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"Bonhoeffers Denken für gegenwärtige Fragestellungen fruchtbar machen"

Ilse Tödt über das Buch von Karl Martin: Dietrich Bonhoeffer: Herausforderung zu verantwortlichem Glauben, Denken und Handeln


Karl Martin (Herausgeber im Auftrag des Dietrich Bonhoeffer-Vereins dbv unter Mitarbeit von Detlef Bald), Dietrich Bonhoeffer: Herausforderung zu verantwortlichem Glauben, Denken und Handeln. Denkanstöße – Dokumente – Positionen, BWV Berliner Wissenschafts-Verlag 2008, 508 Seiten, € 29,–, ISBN 978-3-8305-1524-1

Der dbv, der Dietrich Bonhoeffer-Verein, ist am 15. Mai 2008 25 Jahre alt geworden. Christian Löhr hat namens der um 12 Jahre älteren Schwester ibg, der bundesrepublikanischen Sektion der Internationalen Bonhoeffer Gesellschaft, dem jüngeren Bruder gratuliert, wie im ibg Rundbrief Nr. 86, Juli 2008, 46–50, zu lesen ist. Geschwister knurren einander schon mal an. Hock’ doch nicht dauernd hinter den Bonhoeffer-Büchern, Schwester! Presch’ du, Bruder, doch nicht immer gleich los! Was hätte Bonhoeffer heute… (Mich hat ein Erlebnis in Australien im Jahre 2000 beeindruckt. Nach einem Vortrag in einem Universitäts-Städtchen wurde ich gefragt: Wie steht Bonhoeffer zur Ost-Timor-Frage? Der die Veranstaltung leitende australische Bonhoefferforscher konterte: Darauf erwarte der Frager doch wohl keine Antwort.)

Der dbv will Bonhoeffers Denken für gegenwärtige Fragestellungen fruchtbar machen (17). Mit dem Arbeitsinstrument der Resolutionen hat er sich an die Öffentlichkeit wenden können (18f). In dem von Karl Martin, dem dbv-Vorsitzenden, herausgegebenen Jubiläumsbuch sind alle 44 zwischen 1987 und 2007 verabschiedeten Resolutionen dokumentiert. Diese 163 Seiten (327–490) erschienen mir beim Lesen wie Material zu einer zeitgeschichtlichen Forschungsarbeit. Worauf wurde jeweils reagiert? (Mit meinem Beispiel: Ist die Problematik zwischen Australien und dem östlichen Indonesien vor acht Jahren heute noch allgemein im Gedächtnis präsent?) Was geschah in der Folgezeit? Siebzehn Resolutionen betreffen die Militärseelsorge. Das lag nahe; denn die Gründung des dbv erfolgte auf einer Tagung der Evangelischen Hochschulgemeinde bei der Bundeswehr-Hochschule München (17). In der Resolution Nr. 37 vom Mai 2002 findet sich dann leider die Bemerkung: »Mehr als zehnjährige [Sol-datenseelsorge-]Reformbemühungen werden vom Tisch gewischt.« (475) Zwanzig Resolutionen mahnen zum Frieden. Ziviler Friedensdienst, eine vom dbv seit Resolution Nr. 17 vom Mai 1995 (388) mitgetragene Forderung, wird inzwischen praktiziert. Mit der Resolution Nr. 43 vom Mai 2004 (486) unterstützte der dbv den Protest der bundesdeutschen Friedensbewegung gegen den Entwurf einer europäischen Verfassung, der Aufrüstung zur Pflicht der Mitgliedstaaten gemacht hätte. Wenn der Verfassungsentwurf aus diesem Grunde Ablehnung erfuhr, dann stünde es um die Friedensentschlossenheit unter Europäern erfreulich; aber war das der Grund? Vier Resolutionen schlagen eine »Sozial- und Kultursteuer« vor, zunächst in Resolution Nr. 19 vom Mai 1995 (400) als Alternative zur Kirchensteuer, in Resolution Nr. 31 vom Mai 2000 (450) dann im Nebeneinander, aber ohne staatlichen Kirchensteuereinzug. Resolution Nr. 26 vom Mai 1998 plädiert für den Ersatz des Begriffs »Volkskirche« durch den Begriff »Gemeindekirche«.

Beiträge zu dbv-Vereinstagungen sind im Mittelteil des Buches abgedruckt. Die früheste berücksichtigte Tagung fand im Mai 1997 in Erfurt statt. Damals erwähnte Sabine Bobert, Bonhoeffer habe das Kirchensteuersystem in Frage gestellt und »staatlich zwanghafte Eintreibung der Steuern« als unzweifelhaften Missstand bezeichnet (228). Als ich an einer späteren Stelle (255) las, Bonhoeffers Einstellung »gegen das deutsche System der Kirchenfinanzierung« sei »vielfach belegt«, fand ich in den 17 Bänden Dietrich Bonhoeffer Werke nur die eine von Sabine Bobert zitierte, von Bonhoeffer eingeklammerte, in der Druckfassung weggelassene Stelle vom »Missstand« (DBW 1, 287 A. 385). Im Mai 1997 trug Martin Stöhr im Augustinerkloster in Erfurt zehn Thesen zur Kirche vor. »Die [von Luthers Anzahl] fehlenden 85 Thesen sind Sie gebeten, selbst zu formulieren und meine zu korrigieren, denn es ist einfach, Resolutionen zu verfassen. Es ist schwer, zu lernen, kirchlich und christlich resolut zu sein.« Eingangs schildert Martin Stöhr eine »seltsame Szene«, in der einem englischsprachigen Gast das Phänomen »Volkskirche« nicht zu erklären war; »was faktisch existiert, ist unerklärlich, also auch nicht überzeugend« (237). Friedrich Schorlemmer wird seinen Vortrag am 16. Mai 1997 als Einleitung zu der Erfurter Tagung gehalten haben. 1989/90 hatten die evangelischen Kirchen in der DDR »einen spontanen Höhenflug zu verkraften« – einen »fahrenden Platzregen« im Sinne von Luthers Bild von der Gnade –, inzwischen haben sie »eine organisierte Bruchlandung zu verwalten« (290f). Die von der SED zwecks Bekämpfung der Konfirmation eingeführte Jugendweihe ist zum »akzeptierten Feieranlass von 95 % der Ostdeutschen« geworden, »festliche Ostalgie« (295).

Auf der Tagung 1999 in Berlin sprach am Vortage des 8. Mai, an dem sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 44. Mal jährte, Andreas Pangritz: Kann Bonhoeffers Satz »Ich bete für die Niederlage meines Landes« »im jetzigen Krieg eine neue Bedeutung gewinnen«? (69) Was für ein Krieg der »jetzige« war, kann man sich an Hand von Resolution Nr. 28 vergegenwärtigen: der NATO-Jugoslawien-Krieg (432). Dieser Resolution beigegeben ist ein Bischofswort von Wolfgang Huber aus dem April 1999. War die NATO-Intervention unausweichlich? Ihr fehlt die »Beauftragung durch die internationale Rechtsgemeinschaft«, ein schwerer Mangel auch für den, der »aus verantwortungspazifistischen Gründen diese Intervention als äußerstes Mittel bejaht« (439). »…äußerstes Mittel« – darin klingt Bonhoeffers Stichwort »ultima ratio« an (DBW 6, 273f). An vielen Stellen des Jubiläumsbuches wird die Denkfigur »ultima ratio« besprochen (123 A. 58, 163, 166f, 170, 171 A. 26, 172f A. 27–29, 175–180), und Resolution Nr. 27 vom Mai 1998 befindet sie als »für christliches Friedensverständnis ungeeignet« (430, dazu 144). Karl Martin stellte im April 2002 bei einem Kolloquium der ibg-Regionalgruppe Sachsen fest: »Die ultima-ratio-Kriterien haben auch in der Vergangenheit noch nie zu einer Gewalteindämmung geführt« (179). Bei dieser Veranstaltung berichtete er, Rolf Wischnath, Cottbus, habe bei der EKD-Synode im November 2001 ein Minderheitenvotum eingebracht gegen einen geplanten deutschen Militäreinsatz nach den Anschlägen am 11. September 2001, und als von den vierzehn Unterzeichnern des Votums schließlich nur sieben gegen die offizielle Kundgebung stimmten, die den Militäreinsatz nicht ausschloß (162f), habe Wischnath deutlich ausgesprochen: »Wenn diese Synode meiner geliebten Kirche nach jahrelanger friedensethischer Diskussion nicht die Kraft findet, von ihren eigenen Voraussetzungen her ein schlichtes Nein zu diesem Krieg [gegen den Terror] und diesem Einsatz deutscher Soldaten zu finden, dann ist das für mich der Beweis, dass das so genannte verantwortungspazifistische Programm, das keiner so gründlich und überzeugend durchdacht und aufgeschrieben hat wie Wolfgang Huber, gescheitert ist« (177). (In der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft [FEST] in Heidelberg wird seit den 1960er Jahren Friedensforschung betrieben, und Wolfgang Huber ist lange intensiv daran beteiligt gewesen; das Urteil Wischnaths »gescheitert« zu lesen hat mich verstört.)

Im Mai 2001 in München sprach Hans-Jürgen Fischbeck zum Weg »Von der Staatsomnipotenz zur Wirtschaftsomnipotenz«, den Bonhoeffer 1941 vorausgeschaut hatte (DBW 16, 539). Er zitiert den überspitzten Satz, in dem ein ostdeutsches Gemeindeglied Erfahrungen vor und nach der Wende 1989/90 zusammenfasste: »Die Diktatur des Geldes ist schlimmer als die Diktatur des Proletariats« (303). Wird alle irdische Macht dem Mammon zuerkannt, dann degeneriert menschliche Dienstleistung zu käuflicher und verkäuflicher Ware (306; das Umsonst-Geben des Umsonst-Empfangenen [Matthäus 10,8, dazu DBW 4, 200] wird außer Kraft gesetzt. – Fischbeck verweist übrigens auf einen der FEST-Friedensforscher, Hans Diefenbacher, 313 A. 7). Auf der dbv-Mai-Tagung 2001 hielt Karl Martin die Predigt zum Thema »Gottes Reich und unsere Gerechtigkeit«: Lasst uns lernen, selbstvergessen an den Sachproblemen zu arbeiten (319).

Für die Tagung im Mai 2002 in Iserlohn hatte Theodor Ebert einen Pazifismus-Beitrag überarbeitet und dabei von der »Möglichkeit einer ›entfatalisierten Betrachtungsweise‹« Gebrauch gemacht, zu der er sich auf Vladimir Horskys Buch »Prag 1968« beruft (199 A. 2; Horsky fand nach dem »Prager Frühling« Zuflucht in der FEST in Heidelberg). Was wäre gewesen, wenn Bonhoeffer in Finkenwalde Gandhis Strategie der Gewaltfreiheit gelehrt (207) und wenn er selber den Wehrdienst verweigert hätte (209), also sich schon früher als 1945 hätte töten lassen? Damit wollte Ebert als Konfliktforscher aufrufen, das Suchen nach gewaltfreien Lösungs-Alternativen nicht abzubrechen (211). Gustav Köbbemann erwiderte, auf die von Ebert in Betracht gezogene Weise wäre es nicht möglich gewesen, »Hitler effektiv an der Fortsetzung seiner Verbrechen zu hindern« (212).

2006 tagte der dbv in Berlin. Am 4. Februar 2006, an Bonhoeffers 100. Geburtstag, wurde das Grußwort verlesen, um das Bundespräsident Horst Köhler gebeten worden war (Auszug 40f). Eine Arbeitsgruppe diskutierte in diesen Tagen über die Kirchensteuer (257–261).

Der im April 2007 in der Evangelischen Akademie Arnoldshain gehaltene Vortrag von Martin Stöhr zur Friedensethik Bonhoeffers (145–161) ist auch in Nr. 83 des ibg-Rundbriefs (Juni 2007, 13-32) abgedruckt, dazu (33) die dbv-Resolution Nr. 44 vom 15. April 2007. Im Rundbrief hat Martin Stöhr den Vortrag mir (und Heinz Eduard Tödt, für Gelerntes) »in Dankbarkeit gewidmet«. Der Anlass dieses Dankes wurde mir erst beim Studieren des dbv-Jubiläumsbuchs bewusst. In der dbv-Vereinszeitschrift »Verantwortung« war in der Nummer 38/2007 der Text erschienen, aus dem ich bei der Feier von Bonhoeffers 100. Geburtstag in Tokyo 2006 zu Bonhoeffers »Wagnis, das Friedensgebot Gottes zu wissen« vorgetragen hatte. (Tatsächlich einmal lehren zu dürfen – ein seltenes Glück.)

Dass nicht nur die ältere Schwester ibg sich in Bonhoeffer-Bücher vertieft, sondern dass das auch im dbv geschieht, belegen zwei Beiträge im Buch. Axel Denecke legt seine Auffassung der »nrI« dar, Bonhoeffers »nicht-religiöse Interpretation« – »im 21. Jahrhundert?« (93–113, DBW 8). Es gehe um »die konkrete ›Arbeit‹ am Reich Gottes durch existentielle nrI« (100), »stimmige christliche Existenz«, »persönlichkeitsgeprägte Verkündigung« (109). (Aus meiner Erinnerung stiegen Bilder auf, vor denen ich erschrak: Albert Schweitzer, sich von einem Lambarene-Besucher als vorbildliche Persönlichkeit filmen lassend. – In Deneckes Ausarbeitung wird auf eine »Studie von A. Pankratz« hingewiesen, 108 A. 34. Andreas Pangritz hat, wie er mir erzählte, bei dem Namen gestutzt, bis er entdeckte, dass er selber gemeint war.)

Die zweite Ausarbeitung stammt von Karl Martin und betrifft das »Gewissen« (114–140). Die dbv-Tagung im September 2007 war von der »Vorwegvermutung« her geplant gewesen: »Das Gewissen bilden und benutzen führt zum richtigen Verhalten« (114). Von Bonhoeffer ist zu lernen, dass das so einfach nicht geht. »Nur-Gewissensethik« (119) kann in Konfliktsituationen eine »Ethik des Nichts-Tuns« werden, »Bonhoeffers Verantwortungsethik« dagegen ist eine »Ethik des Tuns« (131), des Handelns in selbstloser Eigeninitiative (121; DBW 6, 256). In diesem Sinne hatte Karl Martin im Mai 2001 gepredigt (319). Der Untertitel der »Gewissen«-Ausarbeitung lautet »Bonhoeffers Versuch, eine Ethik der Wegbereitung zum Tun zu entwerfen« – eine aparte Richtungsumkehrung von Bonhoeffers Rede vom Tun als »Wegbereitung« (für das erhoffte Kommen des »Wortes Gottes«, DBW 6, 153).

Karl Martin hat die Texte – bis auf den zu »Gewissen« waren sie alle in der dbv-Zeitschrift »Verantwortung« schon abgedruckt – nach Themen angeordnet und in jedes Thema, zum Beispiel »Friedensethik«, »Pazifismus«, »Kirchenfinanzierung«, auf zwei Druckseiten eingeführt. Zum Thema »Dietrich Bonhoeffer für die Gegenwart« kommen Weggefährten in den 25 Jahren des dbv mit erbetenen Kurzbeiträgen zu Wort (47–62). Axel Noack: »DB zu zitieren, ist eine beliebte Übung … Ist da für jeden etwas dabei?« (49; Resolution Nr. 40 vom Mai 2002, 481, kritisiert das Zitieren des US-Präsidenten Bush vor dem Deutschen Bundestag von Bonhoeffers Satz »Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will« [DBW 8, 30] – ob der scharfsinnige Axel Denecke herauspräparieren könnte, wie Bush an aus der »Achse des Bösen« entstehendes Gutes glaubt?) Martin Stöhr: Geis-tes-gegenwärtig leben – nicht Jenseits-heilssüchtig (54; DBW 8, 500). Jürgen Wehnert: »Einen Gott, den ›es gibt‹« im Verfügungsbereich eines Kultpersonals, den »gibt es nicht« (61; DBW 2, 112).

Ganz an den Anfang gestellt hat Karl Martin den Vortrag, den Ferdinand Schlingensiepen zum 70. Geburtstag von Eberhard Bethge am 28. August 1979 in Kaiserswerth gehalten hat: »Der Tod des Lehrers« (25–39, 1980 gedruckt in Internationales Bonhoeffer Forum 3, 223–243). Schlingensiepen meditiert die Schilderung einer Lehrer-Schüler-Beziehung in einem japanischen Roman-Klassiker. Der Schüler staunt über die Selbsterfahrung, dass der Sensei, kraft des Geistes, in ihm lebt [1Timotheus 1,2, in DBW 15, 304 von Bonhoeffer behandelt: Geburt des glaubenden Timotheus durch den Geist, den Paulus empfing]. Das Insichselbst-Wissen der Lehre des Lehrers ist eine Gefahr für den Schüler. Den »bodenlosen Abgrund« der Selbstbezüglichkeit zu offenbaren kostet den Tod (27). Der Weitergebende darf nicht die Gabe, etwa in deuMissions-Station, als etwas Statisches sichern wollen (30). Schlingensiepen zitiert aus einem chassidischen Text ein Wort des Lehrers zum Schüler: »Ob die Quelle gesegnet ist oder nicht, hängt von dem ab, der daraus schöpft« (34). Nicht anklammern an solches, was sterben muss – wir dürfen von der Auferstehungshoffnung her leben (39; DBW 8, 369).

* Ilse Tödt, Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg und Hannover


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