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Niemand sucht Atom-Hintertürchen

Bundesregierung unterstreicht Ausstieg spätestens 2022 / Grüne und SPD uneinig

Von Velten Schäfer *

Die Bundesregierung bleibt dabei: Der Ausstieg ist endgültig – und schneller als bei Rot-Grün. Opposition und Verbände sind aber weiter skeptisch.

Angela Merkel will keine Zweifel aufkommen lassen. Alle Vorbehalte gegenüber der Endgültigkeit und Unumkehrbarkeit des schwarz-gelben Atomausstiegs versuchte die Bundeskanzlerin am Nachmittag in Berlin auszuräumen: Es gebe in dem Vorhaben, bis spätestens Ende 2022 alle deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet zu haben, »kein Hintertürchen«, sagte die CDU-Vorsitzende.

Auch die so genannte »kalte Reserve« sei nicht als heimlicher Ausweg aus dem Ausstieg zu verstehen, erklärte die Kanzlerin: Nur in den nächsten beiden Wintern könnten unter Umständen bereits stillgelegte AKW wieder ans Netz gehen, falls »im südlichen Bereich« der Republik die Netzstabilität in Gefahr sei und die Bundesnetzagentur das ausdrücklich anordne. Merkel und Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) betonten, dass zur Schließung eines solchen etwaigen Versorgungsloches zuerst fossile Energieressourcen angezapft werden sollten. FDP-Chef und Wirtschaftsminister Philipp Rösler ließ allerdings durchblicken, dass die vorhandenen nicht-nuklearen Reserven in einem solchen Fall nicht ausreichen würden. Auf die Frage, ob das ein Beitrag zur Besänftigung des klagewilligen Atomkonzerns RWE sein solle, folgte ein Dementi von allen Seiten.

Nach Darstellung der Bundesregierung geht der schwarz-gelbe Atomausstieg schneller als der einstmals von SPD und Grünen beschlossene. Zwar könnten auch im neuen Modell Restlaufzeiten auf andere Kraftwerke übertragen werden, aber definitiv nicht über das Jahr 2022 hinaus, so Röttgen auf Nachfrage. Merkel sagte, dass der schwarz-gelbe Ausstiegsplan daher »schneller« vonstatten gehe als der von der Bundesregierung im vergangenen Herbst gekippte Plan.

SPD-Chef Sigmar Gabriel signalisierte derweil Gesprächsbereitschaft. Gabriel forderte die Kanzlerin zugleich zu klarer Führung auf. Die schwarz-gelbe Regierung delegiere dies bisher unter anderem an die Bundesnetzagentur und überlasse wesentliche Fragen dem freien Spiel des Marktes. Die SPD sei gleichwohl bereit zu Verhandlungen und Gesprächen. Eine ganze Reihe von Einzelfragen müsse aber in den nächsten Wochen und Monaten noch geklärt werden. Möglicherweise könne man schneller aussteigen als in den jetzt angestrebten rund zehn Jahren.

Grünen-Chef Cem Özdemir hatte die Zustimmung seiner Partei, als er sagte, das »grüne Siegel« bekomme man nur, »wenn auch der Inhalt stimmt«. Ob sich die Grünen am Ausstiegsbeschluss der Regierung beteiligen, soll die Parteibasis auf einem Sonderparteitag am 25. Juni entscheiden. Der Ausstieg dürfe zudem nicht an den Ländern vorbei beschlossen werden, spielte Özdemir auf Einlassungen Merkels zum beschleunigten Ausbau der Stromnetze an. Die Kanzlerin sagte, diese Gesetze seien »nicht zustimmungspflichtig«; gleichwohl werde sie einen Konsens mit den Ländern anstreben.

Die LINKE-Energieexpertin Eva Bulling-Schröter sagte dagegen, es gebe keinen Ausstiegsbeschluss, »sondern ein gefährliches Spiel mit der Sicherheit der Bevölkerung«. Teils scharfe Kritik kam auch von Verbänden und Bewegungen.

* Aus: Neues Deutschland, 31. Mai 2011


Zwischen Abschalten und Stand-by-Betrieb

Opposition und Verbände sind unzufrieden mit Atombeschluss

Von Reimar Paul **


Der ganz große Wurf war es, wie nach den Voten von Ethik- und Reaktorsicherheitskommission zu erwarten, nicht. Spitzenpolitiker der Koalition einigten sich in der Nacht zum Montag darauf, dass Deutschland bis 2021 – vielleicht auch erst bis 2022 – aus der Atomenergie aussteigt. Während die SPD Zustimmung signalisierte, setzte es aus der Anti-AKW-Bewegung heftige Kritik.

Ein konkretes Datum ohne Wenn und Aber zu nennen, dazu sieht sich die Regierung offenbar nicht in der Lage. Sie legte in der Nacht zum Montag nur fest, dass die letzten AKW bis 2021 vom Netz gehen sollen. Drei Kraftwerke könnten aber bis 2022 weiter Strom und Atommüll produzieren, falls es Probleme bei der Stromversorgung gibt. Einen konkreten Stufenplan, wann welcher Meiler abgeschaltet wird, gibt es nicht. Dies sollen die Energiekonzerne selbst entscheiden. Offenbar dürfen sie auch die sogenannten Reststrommengen weiter zwischen den AKW hin- und herschieben.

Ebenso zweideutig ist die Vereinbarung über die sieben im Rahmen des Moratoriums abgeschalteten Meiler. Sie bleiben im Prinzip ausgeschaltet, doch ein Reaktor wird bis 2013 im Stand-by-Modus gehalten. Zeichnen sich Engpässe ab oder werden sie herbeigeredet, könnte er wieder hochfahren. Möglicherweise geht es dabei um den Pannenreaktor Biblis B und damit um ein Zuckerl für den Betreiber RWE.

Die Koalition einigte sich zudem auf eine Beibehaltung der Brennelementesteuer, ein Gesetz zum Ausbau der Stromnetze sowie eine weitere Kürzung der Solarförderung. Zur Endlagersuche gab es keine Beschlüsse.

SPD und Grüne ließen zunächst offen, ob sie die Pläne unterstützen. Eine Nachrichtenagentur meldete am Mittag aber aus »Parteikreisen«, dass die SPD zustimmen könne, weil Union und FDP zum rot-grünen Ausstiegsbeschluss zurückkehrten.

Grünen-Chefin Claudia Roth sagte dagegen, es seien »noch ziemlich viele Fragen sehr, sehr offen«. Erst müsse alles auf den Tisch, was die Regierung wolle.

Die Linkspartei ließ indessen kein gutes Haar am Kompromiss. »Das ist kein Ausstiegsbeschluss, sondern ein gefährliches Spiel mit der Sicherheit der Bevölkerung«, sagte die umweltpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Eva Bulling-Schröter. Ein Ausstieg bis 2014 sei machbar. »Statt über den Stand-by-Betrieb von AKW Hintertürchen für deren Weiterbetrieb offen zu halten, wollen wir den Atomausstieg im Grundgesetz verankern.«

Auch bei den Atomkraftgegnern außerhalb der Parteien fiel der Beschluss völlig durch. Es sei verantwortungslos, die Bevölkerung weitere 3650 Tage der Gefahr eines Super-GAUs auszusetzen, erklärte etwa die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW. Sie kritisierte gleichzeitig den Beschluss zur drastischen Kürzung der Solarförderung als »Anschlag auf den Volkswagen der Energiewende«. Das Motiv sei klar: »Die Fotovoltaik ist die Energiequelle der Bürgerinnen und Bürger und den großen Energiekonzernen deswegen seit jeher ein Dorn im Auge, weil ihnen dadurch das Geschäft entgleitet«, analysiert IPPNW-Atomexperte Henrik Paulitz.

Jochen Stay von der Anti-Atom-Organisation »Ausgestrahlt« sagte, mit diesen Beschlüssen werde die Regierung den gesellschaftlichen Konflikt um die Atomkraft nicht befrieden. Er forderte die Oppositionsparteien auf, sich dem Regierungskurs klar entgegenzustellen. »Es dient nicht der eigenen Glaubwürdigkeit, wenn man sich an den Anti-AKW-Protesten der letzten Jahre beteiligt und dann einer Atompolitik zustimmt, die all das mit Füßen tritt, wofür Hunderttausende immer wieder auf die Straße gegangen sind.«

Aus Sicht der Initiative »X-tausendmal quer« sind neuerliche Blockaden jetzt die adäquate Antwort. Ab Pfingsten würden Tausende Menschen Atomkraftwerke, die nicht abgeschaltet werden, blockieren.

Die Kampagne »Block Brokdorf« bekräftigte ihre Absicht, ab dem 11. Juni die Zufahrtstraßen zum AKW Brokdorf zu sperren.

** Aus: Neues Deutschland, 31. Mai 2011


Gorlebener Gretchenfrage

Von Velten Schäfer ***

Niemand hat erstens die Absicht, nach einer Hintertür zu suchen, zweitens geht jetzt alles schneller als bei Rot-Grün und drittens hält auch noch die handwerkliche Seriösität Einzug in der Atompolitik: Die Bundeskanzlerin hat nun die Karten aufgedeckt, mit denen sie in Zukunft stechen und die Grünen von ihrem Umfrageross herunterholen will.

Ob das wirklich gelingt, hängt nicht zuletzt von der Antwort auf eine vierte Frage ab: Ob nun, wie ebenfalls angekündigt, auch in der Endlagerfrage tatsächlich mit Sachpolitik begonnen wird. Denn das in Gorleben geplante Atomklo im Salzstock ist nicht zufällig der Kristallisationspunkt der Anti-AKW-Bewegung. Jedem, der es wissen wollte, war schon lange klar, dass seinerzeit die Motive der Standortwahl alles andere als sachorientiert gewesen sind. Zu Recht gilt das »Erkundungsbergwerk« deswegen als Symbol des »Atomstaats«, jener undurchsichtigen und mächtigen Interessenverflechtung, die es offenbar überall dort gibt, wo aus Kernspaltung Energie gewonnen wird. Deshalb ist Gorleben die »Gretchenfrage« des Ausstiegs.

Erst wenn auch an anderen Standorten und endlich in geeigneteren Gesteinsformationen »erkundet« wird, kann es etwas werden mit der »Befriedung« des Konflikts, den Merkel jetzt so dringend will. Auf die geologischen Initiativen der nächsten Monate darf man insofern besonders gespannt sein.

*** Aus: Neues Deutschland, 31. Mai 2011


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