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Union und FDP einigten sich auf Fahrplan für Atomausstieg

Letzte Meiler sollen 2022 vom Netz / Röttgen: Keine Revisionsklausel - Brennstoffsteuer bleibt *

Der Fahrplan für den Atomausstieg steht: Nach mehr als sieben Stunden Beratung einigten sich die Spitzen von CDU, CSU und FDP in der Nacht zum Montag (30. Mai), die letzten deutschen Meiler spätestens Ende 2022 vom Netz zu nehmen. Kaum war der Plan bekannt, kritisierten ihn Atomkraftgegener scharf und kündigten neue Protestaktionen für Pfingsten an.

Der Großteil der Meiler soll nach dem Willen der Bundesregierung schon bis 2021 vom Netz. Falls es Probleme bei der Energiewende gibt, sollen die letzten drei Meiler jedoch erst 2022 abgeschaltet werden. Diese Anlagen werden als »Sicherheitspuffer« angesehen. Das vereinbarten die Spitzen von Union und FDP in der Nacht zum Montag im Kanzleramt.

2018 soll überprüpft werden, ob bereits bis 2021 ein kompletter Ausstieg möglich ist - oder ob man den Puffer bis 2022 braucht. Im Rahmen des jetzt beschlossenen Ausstiegs werden die sieben ältesten Atommeiler und das AKW Krümmel stillgelegt. Die sieben Alt-AKW waren Mitte März nach der Katastrophe von Fukushima aus Sicherheitsgründen mit dem Atom-Moratorium abgeschaltet worden.

Eines dieser Kraftwerke soll allerdings bis 2013 in einer Art »Stand By«-Funktion gehalten werden, um bei Stromengpässen reagieren zu können. Welcher Meiler das ist, entscheidet die Bundesnetzagentur. Sie hatte errechnet, dass gerade im Süden Deutschlands im Winter bei zu wenig Solar- und Importstrom bis zu 2000 Megawatt fehlen könnten.

Der frühere Umweltminister und heutige SPD-Chef Sigmar Gabriel nannte diesen Plan fragwürdig. Er kenne kein Atomkraftwerk, dass man als Kaltreserve fahren könne. »Das sind Vorstellungen, die mit der technischen Wirklichkeit wenig zu tun haben«, sagte Gabriel nach einem Gespräch am Sonntagabend (29. Mai) mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU).

Röttgen betonte, dass es keine Revisionsklausel geben werde. Es gebe eine »Klarheit des Ergebnisses«, dieses sei auch »nicht revidierbar«. Teile der Koalition hatten eine solche Überprüfungsklausel ins Gespräch gebracht.

Nach Angaben von Röttgen orientierte sich die Koalition bei ihrer Entscheidung an dem Bericht der Ethikkommission, die einen Ausstieg binnen eines Jahrzehnts oder schneller vorgeschlagen hatte.

Atomkraftgegner kritisieren Koalitionsbeschlüsse scharf Die Atomkraftgegner haben die Koalitionsbeschlüsse zum Atomausstieg bis 2022 scharf kritisiert und neue Proteste für Pfingsten angekündigt. »Wer Reaktoren noch mehr als zehn Jahre weiterbetreiben will, von denen selbst die Reaktorsicherheitskommission sagt, sie seien nicht sicher, macht sich völlig unglaubwürdig«, erklärte der Sprecher der Organisation ausgestrahlt, Jochen Stay, am Montag in Hamburg. Damit übertreffe die Koalition sogar noch die Forderungen des Bundesverbandes der Energiewirtschaft.

Greenpeace reagiert bestürzt auf den Atomdeal zwischen den Koalitionsparteien von heute Nacht. Entgegen dem Versprechen von Bundeskanzlerin Merkel, aus der Atomkraft »so schnell wie möglich« auszusteigen, sollen die letzten deutschen Atomreaktoren frühestens im Jahre 2022 vom Netz gehen. Es bleibt unklar, ob ein Parlamentarischer Beauftragter für die Energiewende eingesetzt werden soll. Damit könnte den Atomkonzernen Tür und Tor geöffnet werden, den Atomausstieg noch weiter zu verzögern.

»2022 ist für Greenpeace absolut inakzeptabel«, sagt Tobias Münchmeyer, Energieexperte bei Greenpeace. »Ein Ausstieg bis 2022 ist nicht der 'schnellstmögliche' den sie versprochen hatte, sondern ein unverantwortlich langsamer Ausstieg.«

* Aus: Neues Deutschland, 30. Mai 2011

Schwarz-gelber Energieplan

Bis spätestens 2022 plant die schwarz-gebe Koalition den Atomausstieg. Eine Ansage mit Hintertüren. Die wichtigsten Ergebnisse, die im Kanzleramt besiegelt wurden, im Überblick.

Daten der Abschaltung
Die meisten Meiler sollen bis 2021 vom Netz, drei AKW sollen bei Bedarf bis 2022 Strom produzieren. Sie sollen eine Art Sicherheitspuffer bieten, falls es mit der Energiewende nicht schnell genug vorangeht. Die sieben ältesten Meiler und das AKW Krümmel werden stillgelegt – allerdings soll ein AKW als stille Reserve in einem »Stand By«-Modus gehalten werden.

Atommeiler im Stand by
Die Rede ist von Defiziten etwa von Solarstrom an trüben Wintertagen, wenn auch EU-Nachbarn ihren Strom selbst brauchen und nicht exportieren können. Laut Bundesnetzagentur könnten gerade im Süden dann bis zu 2000 Megawatt fehlen, das entspricht in etwa der Leistung von zwei AKW. Zwar sollen acht AKW stillgelegt werden, aber ein Kraftwerk soll deshalb bis 2013 als stille Reserve im »Stand by«-Modus vorgehalten werden. Zeichnen sich Engpässe ab, könnte der Meiler wieder Strom produzieren. Die Kosten dafür könnten bis zu 50 Millionen Euro pro Jahr betragen. Im Gespräch sind Philippsburg I oder Biblis B. Entscheiden soll die Netzagentur.

Reststrommengen bleiben übertragbar
Jeder Meiler bekommt eine bestimmte Menge Strom zugebilligt, die er noch produzieren darf, zugleich wird die Betriebszeit auf 32 Jahre begrenzt, bis dahin muss der zugestandene Strom produziert sein. Von dem Meiler Krümmel und dem wegen einer fehlerhaften Baugenehmigung 1988 nach kurzem Betrieb wieder vom Netz gegangenen AKW Mülheim-Kärlich dürfen Reststrommengen auf andere noch laufende Anlagen übertragen werden. Das führt dazu, dass fast alle neuen verbliebenen AKW bis etwa 2020 laufen und es dann bis 2021/2022 zu einer Ballung von Abschaltungen kommen dürfte. Sind nicht alle zugewiesenen Mengen bis zum Abschaltdatum genutzt, verfallen sie. Dagegen kann möglicherweise geklagt werden.

Zahlungen der Konzerne
Die Atomsteuer bleibt. Bisher sollten bis 2016 rund 2,3 Milliarden Euro pro Jahr aus der Kernbrennstoffsteuer in die Kassen des Bundes fließen. Bei einem Aus für bis zu acht AKW verringern sich die Einnahmen auf 1,3 Milliarden Euro pro Jahr.

Opposition
Die Regierung sucht einen breiten Konsens mit der Opposition. Die SPD deutet eine Zustimmung zum Regierungskompromiss an, die Grünen wollen bis zum 6. Juni abwarten. Die LINKE tritt für einen »deutlich schnelleren« Ausstieg ein.

Endlagerung
Hier gibt es Bewegung. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) plädiert überraschend für einen Neustart, alle geologischen Aspekte sollen noch einmal auf den Prüfstand. Die Erkundung Gorlebens soll fortgeführt werden. Vor allem im Norden und in Süddeutschland gibt es mögliche Salz-, Ton-, und Granitformationen.

Zusätzliche Kraftwerksleistungen
Die Regierung hält bis 2020 einen Zubau von weiteren zehn Gigawatt an Kraftwerksleistung für notwendig. Durch ein Planungsbeschleunigungsgesetz sollen rasch neue Gas- und Kohlekraftwerke errichtet werden können. Auch beim Netzausbau sollen Planungsverfahren beschleunigt werden. Ökoenergien, gerade Windkraft vor den Küsten, sollen durch Millarden-Investitionen schneller ausgebaut werden. Bis 2020 soll der Ökostromanteil von heute 17 auf 35 Prozent steigen. Für die Gebäudesanierung sollen rund 1,5 Milliarden Euro jährlich zur Verfügung stehen.

Industrieausgleich
Die Bundesregierung bietet umfassende Kompensationsregeln von bis zu 500 Millionen Euro, damit die energieintensive Industrie durch die Energiewende nicht über Gebühr belastet wird.




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