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Der Atomkonsens in den USA bröckelt

Kritik an Neubauplänen der Obama-Regierung

Von Max Böhnel, New York *

Angesichts der drohenden Atomkatastrophe in Japan hat Präsident Barack Obama gestern Sicherheitsnachbesserungen an AKW in den USA angekündigt. Zugleich bekräftigte Energieminister Steven Chu, dass die Regierung aber nicht auf den geplanten Ausbau der Atomkraft verzichten werde. Die Kritik an dieser Energiepolitik im Lande wächst.

Der atomare Konsens, auf den sich die USA-Regierung bisher verlassen konnte, gerät im Land der 104 Atomkraftwerke – die meisten weltweit – ins Bröckeln. Zwar sind Menschenketten und Großdemonstrationen bislang ausgeblieben. Aber die Live-Berichterstattung der Fernsehsender aus Japan rund um die Uhr hinterlässt ihre Spuren. Das »Wall Street Journal« berichtete beispielsweise, dass der Ansturm auf jodhaltige Mittel so groß sei, dass einige Firmen fieberhaft nachproduzieren lassen. In den Massenmedien wurde zu Wochenbeginn erstmals erörtert, ob eine über den Pazifik ostwärts getriebene Atomwolke die Bewohner der USA-Westküste gefährden könnte.

Der erste Politiker, der eine energiepolitische Wende forderte, war der Demokrat Ed Markey. Der Abgeordnete aus Massachusetts, der den Repräsentantenhaus-Ausschuss für Atomenergiesicherheit leitet, kritisierte die »Anfälligkeit von Atomkraftwerken wie die potenziellen Konsequenzen bei Strahlenfreisetzung durch Erdbeben«. Der konservative Senator Joe Lieberman aus Connecticut, der als Unabhängiger in Washington ein führender Energiepolitiker ist, forderte den »Tritt auf die Bremse, bis wir verstanden haben, was da in Japan passiert ist«. Aus dem Weißen Haus, das sich lange bedeckt hielt, verlautbarte, dass sich die USA »auf ein vielfältiges Sortiment an Energiequellen verlassen« müssten. Das bestehe, so ein Obama-Sprecher, aus »Wind und Solar, Naturgas, sauberer Kohle und Atomkraft«.

In zwei Dritteln der 50 Bundesstaaten sind 69 Druckwasserreaktoren und 35 Siedewasserreaktoren in Betrieb, viele davon in dicht besiedelten Gebieten. Sie decken ein Fünftel des nationalen Energiebedarfs, also deutlich weniger als etwa in Frankreich. Als »Vorteile« der Atomenergie galten bisher die Attribute »grün, heimisch und sicher«. Rund 62 Prozent der Bevölkerung befürworteten generell die Nutzung von Atomenergie. Allerdings ist nur ein gutes Drittel bereit, »in der Nähe« eines Reaktors zu leben.

Die Atomlobby, die in den USA den Namen »Nuclear Energy Institute« trägt, ist indessen kleinlaut geworden und fürchtet insgeheim, dass die von Obama bereits im Wahlkampf versprochene »nukleare Renaissance« mit Blick auf die Ereignisse in Japan nun in Frage gestellt wird. Denn der USA-Präsident hatte mit einem überparteilichen Konsens zwischen Demokraten, Republikanern und »grüner« Mainstreamlobby vor einem Jahr den Neubau von Atomkraftwerken und die Freistellung von über acht Milliarden Dollar aus Bundesmitteln für die Errichtung des ersten Meilers seit 30 Jahren angekündigt.

Im Haushalt für das Jahr 2012 wird eine Summe von 36 Milliarden für neue AKW genannt. Gleichzeitig steht die Erneuerung für die Lizenzen laufender Kraftwerke an. Ein Drittel davon ist zwischen 30 und 40 Jahre alt und rostet erwiesenermaßen. Zwei dieser Dinosaurier stehen in unmittelbarer Nähe der kalifornischen San-Andres-Spalte, wo im Jahr 1906 ein Erdbeben der Stärke 8,3 San Francisco zerstörte. Die beiden Kraftwerke können nach Betreiberangaben Erdbeben der Stärke 7,5 standhalten – mehr aber nicht.

* Aus: Neues Deutschland, 17. März 2011


Russland analysiert – und plant weiter

Bau eines AKW in Belarus vereinbart

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Ungeachtet der Atomkatastrophe in Japan hat Russland den Bau des ersten Kernkraftwerks in Belarus mit der Führung in Minsk besiegelt. »Die Atomtechnik selbst wird sich natürlich weiter entwickeln«, sagte Regierungschef Wladimir Putin nach Angaben der Agentur Interfax in der Nacht zum Mittwoch in Minsk.

Klare Auflagen erteilte Premier Wladimir Putin dem Chef von Rosatom Sergej Kirijenko angesichts der dramatischen Entwicklungen in Japan: Ungeachtet der mehrfach verschärften Sicherheitsstandards in russischen AKW soll Rosatom – die föderale Agentur für Atomenergie – binnen eines Monats eine detaillierte Analyse zum Zustand der russischen Atomindustrie vorlegen und die Perspektiven ihrer Entwicklung bewerten. Denn die Probleme in Japan haben ungute Erinnerungen an die Katastrophe von Tschernobyl geweckt, deren Jahrestag sich am 26. April 1986 zum 25. Mal jährt, und im Westen die Diskussion zur Sicherheit russischer Kraftwerke neu angefacht. Sehr zur Unzeit, denn sie stört Moskaus Pläne

Derzeit sind in Russland 31 Kernkraftwerke am Netz, deren Reaktoren bringen es auf eine Gesamtkapazität von 24,2 Gigawatt und sind damit zu 16 Prozent am nationalen Energiemix beteiligt. 2030 sollen es mindestens 25 Prozent sein. Dazu werden 26 neue Anlagen gebaut.

Abstriche, sagt Putin, werde es nicht geben. Russische Reaktoren gehörten inzwischen zu den sichersten weltweit und seien bisher die einzigen mit einem Schutzsystem, das bei tektonischen Verwerfungen verhindert, dass der Boden des Reaktors schmilzt.

Zwar gibt es in seismisch aktiven Regionen Russlands keine Kernkraftwerke und der Bau neuer Anlagen dort steht nicht zur Diskussion. Doch der Erdbebenschutz ist ein Pfund, mit dem Moskau vor allem auf dem internationalen Markt wuchern will. Mit den neuen Schutzsystemen, versicherte Außenminister Sergej Lawrow seinen G8-Kollegen auf einer Tagung am Dienstag, sei auch das iranische Kernkraftwerk bei Buschehr ausgestattet worden. Russland stellte den von Siemens begonnenen Bau im letzten Jahr fertig, im September begann der Probebetrieb mit aus Russland geliefertem Kernbrennstoff. Zwar hatte Moskau dem Wunsch Teherans entsprochen und ein Teil der von Siemens bereits gelieferten Ausrüstungen übernommen. Diese – so jedenfalls ein russischer Ingenieur, der am Projekt beteiligt war – seien wegen ihres Alters jedoch auf Herz und Nieren geprüft worden. Die Anlage, sagt auch Außenminister Lawrow, entspreche allen internationalen Standards, die Internationale Atomenergiebehörde IAEO habe für den Probelauf erst grünes Licht erteilt, als deren Inspektoren sich selbst davon überzeugt hatten.

Auch beim Bau eines Atomkraftwerks in Belarus, über den sich Putin am Dienstag mit Staatschef Alexander Lukaschenko einigte, wird der Erdbebenschutz um ein Mehrfaches höher sein als der in Japans Kraftwerken, von denen die meisten vor 40 Jahren in den USA projektiert wurden. Und das, obwohl in Belarus die seismische Aktivität gegen Null tendiert.

Wegen des Erdbebenschutzes will auch die Türkei ihr erstes AKW vor allem mit russischer Hilfe bauen: in der Mittelmeerprovinz Mersin, vor deren Küsten der Graben verläuft, der die afrikanische von der anatolischen Platte trennt. Das Gebiet ist daher seismisch sehr aktiv. Das Bauabkommen mit einem Volumen von rund 20 Milliarden US-Dollar sieht vier Reaktoren mit einer Gesamtleistung von einem Gigawatt vor und soll während des Moskau-Besuchs von Premier Recep Tayyip Erdoan, der gestern begann, unterzeichnet werden.

** Aus: Neues Deutschland, 17. März 2011


China prüft nun auch ***

Als Konsequenz aus der Atomkatastrophe in Japan unterzieht China alle seine Nuklearanlagen einer Sicherheitsprüfung. Wie der Staatsrat am Mittwoch nach einem Krisentreffen erklärte, wurden zudem die Genehmigungen für den Bau neuer Atomkraftwerke in dem Land vorübergehend auf Eis gelegt. Die Maßnahmen sähen eine »sofortige und umfassende Kontrolle der nuklearen Sicherheitsstrukturen«, die »temporäre Aussetzung von Genehmigungen für neue Projekte« sowie eine Untersuchung aller im Bau befindlichen Anlagen vor, hieß es in der Erklärung des höchsten Regierungsorgans. »Die Sicherheit hat jetzt oberste Priorität.« China betreibt derzeit 13 Atomreaktoren. Für den Bau von 34 weiteren Anlagen gab die Regierung bereits grünes Licht, 26 davon werden schon gebaut. Am Wochenende hatte Peking erklärt, trotz der schweren Unfälle in Fukushima an der Atomkraft festzuhalten, um den Energiebedarf der Bevölkerung zu decken.

*** Aus: Neues Deutschland, 17. März 2011


Ausstieg vor dem Einstieg

Nach der Atomkatastrophe in Japan legt Venezuela das eigene Programm auf Eis

Von André Scheer ****


Venezuelas Präsident Hugo Chávez hat angekündigt, das Atomprogramm des südamerikanischen Landes bis auf weiteres auf Eis zu legen. »Es gibt nicht den geringsten Zweifel, daß das, was in Japan mit den dortigen Reaktoren passiert, weltweit die Pläne zur Entwicklung der Kernenergie umwirft«, erklärte der Staatschef am Dienstag abend (Ortszeit) während der Unterzeichnung eines Abkommens zwischen dem chinesischen Staatsunternehmen CITIC und der venezolanischen Industrie- und Handelsbank über die Gründung eines gemeinsamen Unternehmens zur Entwicklung von Projekten im Erdöl- und Bergbaubereich. Er habe Energieminister Rafael Ramírez beauftragt, die entsprechenden Vorarbeiten, die sich noch »in einem sehr frühen Stadium« befunden hätten, bis auf weiteres einzustellen.

Venezuela hatte im vergangenen Oktober ein Abkommen mit Rußland über den Bau eines Forschungsreaktors unterzeichnet. Bereits damals hatten Kritiker, darunter auch Unterstützer der Regierung, darauf hingewiesen, daß das Land eine solche Technologie nicht benötige, weil es seinen Bedarf aus erneuerbaren Quellen wie Wasser, Wind und Sonne decken könne. Mehr als zwei Drittel der Stromproduktion Venezuelas stammt bereits jetzt aus Wasserkraft. Allerdings hatte im vergangenen Jahr eine Dürreperiode die Stauseen des Landes austrocknen lassen und dadurch zu Engpässen bei der Energieversorgung geführt. Auch deshalb traf die Entscheidung des Präsidenten, die Atomkraft zu entwickeln, in Venezuela zunächst auf breite Unterstützung. Noch am Dienstag, wenige Stunden vor der Ankündigung des Präsidenten, bekräftigte der Basisaktivist Yoel Capriles aus Caracas gegenüber junge Welt noch einmal, daß er persönlich der festen Überzeugung sei, »daß wir das Projekt unser eigenes Kraftwerks und die Arbeit mit der Kernkraft zu friedlichen Zwecken fortsetzen sollten«.

Die rechte Opposition des süd­amerikanischen Landes, die sich im vergangenen Jahr noch dafür ausgesprochen hatte, daß Venezuela die Kernenergie »ernsthaft und verantwortungsvoll aufgreifen« solle, reagierte zunächst offiziell nicht auf die Ankündigung. In dem rechten Internetportal noticias24 warfen Kommentatoren der Regierung jedoch vor, die Katastrophe in Japan lediglich als Vorwand benutzt zu haben, um ein Projekt aufzugeben, das sie gar nicht hätte umsetzen können. »Die Ereignisse in Japan kommen Chávez wie gerufen«, behauptet beispielsweise ein Autor und fragt: »Wenn das nicht passiert wäre, was hätte er denn gesagt, denn der Reaktor wäre doch sowieso nie gebaut worden.«

**** Aus: junge Welt, 17. März 2011


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