Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Im Herz der Zwiebel

Wie in Kolumbien Kindersoldaten resozialisiert werden

Von Knut Henkel *

Der 12. Februar, der so genannte Red Hand Day, ist der globale Aktionstag gegen den Missbrauch von Kindern als Soldaten. Weltweit werden in bewaffneten Konflikten rund 250 000 Kinder zum Kämpfen gezwungen. Kolumbien zählte im vergangenen Jahr zu den 15 Ländern, in denen Kinder für militärische Zwecke missbraucht wurden.

Gina Moreno Soto ist Schauspielerin, Mutter und Sozialarbeiterin in Personalunion. Das Leben der 24-Jährigen ist jedoch alles andere als normal verlaufen. Fast vier Jahre hat sie als Kindersoldatin im kolumbianischen Dschungel für die Guerilla gekämpft. Nun hilft sie anderen, erst gar nicht in den Kreislauf der Gewalt zu rutschen.

Die beiden einfachen Häuser in der am Hang liegenden Straße kennt Gina Moreno Soto nur zu gut. Sie sind so etwas wie ein zweites Zuhause, denn hier in Usme, einem Vorort von Bogotá, hat die junge Frau ihren Absprung vollzogen. »Es ist nicht leicht, dem Kreislauf der Gewalt zu entfliehen, aber hier habe ich es geschafft«, sagt sie mit einem zufriedenen Grinsen.

Heute ist eine ganze Gruppe von Neuankömmlingen hier. Jungen und Mädchen, die wie Gina von Armee oder Polizei gefangen genommen wurden, weil sie für die Guerilla oder die Paramilitärs als Kindersoldaten im Einsatz waren. »Um die Hundert sind es allein in Bogotá, denen wir bei der Reintegration in ein ziviles Leben helfen«, erklärt Stella Duque. Sie ist die Direktorin von Taller de Vida, einer therapeutischen Jugendeinrichtung, die versucht, Minderjährigen den Neustart in ein ziviles Leben zu ebnen.

Bei Gina hat es geklappt. Die relativ kleine Frau mit den halblangen pechschwarzen Haaren hat vor zwölf Jahren ihre Familie verlassen und sich der größeren der beiden kolumbianischen Guerillaorganisationen angeschlossen, der FARC, den Bewaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens. »Ich bin in einem Dorf im Süden Kolumbiens groß geworden und Verbände der Guerilla waren dort permanent präsent. Das war Alltag«, so die junge Frau, die derzeit eine Ausbildung als Krankenschwester absolviert. Die Erinnerungen an ihre Kindheit sind wenig positiv: »Wir Kinder mussten viel arbeiten, wurden zu Hause geschlagen und als wir eines Tages, ich war elf Jahre alt, gegen Mittag vom Feld kamen, war das ganze Haus voll mit Guerilleros der FARC. Die schlugen meiner Tante und mir vor, sie zu begleiten«, erinnert sich Gina Moreno. Die beiden Mädchen - die Tante war gerade ein Jahr älter - willigten ein.

Flucht aus den Zwängen des Elternhauses

»Wir hielten es zu Hause nicht mehr aus, weil wir schuften mussten wie die Maulesel und obendrein immer wieder geschlagen wurden«, erklärt Gina und legt die Stirn missbilligend in Falten. Die Erinnerung fällt ihr schwer und den Ausschlag, die Guerilleros zu begleiten, gab deren Versprechen, sie gut zu behandeln. Gegenüber den Comandantes, den leitenden Offizieren der linken Rebellen, mussten sie nur angeben, mindestens 15 Jahre alt zu sein. Gesagt, getan, und die beiden Mädchen waren nicht die einzigen, die an diesem Tag von der Kolonne der FARC rekrutiert wurden. Zwei Jungen, die aus den gleichen Gründen wie die beiden Mädchen ihrer Familie den Rücken gekehrt hatten, gehören fortan auch zu dem mobilen Trupp.

»Heute weiß ich, dass ich letztlich um meine Kindheit betrogen wurde. Das habe ich aber erst im Laufe der Jahre entdeckt und dabei hat mir die psychologische Arbeit mit Stella, aber auch unser Hip-Hop- und Theaterprojekt sehr geholfen«, erklärt die Mutter eines fünfjährigen Sohnes und streicht sich eine bläulich schimmernde schwarze Haarsträhne aus der Stirn.

Rund vier Jahre hat sie mit dem Kampfverband der FARC verbracht und dabei an Gefechten mit Armee und Paramilitärs teilgenommen, aber auch an Angriffen auf Polizeiposten. Dann wurde sie von der Polizei beim Kauf von Lebensmitteln geschnappt und nach Bogotá, in die Landeshauptstadt geschafft. Ein Glück, denn im Süden Kolumbiens hätte Gina kaum eine Chance auf den Absprung aus dem Kreislauf der Gewalt gehabt.

»Dort auf dem Land ist die Guerilla der Staat. Es wird gemacht, was sie sagt. Das sind die Regeln und ich wäre wohl kaum losgekommen« mutmaßt die junge Frau. Nachdem sie in Bogotá langsam Fuß gefasst hatte, hat sie sich entschieden, ihre jüngere Schwester nachzuholen. Sie sollte nicht die gleichen Erfahrungen machen und nun wohnen die beiden zusammen in einer Wohnung in Usme, einem Vorort von Bogotá.

Nur ein paar Ecken entfernt befindet sich das Zentrum vom »Taller de Vida«, wo Gina einen erheblichen Teil der letzten Jahre verbracht hat. »Da habe ich mich neu gefunden, ich habe gelernt, mich auszudrücken, mich selbst entdeckt und langsam begriffen, was ich da gemacht habe«, sagt sie mit leiser, fester Stimme.

Gina ist heute ein Beispiel für andere

»Werkstatt des Lebens« ist der Name der Organisation und für Gina passt er perfekt. »Heute bin ich ein Beispiel für andere, weil ich den Absprung geschafft habe und hier nebenbei mitarbeite.« Darauf ist die alleinerziehende Mutter stolz und für jedes Kind, das sie für Theater, Rap oder Graffiti begeistern kann, sinkt das Risiko der Rekrutierung. »Fehlende Perspektiven und kaum Angebote für die Jugend sind für die Attraktivität der Guerilla zwei wesentliche Gründe«, erklärt Stella Duque weiter. Die Psychologin hat die Organisation aufgebaut und versucht Kindern und Jugendlichen vor der Rekrutierung durch Paramilitärs und Guerilla zu bewahren oder ihnen Brücken für die Rückkehr in ein ziviles Leben zu bauen.

Inclusión, Eingliederung, heißt das in Kolumbien und ein wichtiges Medium dabei ist das Theater. »Die Bühne ist ein idealer Ort, um spielerisch zu verarbeiten, was man erlebt hat«, erklärt Stella Duque. All das findet sich auch in den Stücken wieder, die die Jugendlichen gemeinsam mit den Psychologen entwickeln. Ein bewährtes Konzept.

Gina hat im »Herz der Zwiebel« mitgewirkt. Ein Stück über die Schutzschichten rund um die Seele, die helfen sollen, nicht verletzt zu werden. Die kennt auch Gina ziemlich gut: »So eine undurchdringliche Fassade haben sich viele Kinder aus den Armenvierteln rund um Bogotá zugelegt. Sich eine Blöße zu geben, ist verpönt«, erklärt Gina. Sie hat lange gebraucht, um mal locker zu lassen, auch Tränen zuzulassen. Das hat sie in den Dschungelcamps der FARC, aber auch schon zu Hause verlernt. Über den Job als Sozialarbeiterin bei der Werkstatt des Lebens und die Ausbildung zur Krankenschwester hat sie ganz andere Facetten an sich entdeckt und arbeitet derzeit mit einigen Freunden an einem Theaterstück über die eigenen Erfahrungen.

Eine Brücke ins zivile Leben

Verde Olivo, Olivgrün, soll es heißen und vielleicht werden sie es irgendwann für die Neuankömmlinge in Usme aufführen. »Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ist der erste Schritt in die Zukunft«, erklärt Stella Duque. Gina hat ihn hinter sich - die Neuankömmlinge hingegen noch vor sich. Sie lässt ihre dunklen Augen durch den großen Gemeinsamschaftraum wandern. In einer Ecke stehen Boxen, Mischpult und Turntables. Nach dem ersten Kennenlernen steht Rap auf dem Programm und Gina wird es sein, die die Musik für den Neuanfang auswählt.

* Aus: neues deutschland, 11. Februar 2012


Zurück zur Kindersoldaten-Seite

Zur Kolumbien-Seite

Zurück zur Homepage