraktivität ein Problem, sagt der Berliner Religionssoziologe Hubert Knoblauch. Er beobachte einerseits eine »Wiederauferstehung« des Religiösen: Immer mehr Menschen gäben bei Umfragen an, zu glauben. Von der Institution Kirche aber wenden sich immer mehr ab – ironischerweise, obwohl diese in der Bundesrepublik eine derart tragende Rolle spiele wie in wenigen anderen Ländern. Von Religionsunterricht bis Kirchensteuer, von theologischen Fakultäten bis zur Militärseelsorge – Kirche sei ein »öffentlicher Akteur«. Die Lust zum Mitmachen in derlei oft als schwerfällig empfundenen Großorganisationen aber schwinde: »Der DGB hat ein ähnliches Problem.« Wenn Kirche für ihre Mitglieder attraktiv bleiben wolle, mahnt Knoblauch, müsse »die Durchlässigkeit für Bewegungen von unten bis in die hohen Spitzen gelockert werden«.

Die evangelische Kirche ist indes nicht nur für ihre Mitglieder da, sondern auch für Menschen außerhalb. Das hebt Gregor Gysi hervor, der Chef der LINKEN im Bundestag. Die Fraktionen in Bundes- und sächsischem Landtag hatten zu Beginn des Kirchentags zum Empfang geladen, um Kontakte zur Kirche zu knüpfen, mit der es, etwa bei Themen wie soziale Gerechtigkeit und Bekämpfung von Armut, viele Anknüpfungspunkte gibt. Gysi lobte dabei, die evangelische Kirche schaffe es »in jeder Gesellschaft Nischen einzubauen«. Das habe sie in der DDR gezeigt, wo »die Opposition, gleich ob gläubig oder nicht, dort eine Stätte hatte, zu der sie gehen konnte«. Die Funktion übernehme sie auch heute, sagte Gysi und fügte hinzu, das Bewusstsein dafür wolle er in seiner Partei schärfen. EKD-Ratsvorsitzender Nikolaus Schneider nahm die Ankündigung wohlwollend zur Kenntnis. Dafür, dass es sein erster Besuch bei einer Veranstaltung der LINKEN war, hörte er eine wahrhaft frohe Botschaft.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Juni 2011


Die Kraft des Krieges

Von Velten Schäfer **

In den Achtzigerjahren fuhr man als West-Gymnasiast stets gerne zum evangelischen Kirchentag: eine Spitzengelegenheit, sich mit dem Placet von Eltern und Schule in einer Großstadt die Kante zu geben. Und ideologisch konnte man dabei auch nicht viel falsch machen: Zumindest ein naives, empathisches, eben gläubiges Bekenntnis zum Frieden und zu den Rechten von Flüchtlingen war dort noch allemal zu haben.

Wie sehr sich das geändert hat, ließ sich am Wochenende in Dresden besichtigen. Wenn der Militärminister erklärt, dass deutsche Soldaten weiter weltweit töten, wenn die Christenkanzlerin hartleibig darlegt, dass Wirtschaftsflüchtlinge rauszuwerfen sind, weil sonst ja jeder kommen könne, wird schon lange nicht mehr gemurrt. Dann wiegt der Protestant von heute den Kopf und wägt »Prinzipien« gegen »Verantwortung«. Wo vielleicht einmal Glaube war, wo also eherne, nicht zu begründende Normen standen, ist eine realpolitische Tagesmoral eingezogen, die auf der Annahme basiert, dass »wir« im demokratischen Westen am Ende ja die Guten sind.

Diese Ansicht ist, so erwachsen und verantwortlich sie sich auch ausgibt, nicht weniger naiv als die Friedenslieder aus den Achtzigern – nur deutlich weniger ehrenwert. Einmal mehr in seiner langen und bewegten Heils- und Unheilsgeschichte droht der deutsche Protestantismus zur moralischen Kraft des Krieges zu werden.

** Aus: Neues Deutschland, 6. Juni 2011


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